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2.1.4 Soziologie als Wissenschaft vom Handeln

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Nach dieser kurzen Skizze der radikalen Gegenposition zu den Themen Handeln und Kommunikation kommen wir wieder auf die soziologische Ausgangsposition zurück, die für Habermas wie für die meisten theoretischen Soziologen im Zusammenhang mit dem Begriff des Handelns leitend geworden ist. Es dürfte deutlich geworden sein, dass und warum Habermas sich ausführlich mit der Luhmann’schen Systemtheorie auseinandersetzen musste. Die Darstellung dieser Auseinandersetzung wäre geradezu eine alternative Möglichkeit für eine Darstellung der Habermas’schen Grundgedanken.

Auch für eine an Max Weber anschließende Soziologie kann aber die bisher gegebene Charakterisierung von Handeln noch nicht ausreichen. Es fehlen noch zwei Auszeichnungen, um von einer Wissenschaft vom Handeln sprechen zu können. Zum einen ist ihr Thema traditionell nicht das Handeln als solches, sondern eine spezielle Form von Handeln bzw. eine besondere Art von Handlungen. Soziales Handeln und soziale Handlungen unterscheiden sich – wieder nach Max Weber – von anderen Handlungen durch den sinnhaften Bezug auf das Verhalten anderer Menschen:

„,Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“9

Soweit wird allerdings nur ein Kriterium hinzugefügt, um soziales Handeln als eine besondere Klasse des Handelns auszuzeichnen.

Aber auch damit kommen wir mit der bis jetzt dargestellten Unterscheidung von Handeln und Verhalten noch lange nicht zu einer Wissenschaft, die wir als Soziologie bezeichnen können. Das hat natürlich damit zu tun, dass wir dann von einer Wissenschaft sprechen, obwohl wir bisher nur von dem Vorgang gesprochen haben, in dem wir Handlungen von Verhalten bzw. von Ereignissen in der Welt unterscheiden. Eine solche Wissenschaft muss offenbar davon ausgehen können, dass wir in der Lage sind, [<<45] fremden Sinn zu verstehen. Das muss aber natürlich nicht heißen, dass sich eine soziologische Wissenschaft damit begnügen müsste, solche Verstehensleistungen zu erbringen. Natürlich ist die Soziologie wie andere Wissenschaften auch mit dem Beobachten, dem Klassifizieren, dem Messen, dem Aufstellen von statistischen Korrelationen und Regressionen und auf dieser Grundlage mit der Ausarbeitung von Theorien beschäftigt.

Solche Theorien erklären uns die Welt dadurch, dass sich einzelne Ereignisse aus diesen Theorien ableiten und vorhersagen lassen. Sie folgen also dem allgemeinen Schema wissenschaftlichen Erklärens (dem sog. Hempel-Oppenheim-Schema). Ein Ereignis gilt als erklärt, wenn und indem wir es als Fall einer allgemeinen Regel aus dieser Regel ableiten können. Das kann im einfachsten Fall so funktionieren: (a) Alle Katzen jagen Mäuse, (b) Lucy ist eine Katze, woraus sich folgerichtig das Ereignis ableiten lässt: (c) Lucy jagt Mäuse, womit uns (c) als erklärt gilt; oder, noch einfacher formuliert: Lucy jagt Mäuse, weil sie eine Katze ist und für diese Tiere jene generelle Verhaltensweise gilt. Natürlich kann das auch wesentlich kompliziertere Formen annehmen. Das Ereignis, dass der Meteor M mit der Beschleunigung a1 zur Erde gestürzt ist, kann so erklärt werden: Weil (a) die Gravitationskraft nach Newton bestimmt wird durch

F = G × [(m1 × m2 ) ÷ r2 ] und (b) a1 = F ÷ m1

(zweites Newton’sches Axiom) und (c) die Erde die Masse m1 besitzt. Natürlich gilt das nur dann, wenn man die Gravitation durch die Masse des Meteors m1 vernachlässigt und außerdem vernachlässigt, dass das Newton’sche Gravitationsgesetz nur annähernd gilt.

Aber auch wenn es der Soziologie gelingt (oder gelänge), solche gesetzesförmigen (nomologischen) Erklärungen zu liefern, kommt (oder käme) sie doch nicht darum herum, zunächst ihren Gegenstand – das Handeln und davon ausgehend die spezielle Form des sozialen Handelns – zu bestimmen. Das aber bedeutet, Handeln von Verhalten als von physikalisch beschreibbaren Ereignissen in der Welt durch den subjektiv gemeinten Sinn zu unterscheiden und damit die Leistung des Fremdverstehens einzusetzen. Die Alternative bestünde nur darin, den Begriff der Handlung aufzugeben und Soziologie als Verhaltenswissenschaft zu betreiben, so dass Verhaltensweisen miteinander korreliert werden und auf diese Weise allgemeine Gesetze über das Verhalten aufgestellt werden, mit deren Hilfe sich einzelnes Verhalten erklären lässt. Das alles ist nicht prinzipiell unmöglich, aber es würde einen Paradigmenwechsel darstellen, in dem das aufgegeben wird, was Soziologie bisher bedeutet hat. Man könnte auch sagen, dass damit Soziologie zur empirischen Psychologie würde und deshalb ihren eigenen Gegenstand verlieren müsste. [<<46]

Es gehört zu den zentralen Gedankengängen von Jürgen Habermas, dass dies keine Option darstellt. Der Begriff des Handelns lässt sich nicht von seinen ‚traditionellen‘ Kriterien lösen. Diese Behauptung entnimmt Habermas einer Theorie über das Handeln, die gerade auf die Bedingungen der wissenschaftlichen Untersuchung des Handelns reflektiert. Soll eine Wissenschaft vom Handeln möglich sein, so muss jenes ‚deutende Verstehen‘, von dem Max Weber sprach, seinen sprachlichen Ausdruck finden können. Das formuliert eigentlich nur die triviale Einsicht, dass wir es in der Wissenschaft mit sprachlichen Ausdrücken allgemeiner Zusammenhänge zu tun haben. Aber es gibt eine noch fundamentalere Bedingung für eine solche wissenschaftliche Untersuchung von Handlungen: Einen ‚subjektiven Sinn‘ (wiederum nach Max Weber) kann die Soziologie nur auffinden, wenn die Handelnden diesen Sinn selbst sprachlich ausdrücken können. Anders können sie nicht als Subjekte aufgefasst werden, die einen ‚subjektiven Sinn‘ demonstrieren können.

Das bedeutet aber keineswegs, dass sich die Soziologie auf ein ‚verstehendes‘ Vorgehen konzentrieren müsste und etwa soziales Handeln durch ‚Nachempfinden‘ oder ‚Empathie‘ beschreiben sollte. Ihre Aufgabe besteht durchaus darin, zu Erklärungen zu kommen, d. h. zum Aufstellen von allgemeinen Gesetzen, aus denen einzelne soziale Phänomene abgeleitet werden können, so dass wir sie dann als ‚erklärt‘ bezeichnen. Nichtsdestoweniger hat sie einen Gegenstand, der sich von denjenigen der Naturwissenschaften dadurch unterscheidet, dass er sich durch das Verbinden von subjektivem Sinn mit Verhalten – das dadurch zu einer Handlung wird – auf sich selbst beziehen können muss. Er unterscheidet sich aber auch von dem Gegenstand der sog. ‚Humanwissenschaften‘ oder auch der sog. ‚Geisteswissenschaften‘, weil die Soziologie es nicht mit ‚Menschen‘ oder ‚Individuen‘ und deren geistigen Produktionen wie Literatur oder Kunst zu tun hat, sondern mit Akteuren, also handelnden Subjekten.

Versuchen wir, die wichtigen Besonderheiten von Handlungen, die diese von Verhalten unterscheiden, durch einige Kriterien zusammenzufassen. Dabei geht es immer darum, dass der wissenschaftliche Beobachter einem handelnden Individuum das Vorliegen solcher Auszeichnungen zuschreibt, und zwar zunächst so, dass dieses Individuum sich selbst darin zu sich selbst verhält:

• Ein beobachtbares Verhalten ist mit einer Absicht verbunden;

• der Handelnde verbindet damit das Bewusstsein, er hätte dieses Verhalten auch lassen können, er fasst sich also als frei auf, dazu gehört auch, dass er eine Kontrolle über die mit diesem Verhalten verbundenen Bewegungen hat;

• er kann sein Verhalten in einer Wahl zwischen verschiedenen Optionen begründen, ohne dass damit große intellektuelle Bemühungen verbunden sein müssten. [<<47]

So weit ist die Bedingung des Sich-zu-sich-Verhaltens erfüllt. Das wird etwa schwieriger, wenn wir für eine wissenschaftliche Thematisierung von Handlungen noch verlangen, dass Handlungen identifizierbar sein müssen, d. h., der Beobachter muss jeweils entscheiden, dass es sich gerade um eine solche und nicht um eine andere Handlung handelt. Das ist gleichbedeutend damit, dass es Regeln geben muss, um sie als bestimmte Handlungen identifizieren zu können.10

Einige Schwierigkeiten mit einer solchen Auffassung von Handlungen waren schon lange vor Niklas Luhmann bei Max Weber selbst deutlich geworden. Wer in einer ‚Soziologie‘ den Logos des Sozialen geben will, der muss offenbar Aussagen über den in einer Handlung implizierten subjektiven Sinn des Handelnden treffen können. Damit wird der subjektive Sinn aber zumindest so weit objektiv, dass ‚wir‘ – d. h. hier: die Soziologen – ihn in Gruppen einteilen und näher bestimmen können. Wir können dann sagen, wie der subjektive Sinn einer bestimmten Handlung näher zu verstehen ist. Solche Handlungsbeschreibungen sind dann in dem Sinn ‚objektiv‘, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar sein müssen. Etwa versuchte Max Weber, verschiedene ‚Handlungstypen‘ zu unterscheiden, und kam dabei auf vier verschiedene Typen: zweckrationale (d. h. an einem Nutzen orientierte), wertrationale (an inneren Überzeugungen orientierte), traditionale (durch Gewohnheiten und überlieferte Normen bestimmte) und affektuelle (an emotionalen Bindungen orientierte) Handlungen, wobei ‚zweckrational‘ in einem weiteren Sinne allerdings jedes Handeln ist.

Über solche Einteilungen wurde natürlich heftig gestritten, etwa wäre es auch möglich, zwischen automatisch-spontanem und reflektiert-kalkulierendem Handeln zu unterscheiden. Man könnte auch darauf verweisen, dass Handlungen nie isoliert vorkommen, sondern stets in ‚Praktiken‘ eingebettet, d. h. in typisierte, routinisierte und deshalb im sozialen Zusammenhang auch verstehbare ‚Aktivitätsbündel‘. Schließlich kann man Handlungen auch in erster Linie unter ökonomischen Perspektiven untersuchen, wie dies etwa in der Rational-Choice-Theorie oder in spieltheoretischen oder auch tauschtheoretischen Ansätzen geschieht, von denen sich wiederum die soziologischen Theorien etwa aus den Gebieten der phänomenologischen Soziologie, des symbolischen Interaktionismus oder auch der strukturell-funktionalen Theorie [<<48] unterscheiden lassen. Glücklicherweise müssen wir uns mit diesen Details der soziologischen Handlungstheorie nicht näher beschäftigen.

Aber mit der Besonderheit von Handlungen aus der Tradition des philosophischen Denkens müssen wir uns beschäftigen, wenn wir verstehen wollen, wie Habermas seine Theorie eines Handelns ausarbeitet und begründet, das kommunikativ und d. h. verständigungsorientiert ist. Dieses Handeln ist zentral für sein ganzes Denken, sei es unter philosophischer, soziologischer oder politiktheoretischer Perspektive. Aus der vorstehenden Erinnerung an einige soziologische Gedanken über die Besonderheit von Handlungen ist bereits deutlich geworden, dass es naheliegt, sich hier mit philosophischen Gedankengängen zu beschäftigen, etwa in Zusammenhang mit dem ‚Sinn‘ von Handlungen, aus der Zuschreibung von Motiven und/oder Gründen, in Bezug auf die Subjektivität oder/und Intersubjektivität von Handlungen sowie durch die Struktur eines – sprachlichen – Bewusstseins von sich selbst, das einem Handelnden zugeschrieben werden muss, wenn er von jemandem unterschieden werden soll, der sich nur verhält, wie wir dies auch von Tieren sagen können. Und am besten beginnen wir mit Aristoteles, den wir als maßgebenden Begründer einer Philosophie der ‚Praxis‘ auffassen können.

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