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2.2 Die Besonderheit von ‚Handlungen‘ 2.2.1 Aristoteles: praxis und poiesis

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Den Begriff der ‚Praxis‘ verwenden wir im Alltag heute meist nicht so, wie es in der Philosophie seit ihren Anfängen der Fall war. Wir pflegen ihn der ‚Theorie‘ entgegenzusetzen, wenn wir etwa sagen, was man in der Theorie gelernt habe, müsse man schließlich in die Praxis umsetzen können, wie der Arzt, der im Medizinstudium die Theorie kennen gelernt hat, schließlich eine Praxis eröffnet, um sein Wissen in der Behandlung von Patienten bzw. deren Leiden praktisch zu verwenden. Am Anfang der Philosophie wurde die Bedeutung von praxis jedoch durch die Entgegensetzung zu poiesis bestimmt. Poiesis hieß bei Aristoteles generell dasjenige menschliche Tun, das einem bestimmten Zweck dient. Dabei stellen sich in erster Linie Fragen nach dem ‚richtigen‘ Einsatz von Mitteln für gegebene Zwecke. Es handelt sich also um die Frage nach der richtigen Technik.

Wenn man jedoch den optimalen Einsatz gegebener Mittel hinzunimmt, der erfolgt, um möglichst viel zu erreichen, dann könnte man die entscheidende Frage in Bezug auf die poiesis auch als eine ökonomische auffassen. Was bedeutet ‚richtig‘ in diesem [<<49] Zusammenhang? ‚Richtig‘ ist ein ‚poietisches‘ Tun offenbar dann, wenn es rational in dem Sinne ist, den wir in der Technik oder der Ökonomie verwenden. Es ist technisch-rational, wenn wir die für einen gegebenen Zweck geeigneten Mittel einsetzen und nicht versuchen, Schrauben mit einem Hammer einzusetzen. Es ist ökonomisch-rational, wenn wir die kostengünstigsten Mittel für ein gegebenes Ziel einsetzen oder mit den gegebenen Mitteln den höchstmöglichen Ertrag erzielen.

Mit dem Begriff der praxis dagegen nahm Aristoteles eine ganz andere Perspektive auf das menschliche Tun ein, und er behauptete, dass diese Perspektive gerade für das Besondere des Menschen entscheidend sei. Hier folgt ihm Habermas ganz und gar, auch wenn dieser schließlich andere und weit kompliziertere Mittel einsetzt, um diese Behauptung zu begründen und auszuarbeiten. Unter dieser Perspektive wird generell nach einem inhärenten Sinn eines menschlichen Tuns gefragt, also nicht danach, welchen Sinn es hat in Bezug auf damit zu erreichende Zwecke, sondern ‚in sich selbst‘ und ‚aus sich selbst‘. Eine Lüge kann technisch und ökonomisch das adäquate Mittel darstellen, um einen bestimmten Vorteil zu erreichen, und insofern ‚richtig‘ sein. Aber kann man auch sagen, sie sei ‚richtig‘, weil sie in ihrem eigenen Sinn ‚richtig‘ ist?

Ein solcher Sinn hat bei Aristoteles stets mit einem Ziel zu tun, d. h., ein menschliches Tun gewinnt einen inhärenten Sinn, weil es auf ein Ziel bezogen ist – was von einem Zweck zu unterscheiden ist. Die praxis im aristotelischen Sinn ist finalisiert. Von einer Orientierung an Zwecken unterscheidet das Tun sich nun deshalb, weil die verschiedenen Zwecke, für die wir technisch oder ökonomisch geeignete Mittel einsetzen und uns in diesem Sinne ‚rational‘ verhalten, selbst kein Ziel in sich selbst darstellen. Den Hammer verwenden wir, um einen Nagel einzuschlagen, der Nagel aber ist selbst kein Ziel in sich selbst, sondern soll ein Bild tragen, das aufgehängt zu haben wiederum nicht in sich selbst ein Ziel ist, sondern wieder ein Mittel für etwas anderes darstellt – sei es die Verschönerung der Wand, die Selbstdarstellung des Wandbesitzers als eines Kulturmenschen oder was auch immer. In der poiesis gelangen wir deshalb an kein Ende, weil Zwecke immer wieder selbst zu Mitteln werden.

Die praxis im aristotelischen Sinn dagegen hat es mit dem Ziel zu tun, man könnte auch sagen: mit dem Ziel. Damit schließt sich die aristotelische Auffassung von praxis zusammen mit der Vorstellung von einem letzten Ziel alles Tuns im menschlichen Leben, also mit einem Zweck, der selbst nicht mehr zum Mittel wird, weil er sich in sich selbst erfüllt. Hier schließt sich Aristoteles an den zentralen Begriff der platonischen Philosophie an, obwohl er ihn auch charakteristisch verändert. Dieses Ziel ist das gute Leben. Anders als Platon sucht Aristoteles aber nicht, dieses Ziel aus einer Idee des Guten abzuleiten, die unveränderlich und als ewige Wahrheit feststehen würde. [<<50] ‚Gut‘ ist das Leben deshalb, weil es in einer polis gelebt wird, d. h. im sozialen Zusammenhang und in der Interaktion mit anderen Menschen, womit wir wieder bei einem zentralen Gedankengang von Habermas angelangt sind. Auch hier wird dieser aber ganz andere Mittel einsetzen, um diesen Gedanken näher auszuarbeiten.

Es ist deutlich, dass die Perspektive auf die praxis des menschlichen Tuns bei Aristoteles den Anfang dessen darstellt, was wir bis heute als Ethik oder eben auch als praktische Philosophie bezeichnen. Der Begriff der Handlung als eines speziellen Tuns des Menschen, das ihn eben speziell als Menschen auszeichnet, ist damit als Teil der Ethik ausgezeichnet. Nach Aristoteles können wir also die Frage, was Handeln heißt, nicht von der Frage trennen, was gutes Handeln heißt. Handlungsphilosophie ist damit praktische Philosophie.

Die praktische Philosophie benötigt einen solchen Begriff des menschlichen Tuns, weil sie ohne ihn ihren Gegenstand verlieren würde, d. h. kein Thema hätte, würde sie sich mit der technischen und/oder ökonomischen Eignung von Mitteln für Zwecke beschäftigen. Aber nach dieser Weichenstellung kann ein Begriff des Handelns auch nur innerhalb der Ethik diskutiert werden, weil ohne die Frage nach der ethischen Richtigkeit des Handelns überhaupt kein solches Konzept ausgearbeitet werden kann und menschliches Tun dann nur unter der Perspektive der poiesis verstanden werden müsste, d. h., ohne dass wir uns über die Suche nach geeigneten Mittel-Zweck-Beziehungen hinaus noch mit der Frage beschäftigen könnten, welche Ziele mit solchen Beziehungen überhaupt verfolgt werden.

Die praxis ist bei Aristoteles darüber hinaus der Bereich, in dem keine Notwendigkeit bzw. Unveränderlichkeit herrscht, sondern von ihr ist nur dann die Rede, wenn etwas auch anders sein könnte. Diese Charakterisierung hat die praxis allerdings mit der poiesis gemeinsam, schließlich könnte man nicht planen, einen Tisch herzustellen, wenn der Tisch notwendig existieren würde oder wenn er notwendig nicht existieren könnte. Aber das Ziel der Tätigkeit unterscheidet praxis und poiesis voneinander. Die poiesis ist dadurch bestimmt, dass in ihr ein Ziel außerhalb der Tätigkeit selbst angestrebt wird: Die Tätigkeit der Herstellung eines Tisches wird unternommen, damit der Tisch schließlich dasteht und verwendet werden kann. In der praxis dagegen ist das Ziel bereits in der Tätigkeit selbst vorhanden. Deshalb ist der Beurteilungsmaßstab für die Güte der Handlung in der poiesis die Qualität des Hergestellten, d. h. seine Eignung für den angestrebten Zweck. Die praxis zu beurteilen ist dagegen weit schwieriger. Hier muss man allerdings beachten, dass Aristoteles es bisweilen mit seiner Terminologie nicht so genau nimmt. Bisweilen kommt man bei der Lektüre nicht darum herum, den Begriff der praxis ganz allgemein im Sinne eines Handelns aufzufassen, an anderen Stellen dagegen wird deutlich, dass dieser [<<51] Begriff nicht von dem der ‚Tugend‘ und damit von dem, was wir ‚gut‘ nennen können, abgetrennt verwendet wird.

Eine tugendhafte – ‚gute‘ – praxis ist nicht durch ihr Ergebnis charakterisiert, sondern durch die Art des Handelns selbst. Aristoteles drückt das so aus, dass dann ‚gut‘ gehandelt wird, wenn der Handelnde in einer bestimmten Verfassung handelt, und diese Verfassung wird näher so sein müssen: (a) Es muss ‚wissend‘ (bewusst) gehandelt werden; (b) es muss vorsätzlich, und zwar um der Handlung selbst willen, gehandelt werden, d. h., der Handelnde muss sich entschieden haben (Aristoteles spricht hier von prohairesis, was man mit Vorsatz, Entscheidung oder Wahl übersetzen kann); (c) es muss aus einer festen Disposition heraus gehandelt werden (Nikomachische Ethik 1105a28–1105b9). Wer so handelt, kann also nicht ‚Unwissen‘ als Entschuldigung geltend machen, er hat aber auch nicht Zwang und Gewalt als Grund dafür anzugeben, dass die Handlung eigentlich nicht von ihm stammt und ihm nicht zuzuschreiben ist.

Für die philosophische Theorie des Handelns wurde dabei besonders der Aspekt der Entscheidung bzw. der Wahl oder auch des Vorsatzes (prohairesis) wichtig. Ein solches Entscheiden liegt dann vor, wenn wir mit ‚Überlegung‘ nach solchen Dingen ‚streben‘, die auch tatsächlich in unserer Macht stehen (Nikomachische Ethik 1113a9ff.). Es geht um ein ‚Streben‘ bzw. ‚Erstreben‘ in der Wirklichkeit des Lebens, nicht um Phantasien und nicht um bloßes Wünschen, das nicht zu der Bemühung um Realisierung in der wirklichen Welt führt. Deshalb wird auch das ‚realistische‘ Streben in die Definition aufgenommen – würden wir nach etwas streben, das nicht in unserer Macht steht, so bliebe es bei einem bloßen Wünschen. Auch hier gewinnt das Wissen seine Bedeutung für das Vorliegen einer Handlung, die als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ (richtig oder falsch) bezeichnet werden kann. Darüber hinaus ist offenbar die Motivation entscheidend für die Frage, ob wir es mit praxis oder mit poiesis zu tun haben. Tun wir etwas um externer Güter willen, so kann eine Handlung, die ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ sein kann, nicht vorliegen, sie muss also aus intrinsischen Gründen vorgenommen werden. Die Bedingung (c) verlangt, dass eine stabile Handlungstendenz in einem Menschen vorliegen muss, um sagen zu können, dass er tugendhaft handelt.

Die Schwierigkeit des aristotelischen Begriffes der praxis liegt darin, dass er nicht sehr präzis ist. Er ist weitgehend durch die Abgrenzung von der theoria einerseits und von der poiesis andererseits charakterisiert und lässt schon deshalb viele Fragen offen, die für die spätere philosophische Fragestellung bezüglich des Handelns und seiner Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis wichtig geworden sind. Nichtsdestoweniger hat dieser Begriff doch entscheidende Weichen für die Auffassung eines besonderen Bereichs im menschlichen Verhalten gestellt, der sich vom einfachen Verhalten dadurch unterscheidet, dass er sich auf einen Raum des Möglichen und [<<52] Veränderlichen bezieht und dass er nicht – oder zumindest nicht vollständig – durch den damit unmittelbar angestrebten Zweck bestimmt wird, sondern das Ziel hier in der Tätigkeit selbst enthalten ist, so dass das Handeln dem Freiheitsbereich des Menschen zugeordnet werden kann. Ein solches Handeln ist also nicht – zumindest nicht vollständig – von seinem Ziel her bestimmt, und es genügt nicht, wenn wir das Ziel kennen und im Verhalten die Anwendung geeigneter Mittel entdeckt haben, um von praxis sprechen zu können.

Nach der aristotelischen Bestimmung der Handlung verbinden sich in einer Handlung, die der praxis angehört, die menschliche Freiheit, die Fähigkeit, Absichten zu verfolgen, und die Fähigkeit, solche Absichten um des ‚Richtigen‘ willen zu verfolgen (und nicht, um Ziele außerhalb der Handlung zu erreichen). Die Handlung der praxis ist deshalb im Unterschied zu derjenigen der poiesis diejenige, in der sich das zeigt, was den Menschen in seiner wesentlichen Unterscheidung von allen anderen Lebewesen offenbart. Das war für Aristoteles die Fähigkeit, ‚tugendhaft‘ handeln zu können – wir könnten auch sagen: aus freier Entscheidung und orientiert an Regeln, aufgrund derer eine solche Handlung als ‚richtig‘ in einem Sinne bezeichnet werden kann, der über die technische Angemessenheit des Einsatzes von Mitteln für gegebene Zwecke hinausgeht.

Wer mit der kantischen Ethik vertraut ist, der wird hier schon eine Vordeutung auf deren zentrale Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Urteilen erkennen. Hypothetische Urteile beschreiben die Wenn-dann-Struktur vieler Handlungsanweisungen: Wenn du einen Gegenstand mit einer Schraube befestigen willst, dann solltest du einen Schraubenzieher benutzen. Darin ist keine moralische Regel und kein entsprechendes Urteil enthalten. Ein kategorisches Urteil mit einem Sollen dagegen setzt nicht ein erwünschtes Ziel mit einem geeigneten Mittel in Beziehung, sondern beurteilt das Handeln (bei Kant eigentlich die Willensentscheidung bzw. den Handlungsvorsatz) mithilfe des Prinzips der Verallgemeinerbarkeit (Universalisierbarkeit) nach dem kategorischen Imperativ. Eine solche allgemeine Regel kannte Aristoteles allerdings nicht. In seinem Denken bezieht sich die ‚Richtigkeit‘ eines Handelns in der praxis auf das ‚gute Leben‘, das wir nur in der polis führen können, weshalb die herrschenden Vorstellungen über das ‚Richtige‘ in der polis eine entscheidende Bedeutung für die moralische Beurteilung einer Handlung und damit für ihren praktischen Charakter besitzen.

In diesem Zusammenhang ist noch ein zentrales Charakteristikum der aristotelischen Handlungskonzeption von Bedeutung. Wir haben schon gesehen, dass für die ‚tugendhafte‘ Handlung, die wir unter der Perspektive ihrer moralischen Richtigkeit und nicht unter der ihrer technischen Erfolgswahrscheinlichkeit beurteilen, auch die Bedingung wichtig ist, dass sie aus einer ‚stabilen Haltung‘ heraus erfolgt, die auf den [<<53] ‚Charakter‘ als die Disposition zu einer bestimmten Handlungsorientierung zurückgeht. In der moralisch relevanten, freiwilligen, bewussten und vorsätzlichen Handlung kommt zum Ausdruck, was bzw. wer der Handelnde ist.

Das geht auf den Gedanken zurück, dass nur das mit Überlegung geschehende und vernünftige Handeln die Grundsätze und allgemeinen Einstellungen des betreffenden Menschen zum Ausdruck bringt, während ein Handeln im Affekt weniger Beziehung zu dem hat, was ein Mensch ist bzw. zu was er sich gemacht hat. Aus dieser Perspektive sind wir weniger durch das charakterisiert, was wir vor einem vernünftigen Stellungnehmen oder außerhalb eines solchen wollen, sondern mehr durch das, was wir mit Entscheidung, Vorsatz und Überlegung wollen. Darin ist die moralisch relevante Handlung zu finden, mit der wir für uns selbst und in der polis demonstrieren, wer wir sind und wie man uns aufzufassen hat.

Das bedeutet allerdings keineswegs, dass das Handeln durch den ‚Charakter‘ als die Disposition zu einem bestimmten Handeln erklärt werden soll, was der Freiheit und der Willensentscheidung als Kriterien des moralischen Handelns gerade widersprechen würde. Das Handeln als Demonstration der ‚Persönlichkeit‘ und der ‚stabilen Haltung‘ des Menschen soll keineswegs die Verantwortlichkeit und damit die freiheitliche Grundlage des Handelns ausschließen. Wir können uns hier vielmehr eine Art von Wechselverhältnis vorstellen. Die einzelnen Handlungen des Menschen formen seine weiteren Dispositionen zum Handeln, und diese Dispositionen lenken die Bestimmung seiner Handlungen. Was wir heute als ‚Charakter‘ bezeichnen würden, stellt sich für Aristoteles also dar als etwas, das wir selbst gemacht haben, obwohl wir dabei auch Handlungstendenzen berücksichtigen müssen, über die wir nicht frei verfügen können. Solche Neigungen aber formen wir mit jeder Entscheidung über eine Handlung weiter aus, oder wir korrigieren sie und lenken sie in eine andere Richtung. Der Zusammenhang von Handeln mit Dispositionen zu bestimmten Handlungsweisen soll nach Aristoteles also keineswegs die Freiheit in der Willensentscheidung und damit den Vorsatz beim Handeln ausschließen.

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