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2.2.3 Handlungsverstehen und Gründeverstehen

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Für die Sozialwissenschaften als Wissenschaften von Handlungen bzw. vom sozialen Handeln gilt nach Habermas, dass sie Handlungen nur dann als solche beschreiben können, wenn sie sich mit den Gründen beschäftigen, die der Handelnde mit seinen Handlungen verbindet. Eine Handlung wird aber dann nicht als mit Gründen versehen und aufgrund von Gründen vollbracht bezeichnet, wenn nur die Äußerungen des Handelnden beschrieben werden. Damit ist er in diesem Denkzusammenhang nicht als Handelnder aufgefasst. Vielmehr besteht nach Habermas

„ein fundamentaler Zusammenhang zwischen dem Verständnis kommunikativer Handlungen und im Ansatz rationalen Deutungen. Fundamental ist dieser Zusammenhang, weil sich kommunikative Handlungen nicht zweistufig deuten, zunächst in ihrem faktischen Ablauf verstehen und dann erst mit einem idealtypischen Ablaufmodell vergleichen lassen.“ (TkH1 170)

Einer solchen Auffassung setzt Habermas entgegen, dass der Sozialwissenschaftler Handlungen nur angemessen verstehen kann, wenn er einen Hintergrundkonsens, eine gemeinsame Verstehensbasis und damit eine gemeinsame rationale Basis mit den Handelnden besitzt.

Auch ein „virtuell, ohne eigene Handlungsabsichten teilnehmender Interpret kann … den Sinn eines faktisch ablaufenden Verständigungsprozesses nur unter der Voraussetzung deskriptiv erfassen, dass er das Einverständnis und den Dissens, die Geltungsansprüche und die potentiellen Gründe, denen er konfrontiert ist, auf einer gemeinsamen, von ihm und den unmittelbar Beteiligten prinzipiell geteilten Grundlage beurteilt.“ (TkH1 170f.) Insofern tritt er als Sozialwissenschaftler stets in eine Auseinandersetzung mit dem Handelnden und dessen Gründegeben ein. Anders gesagt: [<<60] Habermas’ Behauptung lautet hier, dass man Gründe nicht beschreiben kann wie in der Welt vorkommende Gegenstände. Versuchte man dies, so würde man etwa physikalisch beschreibbare Laute wiedergeben, d. h., man würde den Begründenden zitieren, was aber nicht bedeutet, seine Gründe als Gründe zu verstehen. Dagegen setzt Habermas:

„Die Beschreibung von Gründen verlangt eo ipso eine Bewertung auch dann, wenn sich der, der die Beschreibung gibt, außerstande sieht, im Augenblick ihre Stichhaltigkeit zu beurteilen. Man kann Gründe nur in dem Maße verstehen, wie man versteht, warum sie stichhaltig oder nicht stichhaltig sind.“ (TkH1 169f.)

An einer Stelle gibt Habermas ein Beispiel für die gerade ausgeführte Notwendigkeit des Sinnverstehens und der rationalen Nachkonstruktion für das Verstehen von Handlungen. Das Beispiel bezieht sich auf eine gesuchte Erklärung für ein zunächst in seiner Motivation unbekanntes Lachen aus dem Publikum, das ein Redner wahrnimmt. Die Frage lautet also nun: Wie kann der Redner diese Handlung des Lachens wirklich verstehen? Habermas’ Antwort lautet wie folgt: „Der Interpret weiß auch im letzten, dem zunächst am wenigsten plausiblen Fall nicht, wie er die Publikumsreaktion verstehen soll, solange er sich aufgrund der verfügbaren Evidenzen nicht entscheiden kann, ob einige Zuhörer eine unbeabsichtigte Pointe in den Äußerungen des Redners entdeckt, ob sie den Redner missverstanden oder ob sie ihn ausgelacht haben – und wenn sie über eine unbeabsichtigte Pointe gelacht haben, ob es wirklich eine Pointe war oder warum diese ihnen nur als eine solche erscheinen musste. Er muss die Gründe verstehen, die dafür angeführt werden können, dass diese Reaktion als ein wirkliches Lachen zählt, in diesem Sinne eine ‚gültige‘ Äußerung ist.“ (Entgegnung 348) An dieser Stelle behauptet Habermas also, dass jenes Lachen, das der Redner aus dem Publikum vernimmt, ihm nur verständlich wird, wenn er Gründe für dieses Lachen erkennen kann, die er nachvollziehen kann, auch wenn er sie keineswegs billigt.

Um solche Gründe erkennen zu können, muss er jedoch deren Rationalität nachkonstruieren können, damit er die Gründe überhaupt als solche erkennen kann. Solange er also nur ein Lachen vernimmt, hat er es in seinem Charakter als ein soziales Handeln nicht verstanden. Will er aber verstehen, ob es sich etwa um ein Auslachen handelt, so genügt es nicht, auf die Umstände Bezug zu nehmen, wie etwa durch Vermutungen über die Art des Lachens, über die Begleitumstände gestischer oder mimischer Art. Er kann dies vielmehr nur herausfinden, wenn er nachzukonstruieren versucht, ob und welche Gründe die Zuhörer veranlasst haben, zum Auslachen zu kommen. Das bedeutet, um es nochmals zu betonen, nicht, dass er diese Gründe billigen muss. Er muss sie aber in [<<61] ihrer Rationalität zumindest nachverstehen können. Er muss nicht der Meinung sein, die Zuhörer hätten ihn mit gutem Grund ausgelacht, aber er muss nachkonstruieren können, dass die Zuhörer für sich gute Gründe gehabt haben, auch wenn er mit diesen Gründen keineswegs einverstanden ist. Nur wenn ihm dies gelingt, kann er das Lachen als eine kommunikative Handlung vollständig verstehen. Habermas drückt dies auch so aus, dass der erwähnte Redner dann „die Rolle des virtuellen Teilnehmers“ spielen muss. In Bezug auf das Lachen des Publikums muss er also,

„um kommunikative Erfahrungen zu machen, eine performative Einstellung einnehmen und am originalen Verständigungsvorgang, wie immer auch nur virtuell, teilnehmen.“ (TkH1 168)

Wir haben nun den Begriff des Handelns (a) mit Bezug auf Max Weber und seine Betonung der Sinnhaftigkeit von Handlungen und (b) im Ausgang von der aristotelischen Perspektive auf die praxis und (c) schließlich auf der Grundlage der an David Hume anschließenden postanalytischen Handlungsphilosophie insbesondere von Donald Davidson eingeführt. Schließlich sind wir auf dieser Grundlage an den Punkt gelangt, wo Habermas’ Denken vom Begriff des Handelns (und damit von der Soziologie) zu einer Grundlegung der Ethik (und damit zur praktischen Philosophie) fortschreiten muss. Offenbar folgt Habermas den Grundlinien der ‚klassischen‘ Handlungstheorie so weit, dass er das Phänomen des Handelns verschwinden sieht, wenn es nicht mithilfe solcher Ansätze untersucht wird, die sich von der ‚intentio recta‘ der – vor allem – Naturwissenschaften grundlegend unterscheiden. Von Handeln können wir nur sprechen, wenn wir bereit sind, praktische Fragen zu diskutieren und Gründe des Handelnden nachzuvollziehen. Damit sind wir bereits auf dem Weg vom Begriff des Handelns zu Habermas’ Diskursethik.

Im Habermas’schen Denkzusammenhang rechtfertigt sich der Begriff des Handelns letztlich durch die Diskursethik, und die Diskursethik wird begründet aus ihrem Status als Bedingung alles Sprechens. Damit wird der Begriff von Handeln im Sinne von praxis also gerechtfertigt aus den Bedingungen von gelingender Verständigung – von Kommunikation. Der Begriff des kommunikativen Handelns rechtfertigt sich also daraus, dass ein solches Handeln die menschliche Sprache möglich macht, die es uns durch die ihr innewohnende Rationalität ermöglicht, überhaupt zu handeln.

Dagegen könnte vonseiten einer naturalistischen Position ein Einwand gegen jede ‚Ethisierung‘ des Handelns vorgebracht werden. Dass eine Handlung sich von einem Verhalten unterscheidet und dass diese Unterscheidung etwas mit Ethik und damit der Frage nach der moralischen Richtigkeit des Tuns zu tun hat, könnte zwar auch [<<62] von einem Vertreter einer rein wissenschaftlichen – oder besser: naturwissenschaftlichen – Auffassung des Handelns zugestanden werden. Allerdings müsste diese Position dann, wenn sie die prinzipiell praktische und damit an der moralischen Richtigkeit ausgerichtete Orientierung von Handlungen zugesteht, die Ethik selbst als etwas auffassen, was ‚in der Natur‘ vorkommt, d. h. als etwas, das zwar Orientierung im Handeln gibt, aber selbst mithilfe von Naturursachen erklärt werden kann. Dann wäre die ‚Ordnung der Natur‘ im Sinne der deterministischen Naturwissenschaft wiederhergestellt.

Dies könnte nur dann gelingen, wenn wir einen eigenen Wahrheitsanspruch für das, was wir als ethisch richtig bezeichnen, aufzugeben bereit sind. Was in diesem Sinne als richtig gilt, ist dann Teil des Ereignisses, als das wir die Handlung ansehen können, die nur durch ein spezielles Ereignis unter dem Titel ‚Sinn‘ oder ‚praktische Richtigkeit‘ näher charakterisiert wird. Nur dann könnte das Handeln von seinem Bezug auf die praktische Philosophie gelöst und als Teil der natürlichen Welt aufgefasst werden, wie wir sie mit den Mitteln der beobachtenden und speziell experimentierenden Naturwissenschaft in theoretischen Zusammenhängen beschreiben können.

Jene ‚Naturalisierung‘ des Handelns kann aber nur unter der Bedingung gelingen, dass die innere Praxis-Orientierung des Handelns nicht durch eine Ethik beschrieben werden muss, die ihren Anspruch auf Wahrheit aufrechterhält. Genau dieser Wahrheitsanspruch der Ethik ist aber das zentrale Thema von Habermas’ praktischer Philosophie im engeren Sinne. Die Bestimmung des Handlungsbegriffes unter praktischen Vorzeichen führt bei Habermas also weiter in die Theorie der Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen. Sein Anspruch lautet gegen die bei Kant beginnende Tradition der Ethik mit ihrer nur ‚kritischen‘ – also die Vernunftansprüche der Ethik abgrenzenden und eingrenzenden – Stoßrichtung, es könne gelingen, ethische Richtigkeit so zu begründen, dass weder ein vorkantischer Dogmatismus noch eine hegelsche Reduktion der Ethik auf die geschichtlich gewordene Sittlichkeit, noch eine Ethik durch Analyse der herrschenden Sprachspiele und kulturellen Bestände erreicht wird.

Dagegen setzt Habermas den Anspruch, den Begriff des Handelns letztlich durch eine ethische Begründungsform ausweisen zu können, die universell insofern ist, als sie einen Anspruch auf Gültigkeit für jedermann erheben kann, und die individualistisch insofern ist, als sie diesen Anspruch jedem Einzelnen demonstrieren kann, ohne ihn im gleichen Atemzug seiner Individualität zu berauben und ihn als Fall einer Klasse von Menschen aufzufassen. Wir sind damit schon fast beim Zusammenhang von Handeln und Wahrheit im und durch Diskurs angelangt. Bevor wir uns diesem Thema aber näher widmen, müssen wir Habermas’ Auffassung von der Besonderheit des Handelns noch näher aufklären. Dabei muss es um das Handeln gehen, das im Zentrum seines Denkens und im Titel seines ‚Hauptwerkes‘ steht: das kommunikative Handeln. [<<63]

2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 1, Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 23, Tübingen 2013, S. 149.

3 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 23, Tübingen 2013, S. 163.

4 „The most fundamental theorem of the theory of action seems to me to be that the structure of systems of action consists in institutionalized (in social and cultural systems) and/or internalized (in personalities and organisms) patterns of cultural meaning.“ Talcott Parsons, The Point of View of the Author, in: Black, Max, ed., The Social Theories of Talcott Parsons. A Critical Examination, Englewood Cliffs 1961, p. 311–363, p. 342.

5 Alfred Schütz, Parsons’ Theorie sozialen Handelns, in: Alfred Schütz, Talcott Parsons. Zur Theorie sozialen Handelns, Frankfurt/Main 1977, S. 25–76, S. 52.

6 Niklas Luhmann, Einige Probleme mit ‚reflexivem Recht‘, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6/1985, S. 1–18, S. 8.

7 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1987, S. 228.

8 Niklas Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: Haferkamp, Hans/Schmid, Michael, Hg., Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main 1987, S. 307–324, S. 321 (Anm. 7).

9 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 1, Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 23, Tübingen 2013, S. 149.

10 Diese Charakterisierung von Handlungen folgt grundsätzlich Werner Greve, Handeln in Widerfahrniskontexten. Handlungsabsichten, Handlungsbedingungen und Bedingungen von Handlungsabsichten, in: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen, Hg., Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 220–248, S. 223f.

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