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Einleitung

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Archive – Gedächtnis der Nation?

Das Interesse an Archiven datiert nicht erst aus jüngster Zeit. Schon Novalis wusste: „Archive sind das Gedächtnis der Nation“. Damit spielt er auf zwei der möglichen Leistungen von Archiven an, die Sicherung von Daten der Vergangenheit und ihre identitätsstiftende Funktion. In den letzten Jahrzehnten hat Novalis’ Erkenntnis an Gewicht gewonnen. Archive erwiesen sich als Gewissensinstanzen, gar so etwas wie moralische Einrichtungen. Dies zeigte sich nach der Wende: Das von den Amerikanern gehütete Berlin Document Center wurde frei zugänglich und erlaubte einen ungehinderten Einblick in Personalakten der Nationalsozialisten. Die Gauck-Behörde übernahm die einer schnellen Vernichtung entgangenen Stasi-Unterlagen und machte damit die Aufarbeitung der politischen Praxis der DDR und der mit ihr verwobenen Lebensgeschichten ihrer Bürger möglich. Günter Grass hat dies in seinem Roman „Ein weites Feld“ thematisiert und damit die Ambivalenz verantwortungsvoller akribischer Recherche im Dunstkreis eines autoritären politischen Systems reflektiert. Es gelingt ihm, das System des Staatssicherheitsdienstes durchschaubar zu machen. Die Menschen, die darin arbeiten, verstehen sich als Kollektiv, bezeichnen sich selbst als „Wir vom Archiv“. Grass zeigt diese Menschen als Funktionäre, die die Hermetik der Institution nutzen, um sich zu tarnen. Es gelingt ihm aber auch, sie als sehr lebendige Figuren in ihrer jeweiligen Eigenart zu beschreiben. Archive enthüllen ebenso wie sie verhüllen. Die realen Vorgänge um die beiden genannten Archive und die literarische Aufarbeitung durch den Nobelpreisträger Grass wurden in der Presse gleichermaßen ausgiebig kommentiert. Entdeckungen, Wiederentdeckungen, auch Fälschungen sind der Stoff, aus dem nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten gemacht werden. Dass der Alltag eines Archivs in der Regel weitaus weniger spektakulär aussieht, mag man allenfalls ahnen.

Ziele der Einführung

Es wäre reizvoll, der aktuellen Diskussion über einzelne Archive und ihren Einfluss auf die gegenwärtige Politik und Gesellschaft nachzugehen, doch diese Einführung folgt vor allem einem pragmatischen Auftrag. Als archivpraktischer Begleiter wendet sie sich vor allem an Studierende, Examenskandidaten und Berufseinsteiger der verschiedensten geisteswissenschaftlichen und historisch arbeitenden Disziplinen. Der Diskurs über die Aktualität von Archiven in der heutigen wissenschaftstheoretischen und kulturphilosophischen Diskussion soll deshalb nur am Rande thematisiert werden.

Abgrenzung zu Quellenkunden

Ein Blick auf die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel zeigt, dass diese Einführung in die Archivarbeit in der Tat ein Desiderat ist. Quellenkunden, also Einführungen in die verschiedenen Arten von historischen Quellen und ihre Interpretation, existieren vielfach im Rahmen von Einführungswerken zum Studium einer bestimmten Fachdisziplin. Nur selten wird dort aber eine Brücke zu Archiven und anderen verwahrenden Institutionen geschlagen, d. h. der Leser erfährt zwar, wie eine mittelalterliche Urkunde oder wie ein Foto zu interpretieren ist, er erfährt aber nicht, wo er solche Quellen unter welchen Bedingungen finden kann.

Vorhandene Überblicksdarstellungen zum Archivwesen richten sich in der Regel an Archivare oder an erfahrene Benutzer, vermitteln jedoch gerade Anfängern kein Grundlagenwissen zur deutschen Archivlandschaft und zu den wichtigsten Problemen und Fragen der Benutzung. Bisweilen handelt es sich auch um bloße Adressverzeichnisse mit wenigen ergänzenden Informationen bzw. um Beständeübersichten, die wiederum nur dem nutzen, der sich schon mit Archiven auskennt.

Nur wenige Werke wenden sich an Laien bzw. potenzielle Archivbenutzerinnen und -benutzer, die sich in der Ausbildung befinden und erfahren möchten, was sie erwartet, was sie erwarten können und wie sie vorgehen müssen, damit sich ihre Erwartungen bezüglich der Leistungsfähigkeit und Praktikabilität von Archiven und ihrer Auswertung erfüllen. Diese Hilflosigkeit gegenüber der Institution Archiv, die sich bei Studierenden im ersten Semester ebenso feststellen lässt wie bei examinierten Historikern, Philologen und Kulturwissenschaftlern, steht im Gegensatz zur quantitativen und qualitativen Bedeutung, die Archive für diese Disziplinen haben. Das Problem lässt sich aber nicht mit der Vermittlung einiger Tipps und Hinweise bewältigen, denn dies würde der tatsächlichen Komplexität des Archivwesens nicht gerecht. In dieser Einführung werden deshalb außer der Benutzung auch die Geschichte des Archivwesens und seine Rolle in der derzeitigen Wissenschafts- und Berufslandschaft berücksichtigt.

Wo setzen die mit dieser Einführung vermittelten Überlegungen und Informationen an? Archive sind mehr als der der endgültigen Verstaubung entgangene Rest der Jahrhunderte, wiewohl sich mit diesem Bild trefflich spielen lässt. Sie sind die gesicherte, in der Materialität von zumeist Papier und Schrift niedergelegte kollektive Erinnerung. Dies legitimiert zur Beschäftigung mit der Geschichte des Archivwesens. Mit einem Einblick in die Genese von deutschen Archiven und ihre strukturellen Grundlagen wird zunächst die Basis geschaffen für ein angemessenes Verständnis eines Archivs, in gewisser Weise auch besänftigend einer Erfahrung vorgebeugt, die alle, die in einem Archiv arbeiten möchten, machen werden: Archive richten sich zwar nach bestimmten Normen aus, diese aber haben im Laufe der Zeit einige Wechsel erfahren, so dass nur bedingt von feststehenden und allgemein verbindlichen Normen ausgegangen werden kann. Stattdessen spiegelt sich in den divergierenden Erscheinungsformen der Archive und ihrem Mangel an Einheitlichkeit ihre eigene, seit Jahrhunderten andauernde Entwicklung.

Unübersichtlichkeit der Archivlandschaft

Die deutsche Archivlandschaft ist mit einer unüberschaubaren Zahl von Archiven derartig heterogen strukturiert, dass ein gezieltes Auffinden von Quellen zu einem bestimmten Forschungsvorhaben oder Informationszweck nur dem möglich ist, der die Entwicklung des Archivwesens in Grundzügen kennt und daher einzuschätzen weiß, auf welche Weise ein bestimmter Archivbestand wo überliefert sein könnte. Da die Zahl der deutschen Archive, rechnet man neben den großen auch die mittleren, kleinen und kleinsten, oft nur nebenamtlich betreuten Einrichtungen mit ein, mehrere tausend überschreitet und es keinen allgemein anerkannten Standard zur Erschließung und Quellenpräsentation gibt, bleibt auch im Zeitalter der Online-Recherche eine praxisbezogene, für alle möglichen Benutzer geeignete Einführung in das Archivwesen notwendig.

Der vorliegende Band versucht, die genannten Lücken zu schließen, ohne so sehr ins Detail zu gehen, dass der Einführungscharakter verloren gehen würde. Er dient vor allem zur Vorbereitung von Archivstudien. Auch während der Benutzung soll er zur Hand genommen werden können, um auf auftretende Probleme eine schnelle Antwort zu geben. Dem dient zum einen das Glossar wichtiger Fachbegriffe und zum anderen die Struktur des Bandes.

Aufbau der Einführung

In einem umfangreichen praxisorientierten Teil werden der Umgang mit einem Archiv vorbereitet und Hinweise für diese Vorbereitung gegeben. Hierbei geht es um handfeste Regeln, um Arbeitshilfen und Check-up-Listen, mit denen der Gang ins Archiv zu einer positiven Erfahrung für Studium und Beruf wird.

Das Arbeitsfeld für Studierende der Geisteswissenschaften reflektiert das nachfolgende Kapitel. Es sensibilisiert für einen reichen Anwendungsbereich, der sich mit der Archiverfahrung und -kompetenz schon während des Studiums eröffnet. Dabei werden insbesondere auch die Archivbenutzerinnen und -benutzer eines neuen Typs im Auge behalten, nämlich Kulturwissenschaftler, deren Interesse an archivischen Quellen in den letzten Jahren sprunghaft ansteigt und die daher zunehmend neben die traditionelle Benutzerklientel der Historiker treten. An Fallbeispielen aus der philologischen Praxis, aus dem klassischen Aufgabenfeld der Historiker und zur personen- und ereigniszentrierten Recherche und wird der Informations- und Erkenntnisgewinn verdeutlicht, den die Archivarbeit mit sich bringt.

In einem weiteren Kapitel werden Hinweise für die Berufspraxis gegeben, die aufzeigen, dass der Archivbesuch nicht nur für diejenigen lohnend ist, die eine wissenschaftliche Laufbahn in einer historisch arbeitenden Disziplin anstreben. Genauere Informationen zu den derzeitigen Möglichkeiten, ein qualifizierendes Archivstudium zu absolvieren und Angaben zu Kenntnissen und Schlüsselqualifikationen, die dort vermittelt werden, stehen dabei im Vordergrund. Ein Überblick über das breite Spektrum von Berufsperspektiven, die von der Archivkompetenz eröffnet werden, schließt dieses Kapitel ab.

Aktualität der Archivarbeit

Abschließend sei darin erinnert, dass Hochschullehrer, die in besonderer Weise die Vermittlung von Archivkompetenz in ihrer Lehre berücksichtigen, sich noch immer mit dem zumindest latent vorhandenen Vorurteil auseinandersetzen müssen, eine leblose Materie zu vermitteln. Doch der heutige Wissenschaftsdiskurs belegt das Gegenteil: Archivarbeit hat an den aktuellen geschichtsphilosophischen Reflexionen einen besonderen Anteil. Demnach sind Archive nicht nur als Zeugen von Vergangenheit zu bewerten, sondern auch als Teilhaber an der Konstruktion von Gegenwart. Es ist deshalb wichtig zu fragen, welche Rolle die Arbeit im Archiv zur Erkenntnis der Gegenwart leistet. Die Spurensuche dort unterstützt das Erinnerungs- und Gedächtnisvermögen. Beide sind wichtig für unsere Identität.

Aspekte dieser anhaltenden lebhaften Reflexion über Identität, Gedächtnis und Erinnerung verbinden den Blick in die Archivgeschichte mit dieser gegenwärtigen Diskussion.

Zu einem differenzierteren Blick auf das Wesen von Archiven selbst trugen vor allem Philosophen bei. Michel Foucaults „Archéologie du savoir“ (1969) und Jacques Derridas „Mal d’archive“ (1995) hatten zur Folge, dass jedes bis dahin geltende naive Vertrauen in eine positivistische Leistung von Archiven hinterfragt wurde. Die „Archäologie des Wissens“ erschien 1973 auf Deutsch, wodurch sich Foucaults Auffassung von Geschichte auch im deutschen Sprachraum verbreitete. In seinem geschichtstheoretischen und diskurshistorischen Ansatz betrachtet Foucault Geschichte selbst als „Archiv“, versteht sie als Gesetz, das Aussagen konstituiert und zugleich als System, das deren Erscheinen beherrscht. Damit wird unser Interesse auf neue, differenzierte Zusammenhänge gelenkt, denn unsere Kenntnis von der Geschichte ist zugleich die kritische Geschichte von der Entstehung dieses Wissens, d. h. seiner Generierung und Formierung und deren Regeln. Hieran hatten und haben Archive mit ihrer spezifischen Sammelpraxis in besonderer Weise teil. Die Kulturwissenschaften sind als erste diesen Anregungen gefolgt, hatten sie doch zur Folge, dass Archive nun erst recht ihre Bedeutung und Aussagekraft im aktuellen Diskurs sichern und zugleich die Funktion, lediglich Zeuge zu sein, eintauschen konnten gegen den Rang einer Partizipation an der Konstruktion von Sinnentwürfen.

Archive in Kunst und Literatur

Neben den Kulturphilosophen haben auch Schriftsteller und Künstler die Faszination am nicht mehr Gebrauchten, am Abgelegten, Vergessenen empfunden und verarbeitet. Archive sind nicht die klischeehaft imaginierten grauen Orte, verwaltet von ebenso grauen Archivaren, sondern Orte des Geheimnisses, das hatte schon Franz Kafka in seinen Texten vermittelt. Der italienische Schriftsteller, Linguist und Ästhetiktheoretiker Umberto Eco bietet mit seinem Roman „Der Name der Rose“ ein aktuelles Erfolgsbeispiel für die Brisanz des Themas, das hat nicht zuletzt die nachfolgende Verfilmung Kassen füllend gezeigt. Mit der kriminalistischen Neugier eines Archivars hat Eco einem der fundamentalen antiken Mythen nachgespürt und einem christlich vereinnahmten, in der Tragödie theatral inszenierten Leidensmythos sein potenzielles Pendant wiederentdeckt. Die gesuchte, gefundene und im apokalyptischen Inferno der brennenden Bibliothek abermals vernichtete Handschrift der aristotelischen Komödientheorie wird zum virtuellen Weltentwurf, zu einer Gegenwelt, zum ewigen Lachen der Götter.

Erinnerungskultur

Über die thematische Aneignung hinaus finden wir in der Kunst auch das Spielen mit dem Wissensspeicher Archiv. Zugleich ist aber hier in besonderer Weise gesehen worden, dass das, was ein Archiv zu sichern vorgibt, extrem gefährdet ist. Für Aleida Assmann, die der Erinnerungskultur in der Forschung einen besonderen Platz sicherte, haben Archiv und Mülldeponie eine gemeinsame Grenze, sind ihr umgekehrtes Spiegelbild. Zwischen beiden verläuft der schmale Grat, der die Existenz von Archivalien sichert oder einem unbestimmten Schicksal preisgibt. Als Embleme und Symptome für das kulturelle Erinnern und Vergessen haben sie aber zuweilen überlebt, wenn sie auch ihr vorläufiges Ende in einem Papierkorb gefunden hatten. Der Dadaist Hans Arp hat seine Ästhetiktheorie des Zufalls geradezu im Papierabfall seines Schreibtisches entdeckt: Papierschnitzel und ihre Transformation zur Collage gaben nicht nur ihm neue Impulse, sondern wurden symptomatisch für die Kunsttheorie und künstlerische Praxis der Moderne. In gemeinsamer Produktion von Arp und Max Ernst entstanden die „Fatagagas“, als „FAbrication de TAbleaux GAsométriques GArantis“, mit Ernst Schwitters, der mit seinen „Merz“-Bauten eine aus der Müllhalde gespeiste Gegenwelt geschaffen hat, weitere Arbeiten. Erst in den siebziger Jahren entdeckte der Kunsthistoriker Werner Spies, dass Max Ernst seine frühen Collagen aus den abgelegten Heften einer Kölner Lehrmittelfabrik zusammengesetzt hatte. Sie verloren zwar zunächst ihre Funktion als Verkaufskatalog, dann auch als potenzielle Archivalien und als historische Quellen, wurden aber quasi als Kunst wiedergeboren. Nicht umsonst finden wir bei dem herausragenden Zeugen seiner Zeit, Walter Benjamin, eine Faszination für den „Lumpensammler“.

Dem Reiz, den die praktischen Seite der Archivarbeit auf die Metadiskurse in Kunst und Wissenschaft immer wieder ausübt, möchte sich der vorliegende Band nicht gänzlich verschließen, sondern zum Zwecke eines nachdenklichen Umgangs mit dem Thema Archiv zumindest andeuten.

Der Band entstand als Gemeinschaftsarbeit eines Historikers und Archivars, einer Kulturwissenschaftlerin und einer unmittelbar mit der Praxis eines Literaturarchivs vertrauten Literaturwissenschaftlerin. Er vereinigt so die Benutzerperspektive mit derjenigen der archivischen Arbeit. Die Vielzahl der auf diese Weise beteiligten Perspektiven wurde als Chance gesehen, breit und für eine weit gefasste Zielgruppe in die Archivbenutzung einzuführen.

Die überwiegende Bearbeitung des archivgeschichtlichen Rückblicks und der historischen Recherchebeispiele lag bei Max Plassmann, die der Einführung in die Benutzungspraxis und das Berufsbild des Archivars bei Sabine Brenner-Wilczek. Die praktische Archivarbeit in den Literatur- und Kulturwissenschaften stellte Gertrude Cepl-Kaufmann dar.

Autorinnen und Autor haben ihr archivpraktisches Konzept in einer Vielzahl gemeinsamer Seminare erprobt und die Ergebnisse in Ausstellungen und Studierendenkolloquia in Zusammenarbeit mit den Seminarteilnehmern der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Erfolg, die große Freude und nicht zuletzt die Fülle an reizvollen Erkenntnissen, die diese archivorientierten Aktivitäten allen Beteiligten bescherten, waren Motivation genug, diese Erfahrungen weiterzugeben.

Düsseldorf, im Februar 2006

Sabine Brenner-Wilczek,

Gertrude Cepl-Kaufmann und

Max Plassmann

Einführung in die moderne Archivarbeit

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