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2. Mittelalter und Frühe Neuzeit

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2.1 Das Archiv im Urkundenzeitalter: Mittelalter

Wurzeln im Verwaltungshandeln

Das Wort „Archiv“ leitet sich ab vom Wortstamm arché bzw. archeion, dem griechischen Wort für „Verwaltungsgebäude“. Dieser Befund begleitet die Entwicklung des Archivwesens durch die Jahrhunderte und wird erst in der Frühen Neuzeit langsam, seit dem 19. Jahrhundert dann immer schneller durch neue Funktionen und Themenstellungen ergänzt. Der Hauptstamm der Archiventwicklung lag jedoch zunächst bei Funktionen im Rahmen eines „Verwaltungsgebäudes“, und dieser Stamm ist bis heute so stark, dass er nach wie vor die Wurzel und den Bezugspunkt des gesamten Archivwesens darstellt und die einzig brauchbare Typologie, die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Archiven, hervorgebracht hat.

Die ursprünglichen archivischen Funktionen im Rahmen eines Verwaltungsgebäudes bzw. der Verwaltung eines Herrschaftsträgers, gleichgültig ob weltlich, geistlich, kommunal usw., sind schnell umrissen. Sobald Verwaltung mit Schriftlichkeit verbunden wird, müssen die entstehenden Schriftstücke wenigstens so lange aufbewahrt werden, wie sie einen praktischen Nutzen haben. Das wiederum erfordert nicht nur eine Sicherung gegen Diebstahl und schädliche Umwelteinflüsse, sondern auch eine Ordnung, die bei wachsenden Mengen von Schriftstücken im Bedarfsfall ein Wiederauffinden ermöglicht.

Schriftlichkeit – Mündlichkeit

Diese Erkenntnis versetzt in die Problemlage der Herrschaftsträger des Mittelalters, um antike Vorläufer einmal außer Betracht zu lassen. In diesen Jahrhunderten ist bekanntlich auch in den vormals romanisierten Gebieten die Schriftlichkeit stark zurückgegangen. Vieles wurde hier wie in ehemals ,barbarischen‘ Gegenden mündlich verhandelt und tradiert. Auch dazu gab und gibt es kulturelle Techniken des Erinnerns und Weitergebens, doch haben diese wenig mit den Vorstadien des heutigen Archivwesens zu tun. Hier handelt es sich um zwei Stränge der gesellschaftlichen Organisation des Erinnerns, um den mündlichen und um den schriftlichen Zweig. Dass Letzterer sich in Mitteleuropa und mitteleuropäisch beeinflussten Kulturen durchgesetzt hat, hat dazu geführt, dass Schriftgut verwahrende Institutionen wie Archive und Bibliotheken zu den zentralen Orten des Erinnerns geworden sind, während mündliche Traditionen mehr und mehr ein Schattendasein führen. Das ist aber auch der Grund dafür, dass heute alle Disziplinen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, um den Gang in Archiv und Bibliothek nicht herumkommen.

Auch wenn die Schrift in der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit eine weitaus geringere Rolle als in der Antike spielte, wurde sie immer, auch in den „dunkelsten“ Zeiten, genutzt, um wichtige Texte von langfristiger Bedeutung festzuhalten. Das sind zum Einen religiöse, wissenschaftliche oder auch literarische Texte in den Codices, aus denen sich letztlich die gedruckten Bücher entwickelt haben und für die sich daher heute die Bibliotheken verantwortlich fühlen.

Rechtssetzende und -sichernde Texte

Auf der anderen Seite entstanden v. a. rechtssetzende oder -fixierende Texte, also die Urkunden des Mittelalters, in denen Privilegien, Belehnungen, Urteile oder sonstige Rechte schriftlich aufgezeichnet und beglaubigt wurden. Viele dieser Urkunden hatten eine langfristige praktische Funktion für ihre Empfänger. Wegen des Fehlens eines übergeordneten Registerwesens, etwa für Grundbesitz oder Zollrechte, musste im Konfliktfall die Urkunde vorgelegt werden, mit der die umstrittenen Rechte erworben wurden. Ein weltlicher oder geistlicher Herrschaftsträger musste demnach peinlich genau darauf achten, alle seine Urkunden parat zu haben, und das über Jahrhunderte hinweg, denn Rechte, die im Frühmittelalter erworben wurden, konnten durchaus noch im 15. Jahrhundert angezweifelt werden.

Sicherung von Herrschaftswissen

Die mittelalterlichen „Archive“ waren also vielfach nichts anderes als Speicher von Beweismitteln für rechtliche oder sonstige Konfliktfälle, die jeder Herrschaftsträger benötigte, letztlich also ein Herrschaftsinstrument zur Sicherung von Herrschaftswissen. Sie hatten damit eine rein praktische Funktion. Wenn Urkunden über Jahrhunderte sorgfältig verwahrt wurden, so geschah das nicht wegen ihres kulturellen Wertes oder für die Zwecke der historischen Forschung (beides sind moderne Erfindungen), sondern aus handgreiflichen Bedürfnissen der Politik, der Wirtschaft oder des Rechts heraus. Das bedeutet gleichfalls, dass solche Urkunden, die doch irgendwann ihren praktischen Wert verloren, auch vernichtet werden konnten und daher häufig der Forschung nicht mehr zur Verfügung stehen.

Den Umfang mittelalterlicher Archive darf man sich nicht allzu groß vorzustellen. Die Anzahl der aufzubewahrenden Urkunden war natürlich abhängig von der Größe und Bedeutung des jeweiligen Archivträgers. Doch auch bei größeren Herrschaften wurde nicht unbegrenzt und beliebig beurkundet. Dazu war angesichts des teueren Beschreibstoffs Pergament die Ausfertigung von Urkunden zu kostspielig.

Mittelalterliche Archive?

Von der Ordnungsstruktur mittelalterlicher Archive hat man nur vage Vorstellungen. Nicht selten finden sich zwar auf den Urkunden oder ihren Rückseiten Einträge von ,archivischer‘ Hand wie Signaturen oder Rubrizierungen (d. h. Kurzangaben zum Inhalt). Doch es fällt schwer, daraus ein klares Bild von der Ordnung der Stücke zu zeichnen. Bei kleineren und kleinsten Archiven liegt ohnehin die Vermutung nahe, dass das Wiederauffinden einzelner Stücke auch in einem weitgehend ungeordneten Zustand möglich war. Bei größeren Urkundenspeichern lässt sich eine chronologische Reihung und/oder eine Trennung nach Ausstellern, Rechtsgegenständen, betroffenen Orten usw. oft eher vermuten als beweisen.

Die Stücke wurden in Truhen, Kisten oder Kästen gelagert, die bei örtlich stabilen Herrschaftsträgern einen festen Platz etwa in einem Gewölbe hatten, bei wandernden auch transportabel waren – ein weiteres Argument dafür, die Archive klein zu halten. In unserem Zusammenhang, nämlich bei der Frage der Benutzung mittelalterlicher Urkunden, ist es jedoch letztlich belanglos, wie genau ein mittelalterliches Archiv ausgesehen hat. Zahlreiche grundlegende Veränderungen in den Jahrhunderten seitdem haben das Bild ohnehin verändert.

Wichtig ist der Grundgedanke des mittelalterlichen Archivwesens, der in veränderter Form noch immer fortlebt: Archive dienten als Speicher von Herrschaftswissen mit zunächst praktischen, rechtssichernden Zwecken und hatten sehr wenig mit Bestrebungen zu tun, Quellen für eine historische Forschung im modernen Sinne zu sichern.

Herrschaftswissen war Macht, und daher waren die Archive in der Regel geheim in dem Sinne, dass sie nur dem jeweiligen Herrschaftsträger selbst bzw. seinen Vertretern offen standen, während Fremde keinen oder nur stark beschränkten Zugang hatten. Daran änderte sich lange Zeit nichts.

2.2 Das Archiv im Aktenzeitalter: Spätmittelalter und Frühe Neuzeit

Ausweitung der Schriftlichkeit durch Papier

Zu tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitsweise und in den verwahrten Materialien kam es im Spätmittelalter. Seit dem 14. Jahrhundert löste in Deutschland das billigere Papier das Pergament als Standard-Beschreibstoff ab. Erst jetzt war es wirtschaftlich, mehr und mehr Informationen über die Urkunden und Verträge hinaus schriftlich zu fixieren und einer stetig wachsenden und sich stetig differenzierenden Verwaltung für ihre tägliche Arbeit bereitzustellen. Es entstanden sowohl Amtsbücher wie Protokolle, Register oder Rechnungsbücher, in denen systematisch Daten und Angaben gesammelt wurden, als auch Akten, in denen die internen Schriftstücke und die Schriftwechsel mit auswärtigen Stellen zusammengefasst wurden, die z. B. zu einer Entscheidung, einer Urkunde oder einem Vertrag geführt hatten und daher zu deren Verständnis wenigstens potenziell wichtig waren. Beides hatte wie die Urkunden einen praktischen Wert über die unmittelbare Entstehungszeit hinaus, etwa indem nicht nur eine Urkunde vorgelegt wurde, die eine bestimmte Abgabe konstituierte, sondern auch die Rechnungen, die belegten, dass diese Abgabe auch tatsächlich geleistet wurde. Solche Beweismittel spielten nicht zuletzt bei der Verbreitung des Römischen Rechts eine große Rolle, bei dem die Prozessführung vollständig auf Schriftlichkeit beruhte.

Wachsender Umfang von Archiven

Die Funktion der Archive der Herrschaftsträger änderte sich durch die vermehrte Entstehung von Schriftgut nicht wesentlich, sehr wohl aber ihr Aussehen. Immer weniger reichte ein Kasten oder eine Truhe zur Verwahrung eines vollständigen Archivs, so dass an die nun ortsfesten Verwaltungen ganze Archivräume angeschlossen werden mussten, die auch je nach Größe mit eigenem Personal versehen wurden. Hier setzen auch umfassende Ordnungssysteme und Erschließungsarbeiten ein, die zur Wahrung der Übersicht bei wachsenden Beständen unabdingbar waren.

Um Archive im modernen Sinne handelte es sich indes immer noch nicht, denn sie bestanden nicht als eigenständige Institutionen, sondern als Teil der Verwaltung mit einer dieser unmittelbar dienenden Funktion. Erst langsam im Verlaufe der Frühen Neuzeit trat mit der Entwicklung eines historiographischen Interesses ein weiterer Aspekt hinzu, der die Auswertung für die Herrschaftspraxis zunächst vorsichtig ergänzte, später dann mehr und mehr überlagerte und heute dominiert. Die Erkenntnis, dass aus überkommenen schriftlichen Quellen Geschichte geschrieben werden kann, diente zunächst vielfach dem gleichen Zweck wie das Handeln einer Verwaltung eines Herrschaftsträgers, nämlich der Legitimierung oder Absicherung von dessen Stellung etwa in Form einer dynastischen Historiographie, deren Verfasser zu diesem Zweck einen privilegierten Zugang zu dem ansonsten für Fremde geschlossenen Archiv erhielten. Erst nach und nach regte sich dann so etwas wie eine unabhängige oder auch unmittelbar zweckfreie Forschung.

Kulturelle Zwecke

Auch wenn fast alle Archive der Frühen Neuzeit Herrschaftsarchive waren, die als Privatbesitz der Herrschaft behandelt wurden, so gewann doch nicht zuletzt durch das Gedankengut der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Idee der Verwahrung historischer Quellen aus rein kulturellen Zwecken mehr und mehr Raum. Der Zugang zu Archivalien blieb aber nach wie vor von obrigkeitlicher Genehmigung abhängig, und Schriftgut, das keinen Wert mehr zu haben schien, konnte nach Belieben vernichtet werden (etwa um Platz für jüngere Akten zu schaffen).

2.3 Archive zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Französische Revolution

Am Ende der Frühen Neuzeit, in der Zeit der Französischen Revolution und in den Napoleonischen Kriegen, kreuzten sich dann mehrere Entwicklungen, die der Entstehung des modernen Archivwesens im engeren Sinne den Weg ebneten. Dass im Zuge von Unruhen oder Aufständen Untertanen herrschaftliche Archive stürmten oder auch vernichteten, um die Möglichkeiten des Herrschers einzuschränken, im Rechtsstreit durch das Vorlegen oder Zurückhalten schriftlicher Beweise im Vorteil zu sein, war schon lange zu beobachten. In der Französischen Revolution wurde – obschon viele Archive auch gezielt vernichtet wurden – dieser herrschaftliche Vorteil erstmalig in Frankreich mit einem Gesetz unterlaufen, das allen Bürgern Zugang zu den ehemals herrschaftlichen und staatlichen Archiven garantierte, nicht zum Zwecke der historischen Forschung, sondern zur Sicherung eines gleichen Informationsstandes und damit gleichen Rechts. Archivbenutzung als Bürgerrecht ist tatsächlich bis heute eine wesentliche Säule der Demokratie, da auf diese Weise staatliches Handeln überprüfbar und transparent wird. Es kann daher kaum verwundern, dass die Archivöffnung nur von kurzer Dauer war und im Zuge der Restauration des 19. Jahrhunderts schnell wieder rückgängig gemacht wurde. Die Idee des freien Archivzugangs als Bürgerrecht allerdings war in der Welt und begleitete die weitere Entwicklung des Archivwesens.

Neue Sichten auf alte Quellen

Gleichzeitig entstand der Gedanke der unmittelbar zweckfreien Archivierung historischer Quellen – nicht als Wissensspeicher der Verwaltung, sondern für die Forschung bzw. in Verfolgung kultureller Ziele. Auch dieser moderne Benutzungszweck begleitete die weitere Entwicklung des deutschen Archivwesens. Er schuldet sich nicht zuletzt der Romantik des 19. Jahrhunderts, die die Vergangenheit und ihre Zeugnisse verklärte.

Die Entwicklung wurde jedoch zunächst von weitaus praktischeren Problemen bestimmt. Schriftlichkeit und Umfang der Verwaltung hatte seit dem Spätmittelalter immer weiter zugenommen, so dass ernsthafte Platzprobleme in den Archiven die Folge waren. Gleichzeitig betrachtete der Rationalismus der Aufklärung überkommene, im Mittelalter fußende Rechte zunehmend als alte Zöpfe, die eine Modernisierung behinderten. Daher nahm auch die Wertschätzung bzw. die praktische Bedeutung eines Beweises an Hand von mittelalterlichen Diplomen ab, von denen überdies zahlreiche mit modernen hilfswissenschaftlichen Methoden als Fälschungen entlarvt wurden. Auch die praktische Bedeutung von älteren Akten oder Amtsbüchern sank mit dem Verstreichen von Jahrhunderten seit ihrer Entstehung, so dass große Teile der Archive praktisch wertlos waren und daher aus Verwaltungssicht hätten vernichtet werden können.

Mediatisierung

Diese Entwicklung beschleunigte sich durch die politischen Veränderungen. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verlor die Masse der traditionellen Herrschaftsträger in Deutschland ihre Selbständigkeit an ihre größeren Nachbarn, die schließlich die Staaten des Deutschen Bundes stellten. Diese Staaten übernahmen mit Land, Leuten und Besitz der aufgelösten Herrschaftsträger auch die Archive, die dadurch vielfach endgültig ihre praktische Bedeutung einbüßten. Nach der Säkularisation war es für die Verwaltung meist unerheblich, ob ein Kloster einst Abgaben von einem bestimmten Dorf eingezogen hatte oder nicht.

Die neuen Staaten hatten also ein doppeltes Problem sowohl mit ihren wachsenden eigenen Archiven als auch mit den zahlreichen kleineren Archiven übernommener Herrschaftsträger. Aus denen konnten die laufenden oder jüngsten Vorgänge herausgezogen und in der eigenen Verwaltung untergebracht werden. Der Rest war indes überflüssig und kostete Geld, indem er Räume belegte und Personal zu seiner Verwaltung benötigte. Für das weitere Vorgehen entscheidend waren dann die Verhältnisse vor Ort, nicht selten auch der Zufall. Vieles wurde direkt vernichtet, nicht anders übrigens als bei den Bibliotheken der Klöster, die die Stürme der Jahrhunderte überstanden hatten, um nun zum Teil öffentlich verbrannt zu werden, da man der Büchermassen nicht mehr Herr wurde.

Wo sich indes Persönlichkeiten fanden, die den kulturellen Wert der Überlieferung zu würdigen wussten, sicherte man zumindest Teile der nur noch unter historischen Aspekten bedeutsamen Überlieferung. In welchem Umfang dies geschah und anhand welcher Kriterien die Auswahl durchgeführt wurde, war wiederum abhängig von den örtlichen Verhältnissen.

Trennung von Registratur und Archiv

Als Ergebnis besaßen die Staaten im frühen 19. Jahrhundert mehr oder minder große Bestände von Urkunden, Amtsbüchern und Akten, die nur noch der historischen Forschung im weitesten Sinne dienten. Es lag daher nahe, die die Verwaltungen davon zu entlasten und sie in eigene Institutionen zu überführen. So entstand das moderne Archivwesen durch die Trennung zwischen Registratur, d. h. der Stelle einer Verwaltung, die deren laufende Vorgänge führt, und Archiv, d. h. der Stelle, die diese Vorgänge übernimmt, wenn sie geschlossen wurden und allenfalls noch sporadisch für Verwaltungszwecke benötigt werden.

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