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5. Dezember

Weihnachten in der Wüste

Weihnachten in der Wüste. Davon will ich erzählen. Es ist schon einige Jahre her. Und zugegebenermaßen war es das außergewöhnlichste Weihnachtsfest, das wir je erlebt haben. Weihnachten in der Wüste.

Alle Jahre wieder

In den letzten Jahren hat sich bei uns eine richtige Weihnachtsroutine herausgebildet. An Heiligabend, nachdem der Weihnachtsbaum endlich gekauft und geschmückt ist, laden meine Frau Elke und ich nach dem Nachmittagsgottesdienst immer Leute zu uns ein. Meist sind es um die zwanzig Personen, die mit uns feiern – Singles, junge Ehepaare und oft auch ausländische Studenten, die über die Feiertage nicht in ihre Heimat fahren können. Meist sind Studenten aus Afrika und den Vereinigten Staaten dabei. In einem Jahr hatten wir vier chinesische Austauschprofessoren zu Besuch, ein anderes Mal Türken, Franzosen und Australier. Immer wieder laden wir auch am Heiligabend selbst noch Leute ein, die wir auf der Straße treffen, und die sonst nirgendwo den Heiligen Abend feiern würden. Manche Freunde aus Marburg und Umgebung kommen jedes Jahr, weil es ihnen so gut gefällt.

Nach der Begrüßung und einer Vorstellung aller Gäste singen wir unzählige Weihnachtslieder und lesen die Weihnachtsgeschichte in verschiedenen Sprachen. Dann geht es weiter mit gutem und ausführlichem Essen, zu dem viele beigetragen haben. Dann folgen noch mehr Lieder und schließlich die Bescherung. Dann werden die Spiele ausgepackt, und ein wahres Spielfieber ergreift uns. Doch halt, da ist ja noch die Christmette um elf Uhr, bei der sich viele Freunde aus der Gemeinde versammeln, um Gott zu loben und das Wunder der Weihnacht zu feiern. Manche von ihnen lassen sich dann noch zu uns nach Hause einladen, und wir feiern und spielen bis in die frühen Morgenstunden. So feiern wir seit vielen Jahren mit Begeisterung Weihnachten. Nach dem Aufräumen und einem ausgiebigen Schlaf findet dann am ersten Weihnachtstag der zweite Teil unserer Weihnachtsroutine statt. Und die besteht aus Verwandtenbesuchen. Keiner darf vergessen werden, und so machen wir die große Verwandtenrunde am ersten und zweiten Weihnachtstag. Viele Kilometer, viel Essen und viele Geschenke müssen noch bewältigt werden. Wenn wir dann wieder zu Hause sind, ist Weihnachten immer noch nicht vorbei. Denn jetzt laden wir alle erwachsenen »Kinder« unserer Lebensgemeinschaft, die inzwischen in der ganzen Welt verstreut sind, zu uns zu einem festlichen Abend ein. Sie kommen aus England, Schweden, Frankreich, Südafrika und allen möglichen Orten in Deutschland, um einander zu begegnen und zu erzählen, wie es ihnen im letzten Jahr ergangen ist.

Das ist unsere Weihnachtsroutine, mit leichten Veränderungen Jahr für Jahr gleich – und jedes Mal ein Höhepunkt des Jahres.

Weihnachten ganz anders

Doch in diesem Jahr, von dem ich erzählen will, war alles anders. Elke und ich hatten beschlossen, schon im Dezember in den Sudan zu fahren, das Land, in dem ich seit vielen Jahren Sprachforschungen betreibe. Im muslimisch geprägten Norden des Landes ist von Weihnachtsstimmung kaum etwas zu spüren. Schon das Wetter ist ganz anders als das, was wir hier in Mitteleuropa mit Weihnachten verbinden. Strahlende Sonne und Temperaturen von zwanzig bis dreißig Grad statt dunkler Abende und Schneeflocken. Statt den vertrauten Klängen der Weihnachtslieder erfüllt der Ruf des Muezzin von den Moscheen die Luft. Nichts erinnert daran, dass die Christenheit sich anschickt, das Fest des Erlösers zu feiern.

Dieses Mal wollten wir das hohe Fest also dort feiern, in der Wüste im Nordsudan. Seit vielen Jahren lebten dort deutsche Krankenschwestern, die von der Evangeliumsgemeinschaft Mittlerer Osten ausgesandt waren, einer Mission, die schon über hundert Jahre den Menschen in dieser Gegend medizinische und geistliche Hilfe zukommen lässt. Wir waren schon von Khartum, der Hauptstadt des Landes, nach Dongola, der Hauptstadt der Nordprovinz, gefahren. Dongola war damals noch ein kleiner Ort am Rande der Wüste mit insgesamt nur zwei Asphaltstraßen. Dort wohnten und lebten zwei deutsche Krankenschwestern, Ursula und Gertrud, die einzigen Ausländer in dieser kleinen Stadt zwischen Nil und Wüste. Doch wir wollten noch weiter in den Norden. Abri, ein kleines Dorf mit einem kleinen Krankenhaus, mitten in die Wüste gebaut, war unser Ziel. Dort lebten und arbeiteten zwei weitere Krankenschwestern, Margarete und Barbara.

Der Weg zwischen Dongola und Abri ist eigentlich nicht weit, ungefähr zweihundert Kilometer. Aber so, ohne Straße, auf selbstgesuchten Wegen durch die Wüste, mussten wir mit einer vollen Tagesreise rechnen. Außerdem gab es längst nicht an jedem Tag der Woche eine Reisemöglichkeit. Das einzige Transportmittel waren die alten, massiven Lastwagen, die mit ihren dicken Reifen in der Lage waren, über Stock und Stein, über Sandpisten und Dünen, über felsige Wegstrecken und Schotterpisten zu fahren. Schließlich fanden wir einen solchen Lastwagen, der durch die Wüste nach Norden fahren wollte.

Ungewisse Fahrt

Zuerst mussten wir über den Nil übersetzen. Brücken gab es nicht, und die alten Fähren, die in der Lage waren, einen Lastwagen zum anderen Ufer hinüberzubringen, konnten nur bei Windstille fahren, da sonst die Wellen das Schiff zum Kentern bringen konnten. Die Fähre war auch der Grund, warum wir jetzt erst fuhren, am Tag vor Heiligabend. Der Lastwagen wollte nämlich schon zwei Tage vorher fahren. Doch am ersten Tag war die Fähre kaputt, und wir mussten unverrichteter Dinge wieder zu Gertrud und Ursula zurückkehren. Am zweiten Tag war die Fähre zwar repariert, aber der Wind und die Wellen auf dem Nil waren zu stark. Erst am dritten Tag gelang es dem Lastwagen, auf das Ostufer überzusetzen. Es war schon um die Mittagszeit, als wir schließlich Richtung Norden fuhren. Hoch oben auf der offenen Ladefläche saßen wir, oben auf der Ladung, zusammen mit vielen Sudanesen, die ebenfalls in die Dörfer im Norden fuhren. Das Ganze war ohnehin etwas gewagt, weil wir nicht wussten, ob wir überhaupt noch am nächsten Tag, am Heiligabend, in Abri ankommen würden. Denn schließlich fuhr dieser Wagen nur bis Kerma, etwa ein Drittel der Wegstrecke. Dort hofften wir, einen anderen Wagen zu finden.

Als wir in Kerma ankamen, war es schon dunkel. Von einem anderen Lastwagen weit und breit keine Spur. So mussten wir uns wohl oder übel in die kleine Herberge begeben, ein offener Hof, umgeben von ein paar Lehmmauern. Weil wir ausländische Gäste waren, bekamen wir den einzigen Raum angewiesen, ein offenes Zimmer mit Lehmwänden und Strohdach, und durften sogar auf echten Holzbetten schlafen. Noch hatten wir die Hoffnung, dass ein anderer Lastwagen vorbeikommen würde, der uns weiter nach Norden mitnehmen würde, pünktlich zum Heiligen Abend in Abri.

Um Mitternacht gab es auf einmal Lärm und Rufe. Wir wurden geweckt: »Los, los, da ist ein Wagen, mit dem ihr fahren könnt!« Wir kletterten auf die Ladefläche und suchten uns einen Platz. Einige andere Passagiere saßen schon oben auf dem Wagen, eingehüllt in ihre Turbane und Decken. Eine kranke Frau lag ausgestreckt in der Mitte. Weiter ging es, durch die Dunkelheit und die kalte Wüstennacht, die durch den pfeifenden Wind noch kälter wurde. Stunde um Stunde mahlten sich die Räder durch den Sand. An Schlaf war nicht zu denken, weil der Wagen hin- und her schaukelte und wir Mühe hatten, uns an den geladenen Gegenständen, auf denen wir saßen, festzuhalten, um nicht vom Wagen herunterzufallen.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit erschienen endlich die ersehnten ersten Grautöne am nächtlichen Himmel. Langsam kam mehr und mehr Farbe in den östlichen Himmel und wir konnten unsere Umgebung deutlicher sehen. Die anderen Fahrgäste waren genauso eingehüllt wie wir, und die kranke Frau lag ausgemergelt und bewegungslos zu unseren Füßen. Sie war auf dem Weg vom Krankenhaus in Dongola zurück in ihr Dorf. Das war also der 24. Dezember, der Heiligabend!

Tränen am Morgen

Als die Sonne aufging, erreichten wir ein kleines Dorf, wo wir abstiegen, um uns zu strecken und die Beine zu vertreten. Die Frauen aus dem Haus, wo wir hielten, brachten den Fahrtgästen Tee, wie es der sudanesischen Gastfreundschaft entspricht. Dankbar setzten wir uns auf den Sand, lehnten uns an die Hauswand und genossen die wärmende Sonne und den starken, süßen Tee.

Auf einmal gellte ein Schrei durch die Luft. Eine Frau, wohl eine Verwandte der Kranken, war mit ihr oben auf der Ladefläche geblieben, und stimmte das Klagegeschrei an. Sofort fielen alle anderen Frauen in das Heulen und Schreien mit ein. Aus allen Häusern kamen sie herbeigelaufen, rissen sich an den Haaren, schlugen sich auf die Brust und warfen Sand auf ihre Kleider. Die Frau, die durch die Nacht hindurch zu unseren Füßen gelegen hatte, war gestorben. Ihr Ehemann saß direkt neben uns im Sand. Anders als die Frauen stimmte er nicht in das Klagegeschrei ein. Er sagte nur leise: »Allahu akbar!« – »Gott ist größer!« Eine Träne lief ihm über die Wange. Dann trank er seinen Tee.

Das war also unser Weihnachten! Nichts von Festtagsstimmung, kein Lametta, keine Kerzen und kein Weihnachtsschmuck, keine Lieder und kein Gebäck. Das war doch kein Weihnachten! Oder doch?

Unterwegs mit schlechter Nachricht?

Nach kurzer Pause fuhren wir weiter, oben auf dem Wagen, zusammen mit der toten Frau und den anderen Fahrgästen. Von Dorf zu Dorf ging es, entlang dem Nil. Und überall, wo wir hinkamen, erschallte das Klagegeschrei vom Wagen herunter. Überall kamen die Frauen des Dorfes herbeigelaufen und stimmten in das Klagen ein. Hier waren die Menschen alle irgendwie miteinander verwandt, und so betraf der Todesfall die meisten von ihnen. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht.

Aber es war doch Heiligabend, der Tag, an dem die beste aller Nachrichten zum ersten Mal die Menschen erreichte: »Euch ist heute der Heiland geboren!« Und es waren doch genauso einfache Menschen wie die, mit denen wir hier unterwegs waren, denen die Himmelsboten damals diese Botschaft verkündigten. Und wir mussten an das Versprechen aus der Bibel denken, das immer wieder in der Weihnachtszeit in den Kirchen vorgelesen wird: »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da sitzen im finstern Land, strahlt es hell! Denn euch ist ein Kind geboren …«

Genau in diese Welt mit ihren Dunkelheiten, mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer, mit ihrer Krankheit und ihrem Tod, da hinein gehört die Weihnachtsbotschaft. Wo, wenn nicht hier, macht Weihnachten wirklich Sinn?

Zwiebeln und Tomatensuppe aus der Tüte

Es war dann kurz vor Einbruch der Dunkelheit, als wir endlich am Haus der beiden Krankenschwestern eintrafen. Margarete und Barbara hatten kaum noch zu hoffen gewagt, dass wir ankommen würden. Ein Telefon gab es damals noch nicht in ihrem einfachen Haus und auch keinen Strom. Und doch konnten wir jetzt Weihnachten feiern! Viel gab es nicht zu kaufen auf dem kleinen Markt von Abri. Fleisch war schon seit Wochen nicht mehr angeboten worden. So bestand unser Festmahl aus einer Tütensuppe, die sie im Sommer aus Deutschland mitgebracht hatten, gebratenen Zwiebeln, etwas Käse und Brot. Und doch war es ein köstliches Mahl, gerade nach der langen Reise. Und wieder sangen wir die Weihnachtslieder, lasen den Bericht von der Geburt von Jesus, den Lukas in seinem Evangelium niedergeschrieben hat, und beteten miteinander. Draußen gingen die Sterne auf, wie damals in der ersten Heiligen Nacht. Und wie damals die Hirten auf dem Feld hörten wir in unseren Herzen die Worte des Engels: »Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«

Weihnachten in der Wüste

Dieses Weihnachtsfest in der Wüste wird uns für immer unvergesslich sein. Fern von allem, was sonst Weihnachten für uns ausmacht, und fern von dem, was auch häufig den wahren Sinn von Weihnachten überdeckt, erlebten wir unmittelbar, worum es bei Weihnachten wirklich geht.

Das Licht scheint in der Finsternis.

Die Freude überwindet die Trauer.

Das Leben besiegt den Tod.

Jesus, der Retter, ist da!

Dass diese Hoffnung, diese Freude und diese Wahrheit allen Menschen gilt, ob sie nun im Sudan leben oder in Deutschland, in Russland oder Amerika, in Asien, Afrika, Australien, Europa oder sonst wo auf der Welt, das ist der Grund dafür, dass wir immer und überall Weihnachten feiern können.

Auch in der Wüste. Denn da, wo die Weihnachtsbotschaft uns erfasst, wird aus der Wüste unseres Lebens ein blühender Garten.

ROLAND WERNER

Weihnachtswundernacht 2

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