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1. Dezember

Wirklich in Bethlehem

Die Idee, Weihnachten in Bethlehem zu feiern, war ihr im vergangenen Jahr gekommen. Am Heiligen Abend war der Schnee plötzlich in dicken weißen Flocken gefallen und hatte alles mit Weiß bedeckt. Sie hatte am Fenster gestanden und fasziniert zugesehen, wie die Welt heller geworden war. Und mit dem Schnee war die Frage aufgetaucht, ob es im Stall damals eigentlich auch kalt gewesen war. Ob die Bilder stimmten, die die Hirten am Feuer und mit Wolldecken zeigten. Der Atem der Tiere an der Krippe? Maria, die sich in ein warmes Tuch hüllte? Sie hatte den Bildern aus ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und ihre Frage am Ende so auf den Punkt gebracht: Hatte das Jesuskind nun gefroren oder geschwitzt?

Niemand in ihrem Umfeld hatte ihre Frage überzeugend beantworten können. »Ich war doch noch nie da«, hatte ihr Vater nur gesagt. Ein paar kleine Ausflüge mit dem Laptop hatten ihr zwar schnell ein paar Informationen geliefert: dass es im August sehr heiß war in Israel und es im Dezember nachts kalt werden konnte, Bethlehem aber von einem deutschen Winter weit entfernt war. Doch sie hatte gemerkt, dass ihr solche Fakten nicht mehr reichten. Die Idee einer Reise nach Bethlehem hatte sie längst in ihren Bann gezogen. Sie wollte es selbst erleben. Den Sternenhimmel sehen. Den Winter in Bethlehem erleben. Weihnachten dort feiern, wo alles angefangen hatte.

Und jetzt? Sie hatte die Warnungen in den Wind geschlagen. Die Ängste ihrer Mutter ignoriert. »Das Land ist gefährlich. Politisch unsicher. Warum musst du dir ausgerechnet so ein Ziel aussuchen? Denk doch auch an uns.« Sie hatte versprochen, vorsichtig zu sein, über die Nachrichten im Fernsehen hinweggehört und irgendwann gar nicht mehr eingeschaltet. Sie hatte einen Flug gebucht und einen Rückflug drei Wochen später. Einen Reiseführer gekauft. Ein Zimmer in einem der vielen Gästehäuser gebucht. Ihren Rucksack gepackt. Und war abgereist.

Zum wiederholten Mal kamen ihr die Tränen. Sie war gut gelandet. Das Barometer am Flughafen in Tel Aviv hatte um zehn Uhr morgens vierzehn Grad gezeigt. Der Himmel war blau. »Welcome to the Holy Land«, hatte es überall geheißen, und sie hatte den Eindruck, etwas Besonderes zu erleben. Sie war zunächst mit einem Sammel-Taxi nach Jerusalem gefahren, zusammen mit den unterschiedlichsten Typen: orthodoxen Juden, Arabern, Touristen. Von dort aus hatte sie einen Bus nach Bethlehem genommen. Romantisch oder weihnachtlich hatte es keine Sekunde lang gewirkt. Sondern abgeschottet. Verlassen. Vergessen. Staubig. Öffentliche Plätze und Durchgänge zwischen den Häuserblocks waren teilweise abgesperrt und wurden von Polizisten kontrolliert. Nach ein paar Stunden schon hatte sie zum ersten Mal gedacht, dass es ein Fehler gewesen war, hierhergekommen zu sein.

In ihrer Unterkunft war sie der einzige Gast in der ersten Etage. Am Morgen beim Frühstück traf sie manchmal ein paar andere Touristen. Ihre Gastgeber erzählten ihr, wie es gewesen war, bevor die Mauer gebaut worden war. »Ausgebucht waren wir. Zu dieser Zeit im Jahr immer. Advent und Weihnachten machten wir gute Geschäfte.« Sie boten ihr Tee an und Feigenkekse und unterhielten sich gerne mit ihr. Angela und John hätten ihre Eltern sein können. Sie fühlte sich sicher bei ihnen. Sie gaben ihr Tipps und schickten sie zu Josef in die Werkstatt, zu Haruns Olivengeschäft, zu Ibrahims Restaurant und gaben ihr die Visitenkarte von einem Taxifahrer.

Sie hatte ein paar Mal die Geburtskirche besucht und in Cafés Falafel und Hummus gegessen. Sie hatte Christen, Muslime und Juden kennengelernt. Sie war zwei Mal nach Jerusalem gefahren, um die heilige Stadt zu erkunden, am Grenzübergang war man immer freundlich zu ihr gewesen. In Bethlehem war sie stundenlang durch die vielen Souvenir-Läden gegangen. Dabei hatte sie Josef kennengelernt und ihm beim Schnitzen von Krippenfiguren zugesehen. Er hatte früher einmal an die zwanzig Angestellte gehabt. Jetzt war er allein im Laden und machte gerade einmal so viel Umsatz, dass es für seine eigene kleine Familie reichte. Warum war sie hier?

Letzte Woche hatte sie Olivenöl gekauft, und der Besitzer des kleinen Ladens und seine Frau hatten ihr frischgebackenes Brot angeboten, dazu Salz und Öl zum Probieren. Sie hatten eine Tochter, die zwanzig war wie sie und gerade in den USA studierte, morgen aber für die Feiertage nach Hause kommen würde. Sie fragte, hörte interessiert zu. »Einige unserer Olivenbäume stehen hinter dem großen Zaun, abgeschnitten von uns. Andere sind weiter zugänglich. Wenn du magst, gehen wir einmal hin. Nach dem Fest, dann ist es nicht so gefährlich.« In einer Ecke des kleinen Shops hatten sie stundenlang zusammen gesessen und erzählt und viel über Traditionen gesprochen. Als sie immer mehr Fragen gestellt hatte, weil sie wirklich wissen wollte, wie palästinensische Christen die Geburt von Jesus feierten, hatten Clara und Harun sie spontan eingeladen: »Feier doch mit uns. Wir gehen in die Kirche und dann essen wir zusammen. Malaika wird sich sicher über einen Gast in ihrem Alter freuen. Ein paar andere Christen kommen auch. Und auch ein paar Nachbarn.« Noch immer war ihr nicht weihnachtlich zumute, aber immerhin wusste sie jetzt, wo sie den besonderen Abend verbringen würde.

Gestern Morgen hatte es um sieben Uhr früh einen Selbstmord-Anschlag an einem der Grenzübergänge gegeben. Josefs Bruder Jakob war in die Holzwerkstatt gestürmt. Überrascht hatte Josef gefragt: »Du wolltest doch nach Jerusalem. Warum bist du zurück? Was ist passiert?« – »Ein Anschlag«, hatte Jakob gesagt, sich auf einen Stuhl fallen lassen und atemlos erzählt: »Alle sind nervös wegen der Feiertage. Alle. Die Soldaten waren besonders streng. Wählerisch. Es war eine Frau. Jung. Hübsch. Sie stand ein paar Meter vor mir in der Schlange.« Er schluckte. »Sie war schwanger. Sie jammerte, sie müsse zum Arzt. Man hatte sie schließlich durchgewunken. Einen Moment später explodierte die Bombe.« Als Jakob noch erzählte, war sie in Schluchzen ausgebrochen und hatte sich lange nicht beruhigen können. Diese Reise war ein einziger großer Fehler gewesen. Weihnachten jedenfalls hatte es ihr nicht nähergebracht.

Und jetzt war es so weit. Sie waren alle da. Ihre neuen Bekannten: Clara hatte eine Schürze um und strich sich die Haare aus der Stirn. Es roch nach frischem Brot, Knoblauch und Lamm. Josef war mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern zu Gast. Neben ihr saß Malaika. Harun stimmte ein Lied an. »O come, all ye faithful – Herbei, oh ihr Gläubigen …« Sie summte mit. Angela und John kamen und nickten freundlich in die Runde und stimmten mit ein. Sie sangen drei Strophen. Dann sah Harun auffordernd in die Runde, und sie sangen weiter. Aus »O come, let us adore him – O lasset uns anbeten« wurde im nächsten Refrain »O come, let’s not ignore it – Lasst es uns nicht übersehen. Wir dürfen nicht gleichgültig sein. Du sollst dich nicht gewöhnen.« Aus dem Weihnachtslied war ein Protestlied zur Befreiung geworden. Dann stand Clara auf und las die Weihnachtsgeschichte vor. »Es begab sich aber …«

Sie hörte zu und übersetzte innerlich die Verse ins Deutsche. Und dann sah sie es mit anderen Augen. Die Hirten – da waren Clara und Harun mit ihren Olivenbäumen. Der Stall – da waren Angela und John mit ihrer Gastfreundschaft. Da war Josef, der treu für seine Familie sorgte. Da war eine Schwangere, die harmlos aussah und sich in die Luft sprengte. Und da war Maria, der niemand zugetraut hatte, mit ihrem Kind die Welt zu verändern. Da war Malaika, ihr Name bedeutet Engel. Und Angela mit derselben Namensbedeutung. Da war ein Lied, das von Gottes Ehre sang und vom Frieden und das ein Loblied war und ein trotziges Protestlied zugleich. Und da waren die Kinder, die voller Hoffnung waren, voller Lebensfreude und Erwartungen. Geschenke gab es auch. Kein Gold, keinen Weihrauch, aber frisches, duftendes Brot. Am Himmel über ihnen leuchteten die Sterne von Bethlehem. Und sie selber war da. »Willkommen, Johanna. Danke, dass du uns besucht hast. Besuch zu bekommen ist etwas sehr Weihnachtliches«, sagte Clara und umarmte sie. Die Tränen kamen wieder, aber diesmal musste sie dabei lächeln.

Und Jesus? Hatte er geschwitzt oder gefroren? Wie auch immer. Beides wohl. Jedenfalls war er an einem Ort geboren worden, der wirklich war. Mitten in dieser Welt. Nicht weitab von der Tagespolitik und der Gefahr, sondern mitten im besetzten Gebiet. Er wusste, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und musste entsetzliches Heimweh gehabt haben. In diesem Moment wusste sie sich ihm so nah wie noch nie. Und sie war glücklich, Weihnachten wirklich in Bethlehem zu feiern.

CHRISTINA BRUDERECK

Weihnachtswundernacht 2

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