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1.2 Ausstellungsgeschichten. Ansätze der Historisierung im Kunstfeld
Luisa Ziaja

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Die systematische Historisierung des Kuratierens und Ausstellens ist ein relativ rezentes Phänomen (kunst-)wissenschaftlicher Forschung. Noch in den späten 1990er-Jahren spricht Mary Anne Staniszewski in ihrer wichtigen Analyse moderner Ausstellungspraktiken mit dem Titel The Power of Display. A History of Exhibition Installations at the Museum of Modern Art von einer kollektiven Amnesie der eigenen Geschichte im kuratorischen Diskurs. Der ephemere Charakter des Mediums Ausstellung allein vermag dieses Vergessen nicht zu erklären. Vielmehr führt Staniszewski es auf die Disziplin der Kunstgeschichte zurück, die mit ihrem individualisierenden Blick auf einzelne Kunstwerke oder Œuvres deren Präsentationskontexte – und damit den überwiegenden Teil ihrer unmittelbaren Rezeption in einer Konstellation mit anderen Exponaten – zumeist ausblendet.15

Dass die Geschichte von Ausstellungen lange nicht selbstverständlich in die Kunstgeschichte integriert wurde, sondern als nicht kompatibel, sogar strukturell widersprüchlich galt, zeigt die französische Kunsthistorikerin Judith Souriau in ihrem 2010 publizierten Vortrag L’histoire des expositions: Une nouvelle histoire de l’art?.16 Vor dem Hintergrund einer künstlerischer Reflexion des Ausstellungsformats seit den histo­rischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und seiner steigenden Bedeutung als konstituierender Faktor von Kunst an sich, schlägt Souriau vor, Ausstellungsgeschichte als Meta-Geschichte der Kunst zu begreifen und zu untersuchen.17 Weniger zurückhaltend

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benennt Florence Derieux dieses veränderte Verhältnis in ihrer Einleitung zu einer Anthologie über das kuratorische Werk von Harald Szeemann: „It is now widely accepted that the art history of the second half of the 20th century is no longer a history of artworks, but a history of exhibitions“ – um gleich darauf auch das damit einhergehende Desiderat anzusprechen: „However, this critical history still largely remains to be written.“ 18 Die einflussreichen KunsttheoretikerInnen Yve-Alain Bois, Benjamin H. D. Buchloh, Hal Foster und Rosalind Krauss etwa tragen dieser Entwicklung in ihrem 2004 erschienenen umfassenden Überblickswerk Art Since 1900 dahingehend Rechnung, als sie Ausstellungen – mit zunehmender Dichte ab Mitte des Jahrhunderts – in ihr Narrativ einweben.19 Trotz der kontextualisierenden Herangehensweise bleibt der Fokus aber auf der Kunst und werden Ausstellungen kaum und nicht systematisch als ästhetisches Medium in its own right behandelt.

Ansätze einer solchen Perspektivierung finden sich bereits in der von dem Galeristen Bernd Klüser und der Kunstberaterin Katharina Hegewisch herausgegebenen Anthologie Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts (1991), die formal und inhaltlich prototypische Ausstellungen zwischen 1899 und 1986 behandelt, sowie in Bruce Altshulers zentraler Publikation The Avant-Garde in Exhibition (1994), die in ebenfalls chronologischer Abfolge 13 Fallstudien zu Gruppenausstellungen der Avantgarde zwischen 1905 und 1969 umfasst. Ab den 1990er-Jahren kommt demnach ein neues Nachdenken über Ausstellungen in Gang, das die Notwendigkeit einer historischen Verortung erkennt.20 Ausdruck findet dies neben den erwähnten Studien, zu denen auch Staniszewskis Power of Display von 1998 zu zählen

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ist, in einem Sammelband mit dem sprechenden Titel Thinking about Exhibitions 21, der rasch zu einem Standardwerk der Ausstellungstheorie avanciert. So macht er unter anderem den bahnbrechenden Aufsatz The Exhibitionary Complex (1996 [1992]) des britischen Soziologen Tony Bennett einem breiteren Fachpublikum zugänglich. Die von Reesa Greenberg, Bruce W. Ferguson und Sandy Nairne zusammengestellte Anthologie zeichnet sich durch einen grundlegend interdisziplinären Zugang aus und versammelt Beiträge von TheoretikerInnen und PraktikerInnen aus den Feldern Kunst, Cultural Studies, Philosophie, Ethnologie, Soziologie, Literaturwissenschaft und Museologie.

Im Unterschied zur akademischen Kunstgeschichte, die sich dem Thema recht zögerlich annähert, wird hier ein Erkenntnisinteresse in unterschiedlichen Disziplinen deutlich, das auf die stetig wachsende Bedeutung von Ausstellungen als das Format und Medium kultureller Produktion in einem globalen Zusammenhang reagiert. Mit dem Ausstellungsboom der späten 1980er- und 1990er-Jahre, der sich unter anderem am sprunghaften Anstieg international ausgetragener Biennalen ablesen lässt, geht die Gründung erster Curatorial-Studies-Programme einher, die einen Professionalisierungs- und Theoretisierungsschub im Bereich des Ausstellungmachens auslösen.22 Das Desiderat ausstellungshistorischer Forschung aus der Perspektive der Praxis wird damit einmal mehr virulent. Angesichts der überschaubaren Literatur zur Geschichte des Kuratierens und Ausstellens findet die Auseinandersetzung vielfach auf der Ebene einer Oral History involvierter AkteurInnen und ZeitzeugInnen statt, die auch als ReferentInnen in kuratorischen Ausbildungen eine zentrale Rolle spielen. Manifest wird diese erzählte Geschichte im publizistischen Genre des Interviewbands, einem scheinbar voraussetzungslosen, niederschwelligen Format der Wissensgenerierung und -vermittlung. Als der Kurator Hans Ulrich Obrist 2008 eine solche Sammlung von elf Interviews mit verdienten KollegInnen unter dem etwas irreführenden Titel A Brief History of Curating veröffentlicht, wird die Problematik dieses Zugangs deutlich, handelt es sich doch um sehr subjektive, oftmals anekdotische und letztlich disparate Narrative. Wie Simon Sheikh kritisch angemerkt hat, konstruiert Obrist hier einen Kanon von – im Übrigen überwiegend männlichen – PionierInnen im kuratorischen Feld und impliziert sich selbst als direkten Nachkommen dieser Generation.23 Die

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2000er-Jahre verzeichnen aber auch eine Reihe neuer Arbeiten, die auf Studien der vorangegangenen Dekade aufbauen: So publiziert der Kunsthistoriker und Kurator Bruce Altshuler 2008 den ersten Teil seines auf zwei Bände angelegten Überblickswerks Salon to Biennial – Exhibitions That Made Art History, der die Periode von 1863 bis 1959 umfasst. Dabei erweitert und systematisiert Altshuler die in seinem Buch von 1994 getroffene Auswahl einflussreicher Ausstellungen und erschließt in 24 Case Studies zum Teil erstmals (wieder) veröffentlichtes Quellenmaterial wie Ankündigungen, Ausstellungsansichten und Auszüge aus Korrespondenzen, begleitenden Publikationen und zeitgenössischen Kritiken. Er legt damit eine nicht zu unterschätzende Grundlage für weiterführende Forschungsarbeiten und zeigt insbesondere in Hinblick auf den methodischen Zugang zur Geschichtsschreibung von Ausstellungen die Wichtigkeit des Quellenstudiums auf.

Des Weiteren ist die von Charles Esche und Mark Lewis initiierte Schriftenreihe Exhibition Histories 24 hervorzuheben, die die Geschichte kuratorischer Praxis im zeitgenössischen Kunstfeld der letzten 50 Jahre ausgehend von spezifischen Ausstellungen in zum Teil komparativen Studien aufarbeitet. Zeitgenössisches Archivmaterial, Quellen­texte, Kritiken, Rezensionen und umfassende visuelle Dokumentationen werden kontextualisiert, aus der Perspektive der Gegenwart analysiert und auf ihre Relevanz im Gesamtzusammenhang des Kuratierens und Ausstellens befragt. Exhibition Histories geht aus einem mehrjährigen, fortlaufenden Forschungsprojekt am Central Saint Martins College of Art and Design London 25 hervor, das neben den bislang erschienenen hervorragenden Publikationen 26 auch die internationalen Konferenzen Conceptual Art and its Exhibitions (Akademie der bildenden Künste Wien 2008), Exhibitions and the World at Large (Tate Britain London 2009) und Art and the Social: Exhibitions of

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Contemporary Art in the 1990s (Tate Britain London 2010) hervorgebracht hat.27 Die hier betriebene Forschungsarbeit setzt sich nicht nur in Hinblick auf die langfristige, multiperspektivische Beschäftigung mit dem Thema von bisherigen Ansätzen der Historisierung ab; hervorzuheben ist insbesondere der Versuch, den vorherrschenden Rahmen einer westeuropäisch-nordamerikanisch geprägten Perspektive zu verlassen. Vor dem Hintergrund hegemoniekritischer und postkolonialer Theoriebildung und der massiven Globalisierung des zeitgenössischen Ausstellungswesens unter radikal veränderten politischen und ökonomischen Vorzeichen erscheint es notwendig, Geschichtsschreibungen des Ausstellens entsprechend zu konzeptualisieren, um bislang marginalisierte oder gänzlich ausgeblendete Narrative in den Blick zu rücken.28 Ein wichtiges Referenzprojekt ist in diesem Zusammenhang The Invisible History of Exhibitions, das sich seit 2008 in Form von internationalen Konferenzen, Publikationen und einer Reihe von (Recherche-)Ausstellungen, u. a. Parallel Chronologies (Budapest 2009, Karlsruhe 2010, Riga 2011), der Wissens- und Diskursproduktion zu Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Osteuropa seit den 1960er-Jahren widmet.29 Da experimentelle künstlerische und kuratorische Entwürfe der Zeit vor 1989 kaum dokumentiert sind und in der internationalen Geschichtsschreibung schlichtweg nicht vorkommen, ist ein zentrales Ziel des Forschungsprojekts die Erarbeitung eines umfassenden Archivs, das in verschiedenen Formaten zugänglich gemacht werden soll.

Die Problematik einer westlich-hegemonialen Ausstellungsgeschichte adressierte auch die Konferenz Landmark Exhibitions: Contemporary Art Shows since 1968, die im Oktober 2008 in der Tate Modern London stattgefunden hat und deren Beiträge im darauffolgenden Jahr publiziert wurden.30 Der Begriff des Meilensteins wird hier bewusst auf Ausstellungen bezogen, die bislang aus dem existierenden Diskurs ausgeschlossen waren und die die Organisatoren Marko Daniel und Antony Hudek wie folgt

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charakterisieren: „art beyond Europe and the USA, the non-Western, the non-White, and the non-hetero-normative“ 31. Die verschiedenen, jeweils thematisch fokussierten Beiträge der beteiligten KünstlerInnen, KuratorInnen, KunsthistorikerInnen und Theo­retikerInnen zeugen von einer Bandbreite methodischer Zugänge und verfolgen nicht die Intention eine oder die Ausstellungsgeschichte zu schreiben; vielmehr bestehen sie darauf, Meilensteine in möglichen Ausstellungsgeschichten im Plural zu markieren. Dies impliziert eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Kanonisierung von Ausstellungen – eine Diskussion, die erst in jüngster Zeit intensiver geführt wird. So etwa in einer rezenten Ausgabe des Manifesta Journal – Journal of contemporary curatorship mit dem Titel The Canon of Curating 32: In Anbetracht des viel zitierten Desiderats einer Historisierung von Ausstellungen und damit von kuratorischer Praxis im Kunstfeld und im gleichzeitigen Bewusstsein der seit den 1970er-Jahren vehement formulierten Kritik am Konzept der Kanonisierung und ihren Mechanismen des Ein- und Ausschlusses, stellt sich gegenwärtig die Frage, nach welchen Kriterien, anhand welcher Terminologie und mit welchem methodologischen Instrumentarium dies zu bewerkstelligen sei. Auch wenn in Fachdiskursen immer wieder die Rede davon ist, dass es keinen verbindlichen Kanon der wichtigsten Ausstellungen seit der Moderne gäbe, lassen sich gerade die genannten Überblickswerke als mehr oder weniger beabsichtigte Versuche verstehen, einen solchen zu schreiben. Die angesprochenen Auslassungen und blinden Flecken und deren Bearbeitung in der neueren kritischen Forschung ebenso wie ein „curating within culture“ im Gegensatz zu einem „curating within the canon“, wie Okwui Enwezor seine kuratorische Maxime beschreibt,33 bestätigen zudem die Notwendigkeit einer differenzierten Perspektivierung.

In The Canon of Curating wird das Thema durchaus kontroversiell diskutiert. So tritt Bruce Altshuler in seinem Text A Canon of Exhibitions im Sinne der Kenntnis wichtiger historischer Referenzen für die Formulierung eines – sich verändernden, ständig erweiternden – Kanons bedeutender Ausstellungen ein. Mit Bezugnahme auf seine früheren Arbeiten und deren Ansatz weiterentwickelnd, schlägt er zunächst eine Unterscheidung vor zwischen jenen Ausstellungen, die aufgrund ihrer kunsthistorischen Bedeutung kanonisiert werden, und jenen, die in Hinblick auf kuratorische

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Innovation Eingang in die Ausstellungsgeschichtsschreibung finden.34 Erstere werden gemeinhin mit der Einführung radikal neuer künstlerischer Strategien insbesondere durch die Avantgarden des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verbunden. Charakteristisch ist für diese frühen Gruppenausstellungen experimenteller zeitgenössischer Kunst, dass sie oft von den KünstlerInnen selbst, manchmal von GaleristInnen, selten aber von MuseumskustodInnen organisiert wurden. Beispiele dafür sind unter vielen anderen die Erste Ausstellung der Impressionisten im Atelier des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines in Paris 1874, die erste Ausstellung der Künstlergruppe Die Brücke im Präsentationsraum einer Lampenfabrik in Dresden 1906, die Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter in einer Galerie in München 1911, die erste Ausgabe der als Armory Show bekannt gewordenen International Exhibition of Modern Art in einem Zeughaus der Nationalgarde in New York City 1913 oder auch die Letzte futuristische Bilderausstellung 0,10 in einer Galerie in Petrograd 1915. Kuratorische Neuentwürfe hingegen differenziert Altshuler in Hinblick auf verschiedene Aspekte des Ausstellens: Innovative Formen des Displays, wie beispielsweise in El Lissitzkys Raum der Abstrakten im Provinzialmuseum Hannover 1927/28 oder in der Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie Beaux-Arts in Paris 1938; Erweiterungen des Ortsbegriffs, wie etwa in der ersten 1955 von der Gutai-Gruppe in einem Pinienhain in Ashiya ausgetragenen Experimentellen Freiluftausstellung Moderner Kunst zur Herausforderung der Sengenden Sonne des Hochsommers, in der vom New Yorker Kunsthändler und Kurator Seth Siegelaub organisierten Katalogausstellung The Xerox Book von 1968/69 oder in den seit 1990 vom Wiener Museum in Progress initiierten Ausstellungen auf Plakatwänden und in Tageszeitungen; Erweiterungen des Zeitbegriffs, wie in der auf fünf Plattformen ausgedehnten und de-zentralisierten Documenta11 2001/02; sowie konzeptionell-kuratorische Experimente, wie zum Beispiel Andy Warhols Künstlerkurator-Ausstellung Raid the Icebox für das Rhode Island School of Design Museum of Art von 1970 oder das Delegieren kuratorischer Autor­Innenschaft in der Großausstellung Dreams and Conflicts der Venedig Biennale von 2003. Wie Altshuler ausführt, erfüllen eine Vielzahl von Ausstellungen die Kriterien beider „Kanon-Gruppen“, beispielsweise die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin

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1920, die nicht nur radikal mit einem traditionellen Kunstbegriff bricht, sondern auch alle Konventionen des Ausstellens über Bord wirft.35

Angesichts der berechtigten Kritik, die der Kanonisierung unter kunsthistorischen oder kuratorischen Gesichtspunkten entgegengebracht wird, sieht Altshuler ein wesentliches Potenzial in einer unabgeschlossenen Erweiterung der genannten Merkmale um soziale, ökonomische und politische Faktoren, ohne sich auf einen Kriterienkatalog festlegen zu wollen. Er verweist hier beispielhaft auf die Nazi-­Propagandaausstellung Entartete Kunst, die zwischen 1937 und 1941 in 13 Städten gezeigt wurde und nicht aus kunsthistorischer oder kuratorischer Sicht, sondern aufgrund ihrer politisch-ideologischen Funktion von Bedeutung für die Ausstellungsgeschichte ist. Abschließend resümiert er:

While it can be used for purposes of constraint and limitation, the designing of particular exhibitions as canonical is expansive as well. We can see this in the way that accounts of major shows have stimulated research on other exhibitions and inspired creative curatorial efforts. But, in addition, such expansiveness appears when study and new ideation react against an existing canon instead of reinforcing it. For canons are dynamic constructs, their identification taking the form of absolute judgments but functioning also as springboards to further conversation and inquiry. Like exhibitions, they are nodes in structures of transaction and value.36

Während Bruce Altshuler also an einer Geschichtsschreibung durch die Kanonisierung einzelner Ausstellungen festhält, stellt Simon Sheikh in seinem Beitrag zum selben Band dieses Modell grundsätzlich in Frage. Unter dem Titel On the Standard of Standards, or, Curating and Canonization beleuchtet er detailliert die Problematiken dieses Ansatzes. Zunächst analysiert er den Prozess der ständigen Inklusion und Exklusion als konstitutiv für das Konzept der Kanonisierung, dem ein innerer Widerspruch eingeschrieben ist: Ein Kanon ist niemals vollständig, immer zu limitiert und zu exklusiv, seine Bestandteile stehen prototypisch für ein Genre oder eine Zeit, sollen diese aber auch transzendieren, ihnen wird somit eine zugleich spezifische wie universelle Funktion und Bedeutung zugewiesen. Paradoxerweise zeichnet sich ein solcherart legitimierter, verbindlicher Standard demnach letztlich durch Instabilität und Unmöglichkeit aus.

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Die Kanonisierung kuratorischer Praxis impliziert neben einem Kanon relevanter KünstlerInnen und Ausstellungen vor allem einen Kanon relevanter KuratorInnen, der selbstredend nur einen relativ kleinen Kreis singulärer Positionen beinhalten kann. Als Beispiel führt Sheikh hier Hans Ulrich Obrists bereits erwähnte Brief History of Curating an. Zentraler als die Frage, wer in den Kanon aufgenommen wird und wer nicht, sind dabei Fragen danach, wer das Recht hat, ihn überhaupt zu schreiben, aus welcher geografischen und zeitlichen Position heraus dies geschieht und welche Mechanismen dieser Legitimierung zugrunde liegen. Die Kanonisierung von KünstlerInnen, Ausstellungen und KuratorInnen durch KuratorInnen findet, so Sheikh, in hegemonialen institutionellen Settings statt, deren Machtposition im Wesentlichen von drei Parametern abhängt: Tradition, Öffentlichkeit und Kapital. Zuletzt nimmt er auch das Thema der Gegen-Kanonisierung in den Blick. Die bekannte Forderung und Strategie der Einbeziehung bislang ausgeschlossener Positionen hält Sheikh für wenig zielführend, da sich unter Aufrechterhaltung der beschriebenen Logik die an sich schon gegebene Schwierigkeit einer Stellvertretungsfunktion virulent verschärfe. Demgegenüber schlägt er vor, das Konzept der Kanonisierung gänzlich zu verabschieden und stattdessen eine conceptual history of art and curating zu entwerfen:

Instead of trying to expand the canon, we should dispose of it altogether, through epistemology as well as what can be termed a conceptual history of art and curating, drawing upon diverse ideas such as those of Michel Foucault and Reinhart Kosseleck, in which history is seen through ideas and concepts in terms of periodization rather than events, individuals, and, in our case, specific objects.37

Des Weiteren fordert er auch auf der Ebene des zeitgenössischen Kuratierens eine kontextualisierende Praxis ein, die nicht das Einzelwerk oder die individuelle Künstlerin fokussiert, sondern künstlerische, kulturelle und politische Zusammenhänge schafft, sowie ein Selbstverständnis, das gegen neoliberale Imperative auf Gemeinschaftlichkeit setzt.

Simon Sheikhs Konzept einer Ideengeschichte des Ausstellungmachens, das er bereits 2009 anlässlich eines Vortrags im Rahmen des ersten Kongresses des Forschungsprojekts

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Former West näher ausgeführt hat,38 vereint zahlreiche Forderungen der rezenten Theoriebildung im Ausstellungsfeld. So bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit dem komplexen Geflecht verschiedener Genres und Typen von Ausstellungen sowie deren Methodologien und feldspezifischen Funktionsweisen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Situation als wesentliche Grundlage dieses Neuentwurfs der Historisierung. Das Schreiben einer Ideengeschichte des Ausstellungmachens sollte dementsprechend von einer Sozialgeschichte des Kunst- und Ausstellungsfeldes begleitet werden. In Anlehnung an Reinhart Kosseleck können so synchrone Ereignisse (Ausstellungen) mit diachronen Strukturen (Kunst- und Ausstellungsfeld) verknüpft werden und ergeben ein umfassenderes Bild des Ausstellens als diskursive Praxis – seiner Strategien der Produktion und Darstellung, des Displays und der Vermittlung, differenzierter Modi der Ansprache verschiedener Öffentlichkeiten und der Zirkulation in lokalen wie internationalen Kontexten ebenso wie Prozessen der Validierung.

Wie eine Typologisierung jenseits einer konventionellen Aufzählung von der Einzelausstellung über die Themenschau und die Katalogausstellung bis hin zur Ausstellung als Sozialprojekt 39 skizziert werden könnte, zeigt Sheikh anhand einer Periodisierung orientiert am Wendejahr 1989. Bezugnehmend auf den Begriff der a-historischen Ausstellung, den Debora Meijers in Hinblick auf kuratorische Arbeiten von Harald Szeemann, Rudi Fuchs und Peter Greenaway eingeführt hat,40 differenziert er verschiedene Typen des Formats der thematischen Ausstellung, die allesamt einem Diskurs des Neuen verpflichtet sind. Die a-historische Ausstellung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die traditionelle chronologische Anordnung, die lange als konstitutiv für museale Kontexte gelten konnte, außer Kraft setzt, und stattdessen einen thematischen Zugang favorisiert, der meist die Produktion neuer künstlerischer Arbeiten beinhaltet und die Figur des Kurators / der Kuratorin als AutorIn eines subjektiven Narrativs des Zeitgenössischen stark macht. Das Museum als institutioneller Kontext nähert sich dabei dem Modell der Kunsthalle als Produktionsort zeitgenössischer Kunst an.

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Beispiele dafür wären etwa das Centre Pompidou in Paris und das Stedelijk Museum in Amsterdam. Ein weiterer Typus der thematischen Ausstellung orientiert sich an künstlerischen Medien wie Malerei, Skulptur, Film oder Verbindungen zwischen künstlerischer Produktion und Medien (z. B. „Kunst und Film“) und setzt das Neue in Bezug zu einer Tradition (z. B. „Neue Malerei“). Ein sehr präsenter Typus der letzten Dekaden ist zudem die geografische Ausstellung, die die Kunstproduktion eines spezifischen Standortes – einer Stadt (based in Berlin, 2011), eines Landes (Young ­British Artists, ab 1988) oder einer Region (Nordic Miracle, 1990er-Jahre) fokussiert. Hier geht es oft um ein Entdecken unbekannter und scheinbar unvergleichlicher Positionen durch eine/n KuratorIn, die selbst nicht der jeweiligen Szene angehört und aus der Perspektive des internationalen Kontexts die Besonderheit zu erkennen vermag. Dass die Produktion eines Diskurses des Neuen in Themenausstellungen ganz wesentlich von den ökonomischen Strukturen des Kunstmarkts determiniert ist, lässt sich sehr gut an der Ausstellungspraxis der Kunstmessen der letzten Jahre ablesen, die immer aufwendigere Gruppenausstellungen zeigen, um letztlich eine Auswahl individueller künstlerischer Positionen zu platzieren.

Die 1990er-Jahre verzeichnen aber auch eine Reihe von Gegenentwürfen beziehungsweise parallelen Entwicklungen zur thematischen (Groß-)Ausstellung. So etwa die Projektausstellung, die aus der Auseinandersetzung mit Ansätzen der Institutions- und Repräsentationskritik hervorgeht und einen Neuentwurf der Ausstellung als künstlerisches Medium intendiert. Diese wird im Sinne geteilter AutorInnenschaft in einem kollektiven Prozess erarbeitet und versteht sich als politische Praxis, die eine Öffentlichkeit für virulente gesellschaftliche Fragen schafft. Beispielhaft sind hier die Projekte der Shedhalle in Zürich ab den frühen 1990er-Jahren,41 als wichtiger Vorläufer dieses Typus können die Ausstellungen der New Yorker KünstlerInnengruppe Group Material ab den späten 1970er-Jahren gelten.42 Ein weiteres Gegenmodell ist das Format der un-exhibition, das mit den alternativen Kölner Kunstmessen Unfair 1992 und Messe 2ok 1995 eingeführt wird. Die Nutzung des zeitlichen und räumlichen Settings von Ausstellungen zielt in der un-exhibition nicht auf die Präsentation von Kunstwerken, sondern auf die Formierung von Gegen-Öffentlichkeit. Die Produktion von Diskursen löst die Produktion von Ausstellungen ab. Beispiele dieser Praxis

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sind das 1994 von der damaligen Bundeskuratorin Stella Rollig gegründete Depot in Wien und das von Maria Lind verantwortete Programm des Kunstvereins München zwischen 2001 und 2004.

Die Mitte der 1990er-Jahre erstmals ausgetragene Europäische Biennale zeitgenössischer Kunst Manifesta markiert eine besonders interessante Entwicklung: Basierend auf dem mit der Venedig Biennale ab 1895 etablierten Prinzip eines zweijährigen Rhythmus, findet jede Ausgabe der Manifesta in einer anderen europäischen Stadt statt, deren Spezifität jeweils zu berücksichtigen ist. Das Erschließen neuer, innovativer künstlerischer Praktiken ist konzeptuell ebenso angelegt wie die Bezugnahme auf gesellschaftspolitische Thematiken. Die Manifesta wird von wechselnden KuratorInnenteams kollektiv erarbeitet und zeichnet sich durch Prozessualität und Diskursivität aus. Sie vereint demnach eine Vielzahl verschiedener Ausstellungstypen und zeugt damit von der Komplexität einer möglichen Taxonomie historischer und gegenwärtiger Modelle des Ausstellens.

Das Projekt einer Ideengeschichte des Ausstellungmachens hat im Vergleich mit jenem einer Kanonisierung von singulären Ereignissen und AkteurInnen das größere Potenzial, dieser Komplexität in immer neuen Annäherungen beizukommen. Dass es sich bei diesem Projekt um ein kollektives und zugleich polyphones handeln muss, ist evident und kann als Aufforderung für die aktuelle und zukünftige Forschung verstanden werden.

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