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Die Erbschaft

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Der Preis dieses gesellschaftlichen Täterschutzes war die Übernahme der Solidarität der Schuld. Die Schuld des Einzelnen wurde in der Kollektivschuld versteckt. Gleichzeitig wehrte man sich vehement gegen jeden Vorwurf der Kollektivschuld „seitens ausländischer Kreise“. Die Erinnerung an NS-Verbrechen geschah gleichsam ohne handelnde Subjekte, ohne aktiv Ausführende und verbreitete unbestimmte, diffuse Schuld. So wuchsen die zweite und dritte Generation mit Informationen, Bildern und Texten aus der NS-Zeit auf, ohne sie mit Familiengeschichte und den TäterInnen in den eigenen Familien in Beziehung zu setzen. Wohl gab es in den Familien Erzählungen zu Krieg, Bombennächten, Flucht und Hunger, aber die Euphorie und leidenschaftliche Hingabe der arischen Herrenmenschen an die Theorie und Praxis nationalsozialistischer Ideologie blieb ausgespart. Das Verhalten gegenüber jüdischen NachbarInnen und Freundinnen, das Wissen um und die Beteiligung an der Ausgrenzung, Deportation, Ermordung der Juden und Jüdinnen in deutscher Gewalt blieben unerwähnt. Dass die ideologischen, bürokratischen, zivilen und militärischen Ausführenden des Völkermordes Namen, Adressen, Familien, Arbeitsplätze und politischen Einfluss im (westlichen und östlichen) Nachkriegsdeutschland hatten, blieb dem öffentlichen und privaten Bewusstsein lange verborgen. So war meine Familie sicherlich nicht die einzige, die sich mit einem „Spezialisten für jüdische Angelegenheiten“, der für die Brutalisierung, Ausbeutung, Ghettoisierung und schließlich Ermordung von mehr als 20.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt Pinsk (Weißrussland) verantwortlich war, in ihrer Mitte arrangierte (von Kellenbach 2000). Diese TäterInnen lebten in einer Grauzone der Halbvergessenheit, die sporadisch von polizeilichen Ermittlungen und Gerichtsprozessen durchbrochen wurde. Gleichzeitig verstärkten sich mit zeitlichem und ideologischem Abstand zu den Ereignissen des Dritten Reichs die obskuren Schuldgefühle der zweiten Generation.

Die Kombination allgemein gehaltener Schuldbekenntnisse und der gesellschaftlichen Amnestie/Amnesie hat zum Transfer der moralischen Aufarbeitung der NS-Zeit an die zweite und dritte Generation geführt. In vielen Täterfamilien wurde unbewusst das Thema „Vergangenheitsbewältigung“ an eine Person delegiert. Dabei lässt sich schwer ermessen, wie sich die Schuldgefühle im Leben Einzelner konkret auswirkten und welche konkreten Leistungen (auch Verdrängungsleistungen) erbracht wurden (Bar-On 1989; 1993). Kinder und Enkel tragen an einer unbestimmten und schwer fassbaren Schuld, die sie als Freiwillige von Aktion Sühnezeichen, in Kibbuzim in Israel, durch politisches und soziales Engagement und manchmal auf emotional gestörte, pathologische Art und Weise „sühnen“. Dabei kommt es auch zu emotionalen Abwehrreaktionen: Wenn es den Betroffenen so scheint, als würde diese Schuld von außen an sie herangetragen, dann entladen sich die Aggressionen gegen „das Ausland“ oder „die Juden“. Dabei entsteht die Belastung durch Schuldgefühle in Wahrheit aus der unbewussten Beteiligung an der Solidargemeinschaft der Schuld.

Die Nachkommen sind in die Solidargemeinschaft der Schuld hineingeboren und akzeptieren deren Regeln zumeist unhinterfragt: Man verabscheut und verurteilt die NS-Verbrechen und fühlt sich vage schuldig. Aber man respektiert den Schleier des Schweigens, der über den Karrieren der leiblichen und geistigen Väter und Großväter, dem Alltagsleben der Mütter und Großmütter liegt. Gleichzeitig werden die materiellen und geistigen Früchte der ungesühnten Verbrechen übernommen: die arisierten Betriebe und die medizinischen Forschungserkenntnisse, die Immobilien und die Profite durch unentschädigte Zwangsarbeit. Auch die kleineren Erbstücke werden dankend und unhinterfragt angenommen: die schönen Möbel, Schmuck und Kunstgegenstände in Privat- und öffentlichem Museenbesitz oder antiquarische Bücher. Wer möchte schon genauer wissen, wie sie in den familiären, städtischen, kirchlichen oder staatlichen Besitz kamen? Jede Frage, die nicht gestellt wird, verstrickt tiefer in die Solidargemeinschaft der Schuld. Jede präzise Antwort führt einen Schritt aus der Schuldverstrickung hinaus.

Das Vermächtnis ungesühnter Verbrechen wird durchbrochen, wo die Regeln der Solidarität der Schuld nicht mehr akzeptiert werden. Wenn die Täter auf ihre persönlichen Taten hin befragt und individuell haftbar gemacht werden, dann verändert sich der Diskurs und führt aus der Debatte um Schuld und Vergebung hinaus. Die präzise Benennung individueller Schuld wird aber oft als Verrat an dem/der (persönlich bekannten, verwandten, respektierten) TäterIn verstanden, und man riskiert, als NestbeschmutzerIn (der Familie, der Kirche, der Institution, der Stadt) denunziert zu werden. Es sind gerade die persönlichen, familienbiographischen Bindungen, die den Täterschutz so zwingend erscheinen lassen. Auch die Autoren der EKD-Denkschrift traten aus persönlicher Bekanntschaft und Verpflichtung für Männer wie Freiherr von Weizsäcker (Wurm)18, Graf von Schwerin von Krosigk (Meiser)19 und Wilhelm von Ammon (Meiser)20 ein. Sie konnten sich dem Sog persönlicher, sozialer, familiärer, kirchlicher und institutioneller Verstrickungen nicht entziehen. Aber jetzt, mit dem zeitlichen und persönlichen Abstand der dritten Generation, muss es möglich werden, jede/n einzelne/n TäterIn „objektiv“, im vollen Bewusstsein des Grauens, auf ihre individuellen Taten festzulegen. Dabei zählt jede einzelne Tat für sich selbst und wird erst kumulativ zu dem kollektiven Ereignis, das sich als „Holocaust“ wie ein black hole inmitten der Geschichte des 20. Jahrhunderts befindet.

Anmerkungen

1 Vgl. die konservative Einschätzung von 100.000 (de Mildt 1996, 18) und die weitaus höhere von Friedrich (1986, 1).

2 Dies bezieht sich auf die gerichtliche Verfolgung. Sicherlich verloren in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern insgesamt mehr Deutsche ihr Leben.

3 Eine geschlechtsspezifische Analyse der Strafprozesse gibt es meines Wissens noch nicht. Es kann aber mit gutem Gewissen gesagt werden, dass die übergroße Mehrzahl der Täter männlich war, weshalb ich teils inklusive (TäterInnen), teils männlich-spezifische Sprache verwende (vgl. Eschenbach 1997, 65–74).

4 Als „intakte“ Kirchen werden Bayern, Württemberg und Hannover bezeichnet. Dort waren bei der 1933 von der Regierung angesetzten Kirchenvorstandswahl nicht die „Deutschen Christen“ an die Macht gekommen. Daher kam es nicht zur Spaltung der Kirchenleitung in „Deutsche Christen“ und Bekennende Kirche, die durch illegale Bruderräte geführt wurde. Die Bischöfe der „intakten Kirchen“ (Wurm, Meiser und Maharens) wirkten als integrierende Kräfte, ihre Position gegenüber der NS-Regierung wird kontrovers diskutiert.

5 Im Unterschied zur EKD-Denkschrift zum Strafvollzug aus dem Jahre 1990, deren Titel das Gegenteil signalisiert: Strafe: Tor zur Versöhnung. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Strafvollzug, Gütersloh, 1990.

6 National Archives Washington, DC, Reg 338, United States Army Europe, JAG War Crimes Branch, General Administrative Record 1942–1957, Box 12–14.

7 Die Akte, die von OMGUS für Bischof Wurms Briefe angelegt wurde und in den National Archives in Washington DC liegt, trägt die Überschrift „criticism file“. REG 338 (stamped over RG 496) USAREU/JAG Division, War Crimes Branch, Record Relating to Post-Trial Activities, Parole Applications thru Brandt, Box 9.

8 Zit. nach Luthers Übersetzung, Württembergische Bibelanstalt (Stuttgart, 1971), nicht nach der ins englische übersetzten Fassung in der Denkschrift.

9 „Verfolgen Sie die wahren Verbrechen, aber verstehen Sie nicht die Tatsache, dass ein General den Befehlen des obersten Befehlshabers befolgt und ein fremdes Land besetzt als persönliches Verbrechen. Verstehen Sie nicht die Tatsache, dass bestimmte industrielle Konzerne eine wichtige Rolle spielten als Beweis, dass diese Männer Krieg wollten oder Verbrechen begingen.“ (Übers. KvK)

10 „Politisch falsche Entscheidungen werden auf die gleiche Ebene mit kriminellen Vergehen gestellt.“ (Übers. KvK)

11 „Einfache Bürger werden zu schweren Strafen verurteilt, weil sie die Gesetze und Regeln ihres Landes befolgten.“ (Übers. KvK)

12 „Sie waren bereit, vergangene Fehler und Irrtümer zu bekennen, in der Hoffnung, ein neues Leben zu beginnen, in dem Recht und nicht Gewalt führend sein sollten.“ (Übers. KvK)

13 „Schock für das Rechtsvertrauen“ (Übers. KvK).

14 „Die Ähnlichkeit und das Gewicht glaubwürdiger Einwände gegen die Verfahren und Urteile, die von amerikanischen Militärgerichten in Nürnberg, Dachau und Shanghai verhängt wurden, scheinen uns so groß, dass die Gerechtigkeit eine Überprüfung der legalen Prinzipien und Verfahrensführung in allen Prozessen sowie von stattgefundenen Unregelmäßigkeiten durch Richter verlangt.“ (Übers. KvK)

15 „Außerdem wäre ich dadurch wahrscheinlich ein willkommener Sündenbock mit den Gefühlen des Hasses und der Rache des Gegners beladen worden und hätte damit seinen Unmut und seine Sucht nach weiteren Opfern lähmen können, so daß andere Kameraden relative Sicherheit erreicht hätten.“ (Aschenauer 1980, 496)

16 So zumindest mein Eindruck aus der US-amerikanischen Situation herkommend, wo nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern auch die Urteile und Strafanstalten wesentlich „härter“ sind.

17 National Archives, Washington D.C. REG 338 (stamped over RG 496) USAREU/JAG Division, War Crimes Branch, Record Relating to Post-Trial Activities, Records Re Dachau Executions, Boxes 12–14.

18 Wurm schreibt: „if you knew … his personal character and his official attitude … as well as I do.“ (Denkschrift, 49) Als Staatssekretär im Auswärtigen Amt war Weizsäcker an den Deportation von Juden, die eine schriftliche Zustimmung durch das Auswärtigen Amt brauchten, mitbeteiligt. Er wurde im Oktober 1950 begnadigt und entlassen.

19 Meiser schreibt: „a man I have known for decades to be a clean and irreproachable character.“ (Denkschrift, 50) Von Schwerin von Krosigk war Reichsfinanzminister von 1932–1945 und maßgeblich an der finanziellen Ausbeutung der Juden (Reichskristallnacht, Reichfluchtsteuer) aber auch der wirtschaftlichen Ausbeutung von Juden und Nichtjuden in den besetzten Ländern beteiligt. Auch er wird im Februar 1951 aus der Haft entlassen.

20 Meiser schreibt: „I have known Ammon personally for many years as a man of calm and modest disposition, of irreproachable character and sincere and Christian convictions.“ (Denkschrift, 51) Ammons Bruder ist Dekan in der bayrischen Landeskirche, sein Schwager der Erlanger Theologieprofessor Künneth (Klee 1992, 133). Ammon war Ministerialrat im Reichsjustizministerium, hatte sowohl am „Erbgesundheitsgesetz“, der Grundlage der Euthanasie, sowie an Sondergerichtshöfen und den infamen NN- (Nacht und Nebel) Erlässen mitgearbeitet. Er wird im Februar 1951 aus Landsberg entlassen und in den kirchlichen Dienst übernommen (Klee 1992, 133).

Literatur

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Von Gott reden im Land der Täter

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