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Sex

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Ich drehte uns noch einen Joint, zündete ihn an und ging damit zu Lissi, die den Kaffeetisch deckte.

Lissi schaute mich eine Ewigkeit an.

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte sie.

„Lachanfall“, sagte ich und sie nickte.

„Das Kostüm steht dir“, sagte sie.

Ich war erleichtert, dass sie von meinem Pinkelunfall nichts mitbekommen hatte. Ich musste aber dermaßen intensiv daran denken, dass ich dachte, sie würde mich gleich danach fragen, warum ich keine Unterhose anhatte.

Wir rauchten den Joint, dann holte Lissi eine Flasche Sekt. Asti Spumante. Das ist jetzt kein Gesöff wie Champagner, von der Herstellung, vom Preis und dem Renomee her, aber schön süß und fruchtig. Bekifft kann man sich den Zucker nur so ins Maul schaufeln. Jede Zelle des Körpers lechzt nach Süßem und dann ist das Büdchen in Kleinbeken nämlich doch gar nicht so ein schlechter Ort für unsere Grundbedürfnisse. Die Pulle Asti ging nicht gut auf, Lissi schüttelte sie und irgendwann flog der Korken nach oben, knallte vor die Decke, wo er eine hübsche Delle hinterließ. Viel von dem Sekt floss auf den flauschigen Veloursteppich im Wohnzimmer. Wir schauten uns den Sekt begeistert an, denn er sprudelte noch ein bisschen auf dem Teppich und zog überhaupt nicht ein.

Lissi holte geschliffene Gläser aus einer Vitrine, schenkte den Sekt ein und gab mir ein Glas.

Sie spitzte den Mund.

„Jutta, wie wär’s mit einem Schlückchen. Das regt doch den Kreislauf an.“

„Barbara“, sagte ich, „unbedingt. Das ist die reinste Medizin.“

Lissi schaute mich mit verschleierten Augen an und kippte sich Sekt rein, wofür sie den Kopf in den Nacken legte. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und flog in einen orientalischen Paravent, der ohne Sinn in der Gegend stand. Auf dem Weg zum Boden zog sie noch eine filigrane Stehlampe mit. Sie landeten zu dritt im Regal, in dem wunderschöne Glasobjekte standen, in denen irgendwas durch Nanopartikel beeinflusst war. Dadurch sollte die Reflexion filigraner und strahlender erscheinen, was sich nach Lissis Einschlag jedoch erledigt hatte.

„Huch“, meinte Lissi. Ich zog sie hoch, wir bestaunten das Desaster und setzten uns an den Tisch.

„Ich genehmige mir immer ein Schlückchen, wenn Helmut romantisch wird. Das lockert die Atomsphäre.“ Lissi merkte, dass sie mit den Konsonanten durcheinander gekommen war, winkte mit den Armen ab und lachte sich tot. Sie verschluckte sich amtlich und hustete so stark, dass ihr Sekt aus der Nase lief.

„Ich trinke, wenn Walter mit Frau Schmidt romantisch wird.“ Ich wollte es lustiger klingen lassen, aber auf einmal verpuffte das Lachen.

Lissi war nichts aufgefallen, sie gackerte, legte eine Hand vor ihren Mund, die andere in den Schritt.

„Oje“, sagte sie. „Ich mach mir gleich in die Hose.“

„Im Ernst“, sagte sie dann. „Meine Eltern lieben sich auch ohne Sex. So ist es doch viel schöner, die lieben sich, weil sie sich lieben.“ Sie zog den Hefezopf auseinander, schmierte eine dicke Schicht weiche Butter drauf und stopfte sich ein Riesenstück in den Mund.

Wie immer, wenn Lissi mit diesem Kein-Sex-Vor-Und-In-Der-Ehe-Thema kam, fiel mir erst Mal nichts dazu ein.

Lissi bemerkte meine Zurückhaltung nicht. Sexuelle Enthaltsamkeit war eines ihrer Lieblingsthemen. Wenn sie erst Mal ihre schlanken Beine auf dieses Steckenpferd geschwungen hatte, blieb kein Auge trocken. Eigentlich ging es ihr nicht um Enthaltsamkeit, denn das setzte ja auch einen Vollzug auf der anderen Seite voraus. Lissi nullte das Thema.

Sie nickte mir zu und schob den gigantischen Hefezopfklumpen in die Backentasche. Sie sah wie ein Monsterhamster aus und ich bekam schon wieder Angst, abzudrehen, weil sie nicht wie Lissi aussah.

„Genau“, sagte sie, aber ich hatte, soweit ich mich erinnern konnte, nichts gesagt. Ihre Augen hingen schwer auf Halbmast.

„Echt. Ich will nie mit einem Mann schlafen. Nie. Sex wird doch total überbewertet. Mir tun die Mädchen leid, die schon so früh mit Männern schlafen. Ich sach dir, die Männer lieben einen auch so, ohne dass man mit denen schläft.“ Sie winkte abfällig mit der Hand und tat ganz routiniert.

„Schau doch mal, wir haben noch nie mit keinem Typen geschlafen und die finden uns doch alle toll.“

Dann arbeitete sie die diversen Klumpen in den Hamsterbacken ab und schluckte schwer. Dann redeten wir eine Weile nicht, sondern aßen den ganzen Hefezopf auf und spülten mit Sekt nach.

Jedes Mal, wenn Lissi mit diesem Thema begann, verschlug es mir die Sprache. Ich hatte Lissi nichts von meinem ersten und bislang einzigen Mal erzählt, aus guten Gründen und ich ließ es auch diesmal bleiben. Auch von meiner Liebe zu Peter hatte ich mit niemanden geredet, außer überflüssigerweise mit ihm. Sie lallte noch etwas, das ich nicht verstand, aber ich kannte ihre Meinung und teilte sie nicht. Wenn mir eins klar war, dann das, dass Sex total toll sein musste, denn ich fand das Kinderkriegen (bis zu zwanzig Stunden voll die Schmerzen) und vor allem sie großzuziehen (fünfundzwanzig Jahre, falls sie so schlau sind und studieren) eine sauschwere Aufgabe war. Wenn so was durch Sex (drei bis fünf Minuten) und im Glücksfall durch einen Orgasmus (max. zwanzig Sekunden) kompensiert wurde, dann musste Sex der Hammer sein. Und Hippies hatten den Umgang mit Sex revolutioniert. Wechselnde Partner, Gruppensex und was nicht alles. Für Lissi bedeutet Hippie-Sein tolle Klamotten anziehen und Ringelpiez ohne Anfassen. Das mit der freien Liebe, im Sinne von Vögeln ohne Vermählung, gehörte nicht dazu. Wahrscheinlich war Lissi durch eine erfolgreiche Gehirnwäsche ihrer Mutter gelaufen, die sie vor einer verfrühten Schwangerschaft bewahren wollte.

„Blödsinn“, sagte ich. „Als ob nur Männer Sex wollen. Frauen wollen auch Sex. Und vielleicht hat dein Vater ja was mit anderen Frauen? Der ist doch viel unterwegs.“

Lissi schüttelte langsam den Kopf. „Niemals. Mein Papa ist nicht so einer. Der ist nicht so ein Schwein und betrügt seine Frau, nur weil sie nicht mit ihm schläft.“

Ich war siebzehn Jahre alt und nicht übermäßig erfahren in Liebesdingen, aber sicher, dass Lissi total auf dem Holzweg war. Sie war noch nicht fertig.

„Mein Papa ist meiner Mutter monatelang hinterhergerannt. Er hat jeden Abend unter ihrem Zimmer gestanden, aber gesungen hat er zum Glück nicht.“ Sie lächelte mich an, als sei das der Beweis für irgendwas.

Meine Mutter war mit mir im siebten Monat schwanger, als sie meinen Vater heiratete. Ich war wohl nicht so ganz geplant gewesen. So ein Kind wie mich nannte man Tropi. Trotz Pille. Meine Mutter war eine der ersten Frauen, die die Pille überhaupt genommen haben, sie hatte sie von ihrer Freundin Gisela bekommen, die verheiratet war. Die Pille wurde zu der Zeit nur verheirateten Frauen verschrieben. Meine Mutter erklärte das Nicht-Wirken der Pille bei ihr als Gottes Strafe für ihre Unaufrichtigkeit.

„Ich finde Sex klasse“, sagte ich großspurig.

Lissi schüttelte ein bisschen den Kopf, schwieg sich aber aus.

„Willst du nie mit einem Typen schlafen?“, fragte ich.

„Nee“, sagte sie. „Ich glaub' nich.“

„Aber heiraten?“

Sie nickte.

„Dann bekommst du keine Kinder. Und einen untreuen oder einen religiösen Spinner zum Mann. Oder einen, der die ganze Zeit wichst. Oder alles zusammen.“

„Igitt“, sagte Lissi und verzog das Gesicht. „Also Kinder will ich schon.“ Sie überlegte. „Ach, das wird schon.“

„Also bei mir ist es umgekehrt“, sagte ich. „Ich kann auf Kinder verzichten, aber nicht auf Sex.“

„Woher weißt du das denn?“, fragte Lissi. „Du hast doch gar keine Erfahrung.“

Ich schwieg. Etwas nicht sagen ist nicht das Gleiche wie Lügen.

Lissi winkte ab. „Die lieben einen auch so.“

Ich fürchtete, dass sie es ehrlich meinte. Ich war sicher, dass sie unrecht hatte und ich den Durchblick. Meistens auf jeden Fall, jetzt hatte ich mir vollkommen die Kappe abgeraucht und war betrunken. Es war mir gerade ziemlich egal, ob Lissi Nonne werden würde oder als erste verheiratete Frau des Ruhrgebiets mit intaktem Jungfernhäutchen Goldene Hochzeit feiern würde. Dass ihre Nase gerader war als meine, oder ihre Eltern viel Knete auf dem Konto hatten, war mir auch egal. Sie hatten 0,000 Periode Peilung vom wirklichen Leben. Noch weniger als meine Eltern, die wenigstens Freaks waren.

Zurück zum Kifferkaffeeklatsch.

Unter der Schminke schimmerte Lissis Haut grau-grün.

„Mir ist schlecht. Ich muss kotzen.“

Und schon reiherte sie über den ganzen Tisch und aufs Kleid. Der Strahl kam mit Druck und war wenig damenhaft. Ich fühlte mich überfordert, unterdrückte das hochsteigende Lachen und zog die Lippen in Richtung gekräuselter Nase, wie es die westfälischen Kartoffelbauern beim Begutachten ihrer Äcker machen. Sieht megadämlich aus.

Dann entdeckte ich Lissis Mutter im Türrahmen.


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