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Erstes Kapitel

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Gretchen am Spinnrade Rosa Schuhe und ein Blitzschlag Hoffen in „B. P.-Dur“ Die Engelin Leiden in Moll

Es mögen gut und gerne 20.000 Menschen sein, die am Nachmittag des 29. März 1827 zusammengeströmt sind, um den Sarg Ludwig van Beethovens durch die Straßen Wiens zum Währinger Friedhof zu geleiten. Die Schulen bleiben geschlossen an diesem Tag, Soldaten sollen die öffentliche Ordnung sichern. Dicht gedrängt wogen die zurückgedrängten Massen, durch die sich der Kondukt seinen schmalen Weg bahnen muss. Eine Gruppe Geistlicher geht dem Sarg voran, der mit einem Trauerflor verhüllt ist, darauf ein Kranz aus weißen Rosen. Acht Persönlichkeiten Wiens tragen ihn, acht Kapellmeister halten das Grabtuch in ihren Händen. Es folgen die Angehörigen und engsten Freunde des Toten.

Unter den 36 Fackelträgern, die zu beiden Seiten schreiten, ist ein auffallend kleiner, leicht dicklicher Mann. Auf seinem runden Kopf mit dem kräuseligen Haar sitzt ein schwarzer Zylinder, das leicht aufgedunsene Gesicht wirkt noch blasser als sonst. Hinter runden Brillengläsern haben sich dunkle, kurzsichtige Augen mehr und mehr mit Tränen gefüllt.

„Er blieb einsam, weil er kein zweites Ich fand“ – die Fackel, die er mit seinen kurzen Fingern umklammert hält, zittert unmerklich, als er an der Friedhofspforte diesen Satz hört. Denn auch wenn er selbst erst dreißig ist, so scheint ihm doch das gleiche Schicksal beschieden zu sein wie Beethoven. – Wie oft hat er in seinen eigenen Liedern das Glück und Unglück der Liebe besungen, vor wenigen Wochen erst den ersten Teil der „Winterreise“ abgeschlossen. Ein Wanderer, der seine Liebste verloren und verlassen hat, irrt trostlos umher darin … nur die Erinnerung an sie … und seine Hoffnungen, die unerfüllt geblieben …

Wie die des Franz Schubert. Vor langen Jahren. Dabei hat doch alles so hoffnungsvoll begonnen.

Es ist ein großer Tag gewesen für ihn, den 17-jährigen Schulmeistersohn: der 16. Oktober 1814. Zum ersten Mal wird eines seiner Werke vor großem Publikum aufgeführt, noch dazu in seiner heimatlichen Pfarrkirche in Lichtental, zu Ehren ihres Hundertjährigen. Er selbst, als Jüngster aller anwesenden Musiker, darf seine F-Dur-Messe dirigieren vor den stolzen Verwandten und Freunden, und auch Salieri, sein Lehrer, ist da, als die Aufführung zehn Tage später sogar wiederholt wird, ist voll des Lobes, freut sich mit ihm über den großen Erfolg. Denn das ist es: ein großer Erfolg, der ihm Mut machen wird! – Und sie ist dabei, singt mit ihrer wundervollen Stimme so innig das Sopran-Solo – bei ihr ist er gewesen im Geiste, als er es komponiert hat: bei seiner Therese, Therese Grob.

Ein Jahr jünger ist sie, nicht eben hübsch zu nennen, das gewiss nicht, hat Blatternarben im runden Gesicht; aber herzensgut ist sie – und vor allem: Er liebt sie, und sie liebt ihn. Seit ihrer frühen Kindheit kennen sie sich schon, ihre Mutter hat eine kleine Seidenweberei gehabt in der Nachbarschaft. Lange träumen sie von einer gemeinsamen Zukunft, davon, dass er sie zur Frau nehmen kann, sie eine Familie gründen irgendwann. Doch man braucht eine amtliche Heiratserlaubnis, muss nachweisen können, dass man ein entsprechendes Einkommen hat. Unmöglich für einen einfachen Schulgehilfen wie ihn, der an der Armenschule seines Vaters angestellt ist, in dunklen kleinen Räumen ganzen Heerscharen von Schülern das Nötigste beizubringen versucht; eine Qual für die Kleinen, eine Qual für ihn, der überfordert ist mit alldem, am Katheder weder die nötige Geduld noch eigentlich pädagogisches Talent hat. – Ein wahrlich trostloses Leben, wäre da nicht die Musik, die ihm Zuflucht bietet, wären da nicht die treuen Freunde und Therese; bliebe nicht die Hoffnung.

Drei volle Jahre träumen sie, hoffen sie schon, und dann endlich, im Frühjahr 1816, ein echter Lichtblick: die Aussicht auf eine Stelle als Musikschullehrer. Dann wäre man aller Sorgen ledig, dann könnte er sich noch mehr aufs Komponieren stürzen. – Dabei hat er schon so viel geschaffen in seinem Alter, drei Sinfonien alleine und eine ungeheure Fülle von Liedern; daran, dass viele Liebeslieder darunter sind, ist Therese nicht ganz unschuldig …I

So hat er kurz nach seinem großen Tag, der denkwürdigen Aufführung seiner Messe, diese, wenn auch traurigen und wenig zuversichtlich klingenden Verse Goethes vertonen können. Menschlicher Kummer und melodisches Glück verschmelzen in dem Lied, das eine junge, offenbar hoffnungslos verliebte Frau am Spinnrad singt:

„Meine Ruh’ ist hin,

Mein Herz ist schwer;

Ich finde sie nimmer

Und nimmermehr.

Wo ich ihn nicht hab

Ist mir das Grab,

Die ganze Welt

Ist mir vergällt

Mein armer Kopf

Ist mir verrückt,

Mein armer Sinn

Ist mir zerstückt.

Meine Ruh’ ist hin,

Mein Herz ist schwer;

Ich finde sie nimmer

Und nimmermehr …“

Nur wenige Schritte entfernt von ihm, der sie am Klavier begleitet, singt sie „Gretchen am Spinnrade“. Sie singt das Lied Franz Schuberts, singt die Worte, die er fühlt; sie singt, die er liebt … und die ihn wiederliebt?

Im Hause des musikliebenden Kaufmanns Carl Erdmann Carus in Zwickau ist der gerade erst 17-jährige Robert Schumann ein gern gesehener Gast; hat der junge Pianist, der am Klavier so herrlich frei zu fantasieren versteht, doch in der sächsischen Kleinstadt schon viel von sich reden gemacht. Ja, seine große Liebe gilt, neben dem Lesen und Dichten, zweifellos der Musik; doch nicht nur ihr: Dass seine Gedanken keineswegs ausschließlich um die schönen Künste kreisen, spiegelt sein Tagebuch wider, wo recht häufig von einer Nanni Petsch und einer Liddy Hempel die Rede ist; Mädchen, die der wenig selbstbewusste Junge aus der Ferne scheu verehrt. Nun, im Sommer 1827, erscheint plötzlich und unvermittelt ein dritter Name; der Name einer Frau, die bald die „Einzige“ seiner Träume und Sehnsüchte werden soll. – Vielleicht weil sie noch unerreichbarer erscheint als die beiden gleichaltrigen Mitschülerinnen. „Drei Göttinnen standen in meinem Traumolymp“, wird er sich erinnern, „fast doppelsinnig“ die „Nanni im Mittelgrunde“ und „Liddy im Hintergrunde“ sehen; „im Vordergrunde“ jedoch Agnes …

Agnes Carus, acht Jahre älter als Robert, die attraktive Ehefrau eines Arztes aus Colditz, nimmt gelegentlich den Weg nach Zwickau auf sich, um an den regelmäßig stattfindenden Musikabenden ihres Schwagers Carl teilzunehmen, wo sie als Sängerin zu gefallen weiß und, selbst eine vorzügliche Pianistin, in Robert den passenden Begleiter gefunden hat. Bald schon gilt seine Liebe und Bewunderung dem (außerhalb Wiens nahezu unbekannten) Franz Schubert und seinen Liedern, mit denen sie ihn vertraut macht, bald ihr selbst. Eine Liebe, die ohne Zukunft ist, sich gleichwohl kaum verheimlichen lässt.

Agnes müsse es in seinen Augen gesehen haben, vertraut er seinem Tagebuch an, das nicht selten mit dem Gedanken an sie und ihrem Namen – „ein flehendes Ausrufezeichen nachgesetzt“1 – geschlossen wird. „Ich werde zu Bett gehen und von ihr träumen, von ihr. Gute Nacht, Agnes … Agnes, gute Nacht.“ – Ein Wunsch, der oftmals in Erfüllung geht, denn von wunderschönen Träumen kann Robert berichten …

Von Träumen, die nur Träume bleiben können. Wirklich nah sein kann er ihr nur am Klavier, wenn sie Schuberts Lieder singt.

Seine Liebe zu der so klugen, so schönen und so unerreichbaren Agnes nimmt Robert Schumann mit sich, als er nach bestandenem Abitur 1828 seine Heimatstadt verlässt, um in Leipzig widerwillig ein Jura-Studium aufzunehmen. Er wird Agnes, deren Mann inzwischen an der dortigen Universität lehrt, wiedersehen, wird gar nicht selten in ihr Haus eingeladen werden und eben da den bedeutenden Klavierpädagogen Friedrich Wieck kennen lernen, eine Zeitlang von ihm unterrichtet werden, vom Spiel der kleinen Tochter Clara tief beeindruckt sein. – Eine Begegnung, die bekanntlich nicht ganz folgenlos bleibt. Im späteren Leben.

Seine große Jugendliebe bleibt indes unvergesslich. Schumann wird auch viele Jahre später, längst ein bedeutender und berühmter Komponist geworden, noch bekennen, dass er Agnes Carus – die, als Mutter von drei Kindern, mit nur 37 Jahren stirbt – einst „stürmisch geliebt“ hat. Sein Tagebuch zeugt davon; und auch sein erstes gedrucktes Werk, mit dem Robert, wie er stolz notiert, „zum ersten Mal in der großen Welt“ erscheint: die sogenannten „Abegg-Variationen“, entstanden im Jahr 1830.

Doch sonderbar und verwirrend, dass das op. 1 einer gewissen „Comtesse Pauline d’Abegg“ gewidmet ist, denn diese Dame ist nicht nur, wie Schumann seiner Mutter weismachen will, „eine alte Schachtel von 26 Jahren, sehr geistreich und musikalisch, aber spitzig und hässlich“, sondern, und das vor allem, frei erfunden! Immerhin gibt es, das weiß man, die Mannheimer Pianistin Meta Abegg, der Schumann jedoch vermutlich niemals begegnet ist, deren Name ihn jedoch fasziniert und zugleich inspiriert hat, bietet er doch eine wunderbare Basis für ein Variationswerk! – Dennoch: Die Tonfolge A-B-E-G-G taucht als vollständiges Thema nur selten auf; häufiger zu hören und weitaus bedeutender erscheint das Motiv A-G-Es … Bedauerlich, dass die Musik den Ton N nicht kennt …II

Nur enge Freunde Schumanns dürften verstanden haben, welche Bedeutung Meta Abegg zukommt, nur die engsten eingeweiht gewesen sein, wem in Wahrheit hier ein, wenn auch verhülltes, musikalisches Denkmal gesetzt worden ist.

Andere Komponisten sind da weit weniger zurückhaltend …


„Episode aus dem Leben eines Künstlers“: Schon der Titel lässt aufhorchen. – Denn wer könnte da anders gemeint sein als der Komponist höchstpersönlich? Und dann das Programm erst, das dem Publikum vorab zum Lesen in die Hand gegeben wird: Ein Musiker, „der zum ersten Mal eine Frau erblickt, die das Ideal an Schönheit und Reiz verkörpert, nach dem sein Herz seit langem ruft, und verliebt sich unsterblich in sie Er verzehrt sich zusehends, begegnet ihr auf einem Ball, ohne jedoch Beachtung zu finden; die Verzweiflung des Verschmähten wächst und wächst, bis er zum Opium greift, in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf fällt. Ihm träumt, er habe die Geliebte ermordet, sei nun zum Tode verdammt, werde zum Richtplatz geführt, wo das Beil des Henkers ihn erwartet … Auf einem Hexensabbat findet er sich schließlich wieder, wo auch SIE erscheinen wird … – Ein wahrhaft unerhörtes Werk, das für so viel Aufsehen gesorgt hat seit seiner Geburtsstunde …

„Episode de la vie d’un artiste“ – tout Paris weiß zu dieser Zeit, wovon die Rede ist. Besser gesagt: von wem. Hector Berlioz. Man kennt ihn, den ehemaligen Medizinstudenten mit dem feuerroten Halstuch, der Glut in den Augen und dem wild wuchernden Backenbart. Er hat sie komponiert, im Alter von nur 26 Jahren, die „Symphonie fantastique“, wie ihr Untertitel lautet. Für diese Frau, dieses „Ideal an Schönheit und Reiz“, mit der er eine der berühmtesten Affären der Romantik eingehen wird. Im September des Jahres 1827, nur wenige Monate also, nachdem Ludwig van Beethoven das Geheimnis um seine „unsterbliche Geliebte“ vielleicht doch für immer mit ins Grab genommen hat, ist Berlioz ihr erstmals begegnet und mit Haut und Haaren verfallen.

Seine erste große Liebe ist sie allerdings nicht gewesen. Diese Ehre gebührt einzig und allein Estelle Fornier – seiner „Stella Montis“, seinem „Stern des Berges“ also, oder auch einfach „Madame F.“, wie er sie in seinen MemoirenIII nennt. Hector Berlioz ist gerade zwölf, als er, man schreibt das Jahr 1815, einen unvergesslichen Sommer in Meylan verbringt, einem Dorf unweit von Grenoble an der savoyischen Grenze gelegen. Hier begegnet er Estelle, die bei ihrer Tante, Madame Gautier, in einem weißen Häuschen wohnt und dem Zwölfjährigen sogleich gehörig den Kopf verdreht … Doch warum nicht ihn, der es wohl am besten weiß, selbst berichten lassen?

„Dieser Name allein hätte genügt, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Er war mir schon lieb geworden durch Florians2 Pastorale ‚Estelle et Némorin‘, die ich aus der Bibliothek meines Vaters entwendet und wohl mehr als hundertmal heimlich gelesen hatte. Aber diejenige, die ihn trug, war achtzehn Jahre alt, von elegantem hohen Wuchs; sie hatte herausfordernde, obwohl stets lächelnde Augen, Haare, die würdig gewesen wären, Achilles’ Helm zu schmücken, Füße … ich will nicht sagen einer Andalusierin, aber einer echten Pariserin, und rosa Schuhe! … Ich hatte noch nie solche gesehen … Sie lachen! … Nun, ich habe die Farbe ihres Haares vergessen (ich glaube jedoch, es war schwarz) und kann nicht an sie denken, ohne zugleich außer ihren großen Augen die kleinen rosa Schuhe glitzern zu sehen.

Als ich sie erblickte, fühlte ich einen elektrischen Schlag; ich liebte sie, und damit ist alles gesagt. Ein Schwindel erfasste mich und verließ mich nicht wieder. Ich hoffte nichts … Ich wusste nichts … aber ich fühlte im Herzen einen tiefen Schmerz. Ich verbrachte ganze Nächte in Verzweiflung. Des Tages verbarg ich mich in den Maisfeldern, in den heimlichen Winkeln von Großvaters Obstgarten wie ein verwundeter, stummer, leidender Vogel. Die Eifersucht, diese blasse Begleiterin jeder reinsten Liebe, quälte mich bei dem geringsten Wort, das eine männliche Person an meine Angebetete richtete. Ich höre noch mit Schaudern das Klirren der Sporen meines Onkels, als er mit ihr tanzte! Jedermann im Hause wie in der Nachbarschaft lachte über den armen zwölfjährigen Jungen, geschlagen mit einer Liebe, die über seine Kräfte ging. Sie selber, die sie als Erste erraten hatte, belustigte sich daran, dessen bin ich ganz sicher. Eines Abends war bei ihrer Tante eine größere Gesellschaft; man schlug das Barrenspiel vor; um die zwei feindlichen Lager zu bilden, mussten wir uns in zwei gleiche Gruppen teilen. Die Herren wählten ihre Damen; man ließ mich absichtlich die meine zuerst aussuchen. Doch ich getraute mich nicht, mein Herz pochte zu heftig; ich schlug schweigend die Augen nieder. Alle verspotteten mich; da ergriff Estelle meine Hand und sagte: ‚Nein, ich werde selbst wählen! Ich nehme Monsieur Hector!‘ O Schmerz! Sie lachte auch, die Grausame, als sie von der Höhe ihrer Schönheit auf mich herabsah …

Nein, die Zeit vermag da nichts … Spätere Liebe verwischt nicht die Spur der ersten …“

So enden Berlioz’ Erinnerungen an jenen Sommer, an jenes Mädchen mit den großen Augen und den kleinen rosa Schuhen, das er lange Jahre nicht wiedersehen würde. In seiner Musik jedoch – denn der junge Hector vollendet bald nach dem Abschied von Estelle seine ersten Werke – findet diese Leidenschaft ihren Niederschlag; was ebenfalls unvergesslich bleiben wird:

„Die Kompositionsversuche meiner frühen Jugend trugen alle ein tief melancholisches Gepräge. Fast alle meine Melodien standen in Moll. Ich fühlte den Mangel, ohne ihn vermeiden zu können. Ein schwarzer Schleier lag über meinen Gedanken; meine romantische Liebe von Meylan hatte ihn darübergebreitet. In dieser Gemütsverfassung las ich fortwährend in der ‚Estelle‘ von Florian, und da war es vorauszusehen, dass ich schließlich einige der zahlreichen Romanzen dieser Pastorale komponieren würde, deren fade Geschmacklosigkeit mir damals so süß vorkam. Ich tat es wirklich.

Unter anderem schrieb ich eine tieftraurige Romanze zu einem Text, der meine Verzweiflung ausdrückte, die Wälder verlassen zu müssen und die Orte – ‚geweiht durch ihre Schritte, verklärt durch ihren Blick‘ – und die kleinen rosa Schuhe meiner grausamen Schönheit.“

Auch wenn diese Romanze des zwölfjährigen Hector Berlioz später ein Opfer der Flammen wird: Wir werden noch einmal hören von ihr, und ebenso von Estelle, denn in „einem halbvergessenen Winkel dieses ständig lodernden Herzens schlummerte diese Jugendliebe, so wie das Dornröschen im Märchen.“3 Vielleicht habe der Komponist – so die Vermutung des großen Musikschriftstellers Kurt Pahlen – in jeder neuen Frauengestalt, die seinen Weg kreuzte, immer wieder dieses „Idealbild aus fernen Tagen“ gesucht; vielleicht gelte jede zärtliche Melodie, die er schreibe, ihr; vielleicht sei sie es, die er immer wieder verfluche, wenn er an einer Frau zugrunde zu gehen drohe.

Wie an Harriet Smithson. Das – so Berlioz selbst – „größte Drama“ seines Lebens. Zurück zu ihr. Zurück, besser gesagt: nun wieder vor ins Jahr 1827.IV

Man gibt Shakespeare in Paris. Seine Dramen sind dem französischen Publikum völlig unbekannt, bis eine englische Theatergruppe auf ein längeres Gastspiel in die Stadt der Liebe kommt und eine Welle der Begeisterung auslöst. „Ein gewaltiger Blitzschlag“ trifft auch Hector Berlioz, schon als er – obgleich des Englischen keineswegs mächtig – die erste Aufführung des „Hamlet“ im Odéon-Theater erlebt. In der Rolle der Ophelia sieht er die hinreißende Irin Harriet Smithson, blass und zerbrechlich, hört aus ihrem bezaubernden Munde in der dritten Szene des ersten Aktes die drei Wörter „Madame, it may“. Dunkel ist ihre Stimme, dunkel und rein; halbverschleiert ihr Blick … Da ist es um ihn geschehen: „Die Wirkung ihres wunderbaren Talents oder vielmehr ihres dramatischen Genies auf meine Phantasie und mein Herz kann nur mit derjenigen verglichen werden, die der Dichter selbst auf mich ausübte. Mehr kann ich nicht sagen.“

Beide, Shakespeare und Harriet, haben Hector Berlioz überwältigt, ihm einen „Schlag“ versetzt, von dem er sich kaum erholen kann. Zu „einem tiefen, unüberwindlichen Kummer“ gesellt sich „ein nervöser, sozusagen krankhafter Zustand“, der den Komponisten um den Schlaf bringt, ihn seiner Lebenslust und Schaffenskraft nahezu vollständig beraubt. Ziellos irrt Berlioz in Paris und Umgebung umher – Wanderungen, auf welchen er seine „Seele zu suchen“ glaubt –, komponiert eine Elegie auf Thomas Moores Gedicht „Wenn der, der dich anbetet“, in der sich nach seiner Überzeugung „zerrissene Herzen“ wiedererkennen …

Erschrocken über seine eigenen Empfindungen fasst er den Entschluss, nie wieder eine Shakespeare-Aufführung im Odéon zu besuchen. Nie wieder!

Nie wieder?


„Ist es wahr,

Dass du stets dort in dem Laubgang,

An der Weinwand meiner harrst?

Und den Mondschein und die Sternlein

Auch nach mir befragst?

Ist es wahr? Sprich!

Was ich fühle, das begreift nur,

Die es mitfühlt, und die treu mir

Ewig, treu mir ewig bleibt.“

Diese „Frage“, so der Titel des Liedes op. 9 Nr. 1, stellt Felix Mendelssohn Bartholdy im Frühjahr 1827, genauer gesagt: Anfang Juno. „Ist es wahr? – fragen Dichter und Komponist gemeinsam und verweilen dabei sehnsuchtsvoll auf einer dissonanten Harmonie.“4 Doch wer soll die Antwort geben? Wer ist die Angebetete, die in dem 18-Jährigen ein Feuer entfacht hat, für die er die obigen Verse sogar selbst geschrieben haben soll? – Es ist Betty Pistor, Tochter eines Astronomen, Nachbarschaft der Mendelssohns in der Leipziger Straße in Berlin, enge Freundin der jüngeren Schwester Rebekka. Sie singt in der Singakademie, die jeden Freitag unter der Leitung von Carl Friedrich Zelter probt, und sehnsüchtige Blicke wandern vom Klavier herüber zu ihr, an dem Felix mit klopfendem Herzen begleitet …

Die „Frage“ bleibt zunächst unbeantwortet, inspiriert den jungen Komponisten jedoch zu seinem a-Moll-Streichquartett op. 13, dessen ersten Satz er keine zwei Monate nach dem Lied vollendet; ein Werk, das – dieser Gedanke ist „nicht vollständig aus der Luft gegriffen“5 – die Jugendliebe Mendelssohns musikalisch widerspiegelt. Seinem nächsten Streichquartett (op. 12 in Es-Dur) stellt er zwei Jahre später (schon etwas mutiger weil hoffnungsvoll geworden?) sogar die heimliche Widmung „B. P.“ voran und verewigt ihren Namen darüber hinaus „auch im Allegro des ersten Satzes, dessen erstes Thema mit einer auffälligen Aufwärtsquarte B-Es beginnt, denjenigen Buchstaben ihres Namens, die sich musikalisch umsetzen lassen. In einem Rückgriff auf den Kopfsatz endet auch das Finale mit demselben Intervall.“6 Recht vielsagend ist zudem, dass Felix’ Freunde schmunzelnd meinen, das Quartett stehe nicht in Es-, sondern in „B. P.-Dur“ … Welche Geheimnisse mag da nur die zauberhafte Canzonetta, der zweite, wie ein „Lied ohne Worte“ komponierte Satz verbergen? Ein Stück, dem das gleiche Schicksal wie ähnlich kantablen Einzelsätzen beschieden sein wird: Vor allem im 19. Jahrhundert erlangt es in zahlreichen, teilweise abenteuerlichen Arrangements als „Schmankerl“ große Popularität.

Was man von Mendelssohns Liebe zu Friederike Dorothea Elisabeth Pistor, kurz Betty, nicht sagen kann. Die leidenschaftlichen Gefühle des jungen Komponisten werden nämlich nicht erwidert, und als dieser im Jahr 1830 von ihrer Verlobung mit dem Juristen Adolph Rudorff erfährt, werden die vor Opus 12 stehenden Initialen mit einem gezielten Strich kurzerhand geändert: aus B. P. wird so B. R.

„Die es [eben nicht] mitfühlt“ und „ewig treu“ ihm bleiben will: Sie erfährt erst dreißig Jahre später von dieser Widmungsgeschichte, die Mendelssohn hingegen unvergesslich bleibt: Freundlich wird er sich an Betty als „eine musikalische Seele“ erinnern; die sich zu der seinen jedoch leider nicht so unwiderstehlich hingezogen gefühlt hat …


Wie eine Motte zum Licht! Fest entschlossen, die Nähe „der Flamme Shakespeares“ (und untrennbar verbunden damit: den Zauber Harriets) ein für allemal zu meiden, erwirbt Hector Berlioz alsbald ein Billett für „Romeo und Julia“, um sich „vollends aufzureiben“, wie es in seinen Memoiren heißt, wo die verhängnisvoll anmutenden Auswirkungen in aller Eindringlichkeit beschrieben werden:

„Nach der Melancholie, den herzzerreißenden Schmerzen, der verzweifelnden Liebe, den grausamen Ironien und finsteren Grübeleien, dem Herzenskummer, dem Wahnsinn, den Tränen, der Trauer, den Katastrophen und verhängnisvollen Zufällen des ‚Hamlet‘, nach den dunklen Wolken, den eisigen Winden Dänemarks setzte ich mich der glühenden Sonne, den duftenden Nächten Italiens aus; ich sah jene Liebe, die so rasch wie ein Gedanke entsteht, die wie Lava brennt, die gebieterisch, unwiderstehlich, gewaltig und rein und schön wie eines Engels Lächeln ist; ich war Zeuge jener wütenden Racheszenen, jener glühenden Umarmungen, jener verzweifelten Kämpfe der Liebe und des Todes. Das war zu viel, und schon im dritten Aufzug, nur mühsam atmend und leidend, als ob eine eiserne Hand mein Herz umklammerte, sagte ich mit voller Überzeugung zu mir selbst: ‚Ach! ich bin verloren!‘“

„Wilt thou be gone? it is not yet near day:

It was the nightingale, and not the lark,

That pierced the fearful hollow of thine ear …“

Harriet als Julia! Berlioz, der (angewiesen auf eine französische Übersetzung) auch von diesen unsterblichen Versen kaum ein Wort versteht, ist hin und weg. Wäre er, Hector, doch nur ihr Romeo! Aber „mit Niedergeschlagenheit“ vergleicht er den „Glanz ihres Ruhmes“ mit dem „Dunkel“, in das sein Name gehüllt ist … Wie ließe sich das Herz der noch so fernen, der unerreichbar erscheinenden Geliebten gewinnen? Wie nur? – Mit der Macht der Musik natürlich, die er als Komponist doch zu entfesseln vermag!

Es wird die geradezu fixe Idee eines zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannten, nahezu mittellosen Musik-Studenten werden …

Berlioz scheut, ungeachtet seiner höchst angespannten finanziellen Situation, weder Kosten noch Mühen, um ein Konzert mit eigenen Werken zu organisieren. Von „vierundzwanzig Stunden sechzehn zur Arbeit“ benutzend, schreibt er die Orchester- und Singstimmen der ausgewählten Stücke (darunter die Ouvertüre zu „Waverley“ und eine Kantate mit dem Titel „Orpheus’ Tod“) eigenhändig nieder und räumt – beseelt durch der Liebe Kraft – selbst unüberwindbar scheinende Hindernisse aus dem Weg: Ein Konzertsaal wird gefunden, ein Orchester samt Dirigent (der allerdings „nicht dirigieren kann“) und Chor (der allerdings nicht singt, weil er seinen Einsatz verpasst) zusammengestellt.

Das an einem Sonntag im Mai 1828 stattfindende Konzert wird gleichwohl vom Publikum besucht und beklatscht, von der Presse gelobt – und von Harriet Smithson in keiner Weise zur Kenntnis genommen … „Es ist überflüssig, hinzuzufügen, dass die Einnahmen kaum ausreichten, um die Reklame, die Beleuchtung, die Abgabe an die Armen und meine unbezahlten Choristen, die so eindrucksvoll geschwiegen hatten, zu bezahlen“, resümiert Berlioz Jahre später ohne allzu große Verbitterung.

Seine Bemühungen sind, was das Herz seiner Julia anbelangt, zunächst völlig umsonst gewesen.


„Damals gab’s überall in Paris gratis schlechte Konzerte“, wird ein gewisser Franz Liszt Jahrzehnte später erzählen – selbstverständlich ohne damit seinen guten Freund Hector zu meinen, dem er im Frühjahr 1828 allerdings noch nicht begegnet ist. Noch nicht.

Das Wunderkind, mittlerweile 16 Jahre alt, hat es so satt, von Auftritt zu Auftritt zu hetzen und in den Salons reichen Adligen vorzuspielen – fühlt sich „erniedrigt zum mehr oder minder einträglichen Handwerk, gestempelt zur Unterhaltungsquelle vornehmer Gesellschaft“; wäre „alles in der Welt lieber“ als „Musiker im Solde großer Herren, patronisiert und bezahlt von ihnen wie ein Jongleur oder wie der weise Hund Munito“ – der zu dieser Zeit dafür berühmt geworden ist, dass er angeblich Französisch und Italienisch verstehen und sogar das Alphabet bellen kann …

Nach dem Tod des Vaters wohnt Franz zusammen mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung in der Rue de Montholon. Fest entschlossen, in der französischen Hauptstadt zu bleiben, ist er gezwungen, Klavier- und Harmonielehreunterricht zu geben, womit er erneut zum Söldner großer Herren wird und – als Lehrer äußerst gefragt – oft kilometerweit von einer Schülerin zur nächsten hasten muss, „kaum Zeit zum Verschnaufen“ findend. Aus dem gefeierten Virtuosen ist ein Musikpädagoge geworden, dessen Arbeitstag um 8 Uhr 30 am Morgen beginnt und erst spät abends endet, der ungesunde Angewohnheiten annimmt: Er beginnt zu rauchen und zu trinken, isst unregelmäßig, schläft zu wenig – und liebt zu sehr … All dies wird Liszt beibehalten ein Leben lang.

Und ein Leben lang wird auch in seinem Herzen ein Platz für die erste große Liebe sein: Caroline, Tochter des französischen Handelsministers Pierre de Saint-Cricq, eine seiner Klavierschülerinnen. Das gleichaltrige Mädchen ist seine Liline, seine Engelin, und er ihr Engel. Sie träumen davon, sich einst, in einer anderen, höheren Welt, für immer vereinigen zu dürfen – was ihnen in dieser versagt bleiben wird … Denn sie ist eine Adlige, Franz nur der Musiklehrer, ein Bürgerlicher. Das stört die Liebenden nicht, das bringt auch Carolines Mutter Jeanne nicht davon ab, eine Zeitlang ihre schützende Hand über das junge Glück zu halten. Der Comte de Saint-Cricq jedoch hat im Gegensatz zu seiner Gattin nur wenig Sinn für Romantik: Als diese am 1. Juli 1828 völlig unerwartet verstirbt, macht er der lästigen Sache kurzerhand ein Ende. Er gibt Franz unsanft zu verstehen, wie unerreichbar seine Tochter, wie unerwünscht er in seiner Familie ist, wie ungeeignet als Schwiegersohn – und verbietet ihm das Haus, ein für allemal. Caroline wird in eine standesgemäße Zweckheirat mit dem Grafen Bertrand d’Artigaux gezwungen und muss mit ihm in das südfranzösische Pau ziehen.

Die Verzweiflung ist grenzenlos, wie eine Liebe, die sich aus den jungen Herzen nicht vertreiben lassen will. Sie werden einander immer verbunden bleiben. Im Jahr 1844 sieht Franz seine Liline ein letztes Mal. Sie verspricht ihm zum Abschied, täglich nach dem Abendläuten der Glocken für ihn zu beten, und schreibt noch fast ein Jahrzehnt später, sie liebe ihn „mit aller Kraft“ ihrer Seele und wünsche ihm das Glück, das sie selbst nicht mehr kenne. – Und das sie selbst nicht mehr finden würde.

„Sie war eine der reinsten Offenbarungen des göttlichen Segens auf Erden“ – so Franz Liszt nach dem Tod der 60-Jährigen. Die Worte ihres Gebets für ihn sind die letzten der Engelin gewesen, die ihre unendliche Liebe zu ihm mit in eine höhere Welt nimmt …

Für den jungen Liszt hat das Leben seinen Sinn verloren. Die gewaltsame Trennung von Caroline stürzt ihn in eine schwere seelische Krise. Er leidet an Appetitlosigkeit und krampfartigen Anfällen, vernachlässigt seine unterrichtlichen Verpflichtungen, selbst die Musik. In religiösen und philosophischen Büchern sucht er Antworten, Trost und Zuflucht in der Kirche. Dort sei er fast immer, erzählt die Mutter einem Besucher, der das Glück hat, Franz zu Hause anzutreffen; „einen hageren, blass sehenden [sic], jungen Mann mit unendlich anziehenden Gesichtszügen. Er lagerte, tief nachdenklich, in sich verloren, auf einem breiten Sofa und rauchte, unter drei herumstehenden Klavieren, an einer langen türkischen Pfeife.“

Versunken in Melancholie. Das Leben hat seinen Sinn verloren für ihn …

„Dieser außerordentliche Knabe vermehrt die Liste der frühreifen Kinder, die auf der Erde nur erscheinen, um wieder zu verschwinden“, erfahren zu ihrem Entsetzen die Leser der Zeitung „Le Corsaire“. Ganz Paris hat „le petit Liszt“ einst in seinen Bann geschlagen, wenn das Wunderkind das Klavier vor den Ohren seiner Zuhörerschaft in ein Orchester verwandelte, wenn man bei diesem Hexenmeister der Tasten in Trance versank. Doch nun, einen Tag nach seinem 17. Geburtstag, muss auch der „Etoile“ die traurige Nachricht vermelden: „Franz Liszt, geboren 1811 in Raiding, gestorben 1828 in Paris.“


Die „Illustrated London News“ wird Hector Berlioz mit folgenden Worten zitieren:

„Diese Frau werde ich heiraten und über dieses Drama meine größte Sinfonie schreiben!“ Er soll dies ausgerufen haben, nachdem er Miss Harriet Smithson erstmals in der Rolle der Julia gesehen hat – Berlioz selbst dementiert dies jedoch in seinen Erinnerungen. Er habe es zwar getan, aber nichts dergleichen gesagt. Der Leser seiner Memoiren werde schon noch sehen, wie und unter welchen außergewöhnlichen Umständen das, was seine „bewegte Seele nicht einmal zu träumen“ gewagt habe, zur Wirklichkeit geworden sei.

Denn es scheint aufwärts zu gehen, zumindest was die eigene Karriere anbelangt. Im Juni 1828 wird Berlioz mit seiner Kantate „Hermine“ Zweiter beim Rompreis-Wettbewerb (der höchsten Auszeichnung des französischen Staates für Nachwuchskünstler), verfällt jedoch gleich darauf aufs Neue in „jenes dämmerige Nichtstun“, das bei ihm „zum Normalzustand“ geworden ist. Klagen um Gegenwart, Vergangenes und Kommendes mischen sich, wenn Berlioz in seinen Memoiren auf jene Tage zurückblickt:

„Fast ebenso ruhmlos wie zuvor, kreiste ich als unbekannter Planet um meine Sonne … eine strahlende Sonne, die aber – ach – so traurig verlöschen sollte! … Ha! die schöne Estella, die Stella montis, meine Stella matutina war damals wirklich ganz und gar verschwunden; sie hatte sich in den Tiefen des Himmels verloren, war von dem großen Gestirn meines Mittags verdunkelt worden, und ich hoffte nicht, sie jemals wieder am Horizont erscheinen zu sehen (…)“V

Berlioz vermeidet es in jenen Tagen, am Englischen Theater vorbeizugehen, und wendet die Augen ab, um Miss Smithsons Bild nicht sehen zu müssen, das bei jedem Buchhändler ausgestellt ist; er zieht es vor, ihr – mit der gebotenen Zurückhaltung selbstverständlich – zu schreiben:

„Rue de Rivoli, Hôtel du Congrès

Wenn Sie nicht meinen Tod wollen: im Namen des Mitleids (ich wage nicht zu sagen: der Liebe) lassen Sie mich wissen, wann ich Sie sehen kann!

Ich flehe Sie um Gnade an, um Verzeihen, kniefällig, unter Tränen!!!

O, wie bin ich unglücklich! Ich dachte nicht, so viel Leiden zu verdienen, aber ich segne die Schläge, die von Ihren Händen kommen!

Ich erwarte Ihre Antwort, als wäre es das Urteil meines Richters.

H. Berlioz“

Doch es bleibt aus, das Urteil. Keine einzige Zeile richtet Harriet an Hector.

Es sind wohl Briefe wie dieser (den Berlioz den Lesern seinen Memoiren sicher aus gutem Grund lieber vorenthalten will), die sie „eher erschreckt als gerührt“ zu lesen bekommt. Wer mag es ihr verübeln, dass sie nicht nur nichts zu entgegnen weiß, sondern darüber hinaus ihre Zofe anweist, keine weiteren Schreiben des unbekannten Verehrers mehr entgegenzunehmen (ein Entschluss, von dem sie sich durch nichts abbringen lässt)?

Die Lage des Liebenden scheint hoffnungslos. Zu allem Übel macht ein schreckliches Gerücht die Runde: Das Englische Theater soll geschlossen werden, die Truppe auf Tournee nach Holland gehen! Schon werden die letzten Vorstellungen angekündigt, doch Berlioz, für den es „ein unerträglicher Schmerz“ wäre, „Julia oder Ophelia“ noch einmal auf der Bühne zu sehen, hütet sich, diese zu besuchen. Da erreicht ihn die Kunde von einer Benefizveranstaltung zugunsten eines französischen Schauspielers, bei der auch zwei Akte aus „Romeo und Julia“ gegeben werden sollen – und schon ist ein Gedanke da und lässt sich nicht mehr aus dem Kopf bringen: den eigenen Namen auf dem Anschlagzettel neben dem Harriets gedruckt zu sehen!

Lassen wir Berlioz wieder selbst erzählen:

„Ich hoffte, unter ihren Augen einen Erfolg zu erzielen, ging, fasziniert von dieser kindlichen Idee, zum Direktor der Opéra-Comique und bat ihn, eine Ouvertüre von mir auf das Programm zu setzen. Im Einverständnis mit dem Dirigenten willigte er ein. Als ich zur Probe meiner Ouvertüre ins Theater kam, arbeiteten die englischen Schauspieler noch an der Szene im Grabgewölbe; der verzweifelte Romeo nahm Julia in seine Arme … mein Blick fiel unwillkürlich auf die Shakespeare’sche Gruppe. Ich stieß einen Schrei aus und floh händeringend von dannen. Julia hatte mich erblickt und gehört … ich flößte ihr Angst ein. Sie deutete auf mich und bat die Schauspieler, die mit ihr auf der Bühne waren, diesen Gentleman im Auge zu behalten.

Eine Stunde später kehrte ich zurück. Das Theater war leer. Die Orchestermitglieder hatten sich versammelt, man spielte meine Ouvertüre; ich hörte sie wie ein Nachtwandler, ohne eine geringste Bemerkung zu machen. Die Musiker applaudierten. Ich fasste einige Hoffnung, dass das Stück auf das Publikum und mein Erfolg auf Miss Smithson Eindruck machen werde. Ich armer Tor!

Man wird kaum an diese meine bodenlose Unkenntnis der Welt, in deren Mitte ich lebte, glauben. (…) Meine Ouvertüre wurde gut gespielt, sogar beklatscht, aber nicht wiederverlangt, und Miss Smithson erfuhr von der ganzen Sache nicht das Geringste. Nach einem neuen Triumph in ihrer Lieblingsrolle reiste sie am folgenden Tage nach Holland ab. Durch einen Zufall (an den sie niemals hat glauben wollen) [an dem Berlioz jedoch selbst zweifeln dürfte, d.V.] hatte ich mich in der Rue Richelieu Nr. 96, fast gegenüber von ihrer Wohnung, an der Ecke der Rue Neuve-Saint-Marc, einquartiert.

Nachdem ich, gebrochen und todkrank, seit dem Abend vorher bis nachmittags um 3 auf meinem Bett liegen geblieben war, stand ich auf und ging mechanisch, wie gewöhnlich, ans Fenster. Eine jener willkürlichen und feigen Grausamkeiten des Schicksals wollte es, dass ich in diesem Augenblick Miss Smithson in ihren Wagen steigen und nach Amsterdam abreisen sah … Es ist schwer, den Schmerz, den ich empfand, zu beschreiben; dieses Reißen im Herzen, diese schreckliche Verlassenheit, dieses Gefühl der Öde in der Welt, diese tausendfältigen Qualen, die mit dem halberstarrten Blut in den Adern kreisen, diesen Überdruss am Leben, diese Unmöglichkeit, zu sterben – davon hat selbst Shakespeare nie einen Begriff zu geben versucht. Er hat sich damit begnügt, im ‚Hamlet‘ diesen Schmerz zu den qualvollsten Leiden des Lebens zu zählen.

Ich komponierte nicht mehr; mein Verstand schien in dem Maße abzunehmen, wie meine Reizbarkeit zunahm. Ich tat nichts … als leiden.“

Es ist die Schwindsucht. Emilia hustet, keucht, ringt nach Luft, spuckt Blut. Vergeblich versuchen die Eltern, die drei Geschwister von dem Zimmer der Kranken fernzuhalten. Doch zu klein ist die Wohnung, zu groß die Neugierde. Was macht der Arzt da mit ihr? – Fingerlange braunschwarze Würmer sind es, die er aus einem Glas nimmt und auf ihrer nackten Haut verteilt, die irgendwann später prall geworden abfallen, rötlich schimmernd von ihrem Blut; von ihrem Blut, das die weißen Bettlaken tränkt, das auch in Glasglocken auf ihrem Rücken emporfließt, wenn Dr. Malcz es so will. Fast jeden Tag ist er bei der Schwester.

Fast jeden Tag werden Ludwika, Izabela und Fryderyk zu Augenzeugen. „Krankheit herrscht bei uns zu Hause (…) Unzählige Blutegel, Blasenpflaster, Senfpflaster, Tollkraut, Abenteuer über Abenteuer“, berichtet der Junge einem Freund. Wohl auch, wie wenig alles hilft. Wie Emilia immer blasser wird, immer müder, immer dünner, bis die Knochen hervortreten. Bis man ihn sehen kann in ihren Augen, den Tod. Scharf ist sein Geruch gewesen, süßlich und beißend.

„‚Mir aus den Augen! Mir aus dem Herzen!‘,

hieß dein Gebet! Ich folge mit Schmerzen!

‚Meine Gedanken zur Ruh will ich bringen!‘

Mädchen, das kannst du nicht erzwingen.“

Aus diesem Gedicht ist ein Lied geworden, Monate erst nach dem Frühlingstag, als man ihren Kindersarg aus dem Haus trug. Auch ein Klavierstück hat Fryderyk, der Siebzehnjährige, der sich in seine Musik flüchtet, komponiert und „Andante dolente“ – leidendes Andante – überschrieben; ein Trauermarsch in c-Moll.

Trauer und Liebe und Leiden – kann man sie je trennen? – vermischen sich ein erstes Mal im Leben, im Werk des Fryderyk Chopin.

„Der Mensch gleicht einem Balle, mit dem Zufall und Leidenschaft spielen“.

Das hat Franz Schubert in seinem Tagebuch notiert. Der Zufall, besser gesagt: das Schicksal hat es nicht gewollt, dass dem jungen Komponisten der Sprung in die bürgerliche Existenz gelingt, dass er und Therese ihr Glück finden. Seine Bewerbung um die Stelle an der „Deutschen Normalschul-Anstalt“ in Laibach (dem heutigen Ljubljana) scheitert im Jahr 1816. Therese heiratet später, dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend, einen Bäckermeister, wird Mutter von vier Kindern. „Sie war mir halt nicht bestimmt“, wird Schubert später einem seiner Freunde gegenüber äußern. Geblieben ist die Erinnerung an die Zeit seiner Jugendliebe, in der seine Schaffenslust nahezu unbändig gewesen ist und eine Fülle früher Meisterwerke entstanden sind; allein das Lied „Gretchen am Spinnrade“ genügt nach Ansicht Joachim Kaisers, ihm „Unsterblichkeit zu sichern“.

Untrennbar verbunden mit der Liebe zu einer Frau ist auch eine der letzten großen Kompositionen Franz Schuberts: die zauberhafte, Anfang 1828 entstandene Fantasie f-Moll.VI Sie ist einer Klavierschülerin gewidmet, der Komtesse Karoline Esterházy. Sich ihr, einer Adligen, zu nähern, ist Schubert jedoch nur am Piano vergönnt gewesen. Die Fantasie zählt zu einer Reihe von Werken für Klavier zu vier Händen, von denen einige vermutlich eigens für den Unterricht geschrieben worden sind, der Schülerin so einiges abverlangen und – gar nicht selten und sicher nicht zufällig – das Überkreuzen der Hände fordern … wohl die einzigen Berührungen zwischen Franz und Karoline.

Die Hoffnung auf eine Verbindung mit ihr, der zweiten und letzten großen Liebe seines so kurzen Lebens, ist von vornherein aussichtslos gewesen.

Nach Beethovens Beerdigung hat Schubert im Kreise seiner Freunde das Glas gehoben und auf den in ihrer Mitte angestoßen, der dem Verstorbenen als Erster folgen würde. – Und wird selbst derjenige sein. Schubert stirbt im Jahr darauf, am 19. November 1828, sehr wahrscheinlich an einer Typhuserkrankung. Wie es sich der Sterbende in einer seiner letzten Fieberfantasien gewünscht haben soll, wird er dicht neben dem Grab Beethovens beigesetzt.

Tief erschüttert weint ein junger Mann aus Zwickau, als er die Nachricht vom Tod Schuberts erhält.

I 17 Lieder aus den Jahren 1814 bis 1816 soll Schubert seiner Therese zum 18. Geburtstag geschenkt bzw. ihrem Bruder übergeben haben. Sie sind später als „Liederalbum der Therese Grob“ bekannt geworden.

II Robert Schumann hat in dieser Hinsicht einen berühmten Vorgänger: Im 18. Jahrhundert hat bereits Johann Sebastian Bach seine b-a-c-h-Fuge komponiert und damit andere Komponisten zu derlei Tonbuchstabenspielen inspiriert.

III Berlioz begann bereits 1848 – im Alter von 45 Jahren – mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen, die erst 1870, ein Jahr nach seinem Tod, als Buch an die Öffentlichkeit kamen.

IV Dem Leser, der angesichts der vielen Namen, Daten und Ereignisse fürchtet, alsbald den Überblick zu verlieren, mag die – auf das Wesentliche reduzierte – Zeittafel am Ende des Buches Orientierung bieten.

V Kürzungen innerhalb von Zitaten werden aufgrund der Fülle bereits vorhandener Auslassungspunkte in den Quellen (insbesondere in Berlioz’ Memoiren nahezu inflationär auftretend) so gekennzeichnet.

VI F-Moll – in der Romantik, insbesondere von Chopin recht häufig verwendet – wird in der Musiktheorie die Eigenschaft zugeschrieben, tiefgründig, düster und wehmütig zu sein. Johann Mattheson, ein Zeitgenosse Händels, sieht in ihr „einen finsteren, wilden Schmerz, eine tödliche Herzensangst“. Die kanadische Musikwissenschaftlerin und Schubert-Expertin Rita Steblin vertritt die interessante These, dass in der Tonartenwahl für die Fantasie f-Moll die Hoffnungslosigkeit der Liebe zu Karoline zum Ausdruck komme.

Ewig dein ...

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