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KAPITEL 4

SULAIMANIA

„Das hier war wirklich die Hölle“

Wie ein Foltergefängnis zu einem Museum wurde

Amna Suraka, die „Rote Sicherheit“, war für die Kurden so etwas wie ein rotes Tuch. Das Gefängnis aus Backstein lag mitten in der Stadt und war doch kein Teil von ihr. Es war ein Fremdkörper, Feindesland, Hassobjekt. Der irakische Geheimdienst Mukhabarat, Saddam Husseins wichtigstes Herrschaftsinstrument, wütete darin. Ein breiter Sicherheitsgürtel zog sich um die Mauern, kein Mensch durfte da entlangspazieren. Die Einwohner von Sulaimania mieden diesen Ort aber auch aus freien Stücken. Sie hatten keine Lust, dieses hässliche Symbol der Tyrannei auch nur von außen zu sehen – geschweige denn von innen.

Ich trete in den Innenhof und spüre etwas von dem Triumph, den die Kurden empfunden haben müssen, als ihnen diese Stätte der amtlich verordneten Brutalität in die Hände fiel. 1991, als US-Truppen den Irak besetzten und das Regime Saddam Husseins zum ersten Mal wankte, brach sich hier die Volkswut ihre Bahn und das Gefängnis wurde gestürmt. Erbeutete Panzer und Mörser aus den Beständen der irakischen Armee stehen heute als stumme Zeugen hier herum: ein Schrottplatz als Sinnbild der Befreiung. Auf den Mauern liegen wie damals Stacheldrahtrollen. Amna Suraka wurde großteils so belassen, wie es war. Es ist heute ein Museum des Schreckens.

Ein 55-jähriger Kurde ist an meiner Seite. Tahsin Kader ist sein Name, der Mann kennt sich hier besonders gut aus. Er war im Untergrund für die Peschmerga tätig, deshalb hatten Saddams Häscher ihn schon lange auf ihrer Liste, und an einem Januartag des Jahres 1990 schlugen sie zu. Sie stellten ihn auf einer Straße, er versuchte noch davonzurennen, aber schließlich hatten sie ihn. Er wehrte sich verzweifelt gegen seine Festnahme, sein linker Arm wurde dabei gebrochen, so hatte er letztlich keine Chance. Sie verbanden ihm die Augen, und als sie ihm das Tuch abnahmen, lag er in einer finsteren Zelle. Von diesem Tag an versuchten sie fünfzehn Monate lang, diesen Häftling in Amna Suraka zu brechen.

Wir gehen durch schmale Flure mit grauen Wänden, grauen Zellentüren und grauen Gittern. Wir kommen an vier Gemeinschaftszellen für Männer vorbei, diese waren damals stets vollgestopft, und an einer Gemeinschaftszelle für Frauen, dort wurden auch mehrere Kinder geboren. Skulpturen aus Gips tauchen vor uns auf, Werke des Künstlers Kamaran Omer: zwei Kinder, die sich an den Händen halten, und ein Häftling, der an eine Wand gekettet ist. Dreizehn Einzelzellen hatte das Gefängnis, sie waren gerade einmal drei Quadratmeter groß. Wir sehen gekritzelte Graffiti und schmutzige Decken auf dem Boden, man hat sie als Blickfang für den heutigen Besucher liegen lassen.

„Das hier ist Atta Ahmad Kader“, erklärt Ex-Häftling Tahsin und zeigt auf eine Statue. Atta war Lehrer und sang im Gefängnis immer wieder die Hymne des freien Kurdistan, mochten ihn die Wärter deswegen auch noch so fürchterlich prügeln. Er sang so laut, dass die anderen Gefangenen es hörten, es war wie eine Injektion, die alle Insassen stärken sollte. Er wurde ins Gefängnis Abu Ghraib verlegt und dort hingerichtet. „Atta ist“, so Tahsin, „zu unserem Widerstandshelden geworden.“

Tahsin weiß noch genau, wohin er damals gebracht wurde. Er trug die Häftlingsnummer 8 und landete in einer der Einzelzellen. „Jeder von uns hatte drei kleine Schalen: eine für das Essen, eine für Wasser, eine für Urin und Kot. Sie standen immer nebeneinander und es stank fürchterlich.“ Morgens um sieben gab es ein Stück Brot mit Tee oder Suppe, mittags Reis mit Suppe, das war’s. Manchmal hob er vom Mittagessen ein wenig auf, um abends noch einen Bissen zu haben. Wasser gab es einmal am Morgen und einmal am Abend, insgesamt einen Liter pro Tag. „Zweieinhalb Monate saß ich in dieser Zelle“, berichtet Tahsin. „Manchmal, wenn kein Wärter in der Nähe war, wisperten wir Neuigkeiten in die Nachbarzelle hinüber. Wir machten uns gegenseitig Mut. Als Saddam Hussein Kuwait besetzte, klammerten wir uns daran, dass die Amerikaner kommen würden – es war wie ein Traum, den wir ständig träumten.“

Wir kommen in die zwei schlimmsten Räume. In ihnen wurden die Häftlinge verhört. Die Gipsfiguren, ebenfalls von Kamaran gefertigt, zeigen auf realistische Weise, wie das vor sich ging. Wer nicht reden wollte, wurde rücklings auf den Boden gelegt. Zwei Männer banden seine Füße an eine Stange, die sie dann in Hüfthöhe hochzogen, sodass die Füße schräg nach oben zeigten. Ein Dritter schwang einen Stock und ließ ihn auf die Fußsohlen niedersausen. „Das war gar nicht mal so schlimm“, meint Tahsin, „das haben viele ausgehalten.“ Ich starre ihn ungläubig an, schon wieder so eine erstaunliche Person. Er lächelt sanft wie ein christlicher Pfarrer, der einem armen Sünder verzeiht.

„Aber das hier war wirklich die Hölle“, sagt er, als wir in den nächsten Raum gehen, und nun schwindet das freundliche Lächeln doch aus seinem Gesicht. Hier hängt, in Lebensgröße, eine Skulptur an einem Balken unter der Decke und zeigt die Prozedur genau so, wie sie war. „Wir mussten uns auf einen Tisch stellen, die Arme auf dem Rücken gefesselt“, erklärt Tahsin. „Der Tisch hatte Rollen an seinen vier Beinen, den zogen sie dann unter uns weg.“ Die Gesetze der Physik marterten den Häftling auf unerbittliche Weise. Die Arme wurden nach oben gerissen und am Schultergelenk ausgekugelt. Die Schmerzensschreie, die die Gefolterten ausstießen, wurden oft per Tonband aufgenommen – und tags darauf so laut abgespielt, dass alle Insassen sie zu hören bekamen.

„Das war aber noch nicht alles“, fügt Tahsin hinzu. „Oft hat ein Wärter sich noch an mich gehängt, um meine Schmerzen zu erhöhen. Und der Verhörspezialist, der vor mir am Schreibtisch saß, ließ Stromkabel an meinen Genitalien anbringen – so haben sie uns zusätzlich mit Elektroschocks gequält.“ Acht Mal hat er hier an der Decke gehangen und acht Mal hat er den Mund nicht aufgemacht. Er bemerkt meinen fassungslosen Blick. „Ja, stimmt schon“, meint er, „in diesem Raum haben fast alle gestanden. Aber ich eben nicht.“

„Woher hatten Sie nur die Kraft, das zu überstehen?“, stoße ich hervor.

„Wir alle, die Peschmerga waren, wussten von Anfang, dass im Ernstfall der Tod auf uns wartet. Der Name ‚Peschmerga‘ sagt es ja aus. Außerdem wussten wir aber auch: Wer gesteht, rettet sein Leben eben nicht. Alle, die hier etwas preisgegeben haben, wurden nach ihrer Aussage erschossen. Durchhalten war also der einzige Weg, um am Leben zu bleiben. Und solange du lebst, lebt die Hoffnung in dir.“

Ich atme schwer, als wir den Raum verlassen. Doch die Hoffnung, erzählt Tahsin, ging tatsächlich in Erfüllung. Im März 1991 brach in Sulaimania, wie in allen Kurdengebieten, der letzte große Aufstand los. Die Kurden glaubten, nun sei ihre Stunde gekommen, weil die Amerikaner Kuwait befreit hatten und auf Bagdad vorrückten. Amna Suraka wurde vom Volk gestürmt, Tahsin aus seiner Zelle befreit, wie alle anderen Häftlinge auch. „Ich wog zwar nur noch vierzig Kilogramm“, sagt er. „Aber ich war am Leben geblieben.“

In den Büros der Geheimdienstleute gingen fast alle Akten in Flammen auf. Tahsin aber war klüger als die entfesselte Menge. Er füllte einen Sack bis oben hin mit Dokumenten, den schleppte er aus dem Gefängnis heraus. Der Weg zum Ausgang war mit Leichen übersät, alle erschossene Sicherheitsleute. „Glauben Sie mir, ich suchte mir mühsam einen Weg zwischen ihnen hindurch. Auf tote Körper treten – das ist doch irgendwie unmenschlich, oder?“


Vergossenes Blut für die kurdische Fahne: Darstellung im ehemaligen Gefängnis Amna Suraka

Wir gehen zusammen ins Obergeschoss. Dort hat Ako Ghareb, der Museumsdirektor, mit künstlerisch-kreativen Mitteln einen Raum zur Erinnerung an die Operation „Anfal“ gestaltet. Einst hatten Geheimdienstler in höheren Rängen hier einen direkten Verbindungsflur von ihren Büros zur Kantine. Nun ist daraus eine glitzernde Halle geworden, 24 Meter lang, 5 Meter breit, 5,5 Meter hoch, mit 182.000 Spiegelglassplittern, die die Zahl der Opfer repräsentieren. In einer Ecke hängen Karten mit farbigen Pfeilen, die Saddams Vernichtungskrieg generalstabsmäßig darstellen, und die Namensliste der Toten zieht sich – Rot auf Schwarz – schier endlos die Wände entlang. An der Decke leuchten 4500 kleine Lämpchen, sie symbolisieren die Zahl der zerstörten Dörfer. „Die Lichter sollen aussehen wie Sterne“, erklärt Ako. „Die Sterne sind die einzigen Zeugen, die wir haben.“

„Kommen Sie noch mit auf einen Tee?“, fragt Tahsin, der Mann, der dies alles überstand. „Mein Büro liegt gleich hier um die Ecke.“ 2006 bis 2009 war er Minister für Wasservorkommen, nun führt er ein Ingenieurbüro. Es liegt gerade mal 100 Meter von Amna Suraka entfernt.

„Hätten Sie sich“, so frage ich, „nicht eine schönere Nachbarschaft aussuchen können?“

„Mein Mithäftling Dr. Kamaran Karadachi hat es noch viel besser“, sagt er und lacht nun ganz herzhaft. „Er ist Lungenspezialist und hat eine eigene Klinik. Sehen Sie das Gebäude da drüben? Es liegt dem Ex-Gefängnis genau gegenüber. Wenn er will, kann er jeden Tag von seinen oberen Stockwerken aus mitten hineinschauen.“

Dann aber wird er ernst. Er meint, früher seien die Peschmerga-Führer nichts weiter als die Ersten unter Gleichen gewesen – „vergleichen Sie das einmal mit heute“. Früher seien die Kurden im Leiden geeint gewesen – heute drifte die Gesellschaft immer mehr auseinander. Der Kampf, für den er seine ganze Jugend hergab, sei noch immer nicht zu Ende. „Wir müssen jetzt“, sagt er, „den Kampf im Innern gewinnen – und das ist schwerer als gegen den Feind von außen.“

ERBIL

Ein Taxifahrer, der Englisch spricht? Äußerst ungewöhnlich in Kurdistan. Kurdisch, Arabisch, Türkisch – das haben sie alle drauf. Aber Englisch? Das hier muss ein Sonderfall sein.

„Ich bin Lehrer“, verrät der Mann am Steuer. „Seit zwei Monaten kriege ich kein Gehalt mehr. Normalerweise erhalten wir es aus Bagdad. Aber aus dem Geldhahn dort kommt es jetzt nur noch tropfenweise. So musste ich mir halt einen zweiten Job zulegen.“

Die Stunde der Kurden

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