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Kapitel 1 – Ein Erbrechtsfall für Marinus Happinger

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„Eine Viertelstunde gebe ich ihnen noch“, murmelte Marinus Happinger grimmig, „mehr nicht.“ Es war jetzt genau zehn Uhr und seit zwei Stunden ging das schon so mit dem Lärm. Der Boden seines Arbeitszimmers vibrierte. Von den Räumen im Stockwerk unterhalb seiner Anwaltskanzlei, kam das Hämmern und Bohren, das ihn nervte.

In erster Lage im Zentrum Rosenheims hatte er die Kanzlei gewählt – und nun dieses. Er sah ja ein, dass es bei einem Mieterwechsel nicht ohne Lärm abgehen konnte, aber es traf ihn eben zu oft. Bis 1990 waren die Räume im ersten Stock des recht ansehnlichen Geschäftshauses an einen Makler vermietet. Dann war ein Herrenausstatter eingezogen, der die Räume nach seinen Vorstellungen umbauen ließ. Ja und jetzt in diesem Frühjahr 1996 war es eine der großen Rosenheimer Banken, die den Räumen mit umfangreichen Trockenbaumaßnahmen ein neues Gesicht verleihen wollte, bevor sie hier im Zentrum der Stadt ihre x-te Beratungsstelle etablierte.

Offenbar hatten sie es nicht eilig. Einige Tage Baulärm hätte sich Happinger ja eingehen lassen, aber es war nun schon über eine Woche vergangen und rein gar nichts deutete auf die baldige Fertigstellung hin.

Unregelmäßig, ja geradezu tückisch kam dieser Baulärm daher. Er hatte leider nicht das Verlässliche eines in berechenbaren Zeiten aufkommenden Verkehrslärms; nein – dieser Lärm wies geradezu sadistische Züge auf. Er brach plötzlich ab. Minutenlang gaukelte er einem die ersehnte Ruhe vor und setzte dann unerwartet wieder ein.

Heute war es besonders schlimm für Happinger, denn er arbeitete an einer Klage. Für seine Arbeit am Schriftsatz hätte er Ruhe gebraucht, so aber schreckte er jedes Mal auf, verlor den Faden und kam nicht so recht voran. Er schob das Konzeptpapier und den Bleistift beiseite, stand auf und stellte sich an eines der nach Süden gehenden Fenster. Er schaute hinunter auf die Rathausstraße und weiter nach rechts auf die Kreuzung, an welcher die Prinzregentenstraße begann. Autos und LKWs bewegten sich im Schritttempo auf dieser Verkehrsachse, die den Max-Josefs-Platz von der hier beginnenden Münchner Straße trennte und damit eine durchgehende Fußgängerzone verhinderte.

Die Leute hatten es eilig. Sie flüchteten vor dem Regen, der ganz unvermutet eingesetzt hatte. Niemand war auf die Idee gekommen, an diesem Morgen, der mit so viel Sonne begonnen hatte, einen Schirm mitzunehmen. Leicht bekleidet und gut gelaunt waren sie aus dem Haus gegangen. Jetzt aber zeigte ihnen der April seine Launenhaftigkeit und damit war auch die gute Stimmung der Leute dahin.

Bei einem solchen Wetter hielt sich Happinger eigentlich ganz gerne in seinem Büro auf. Heute aber verleidete ihm der unerträgliche Baulärm im Haus so ziemlich alles. Er hatte keinen Grund, die Passanten da drunten zu bedauern; vielmehr verdiente er es, bedauert zu werden. Wieder dröhnte ihm der Lärm eines Bohrhammers in den Ohren, brach ab und setzte gleich darauf wieder ein.

„Eine Viertelstunde, mehr nicht“, grummelte Happinger wieder und wieder. Über Klagen auf Unterlassung und Schadensersatz dachte er nach, welche gegen die Urheber des Baulärms oder zumindest gegen den Vermieter geführt werden könnten. Die zu stellenden Anträge und die komplette Klagebegründung hatte er vor Augen, doch selbst in diesen Gedanken wurde er gestört. Gerade erreichte der Ohren betäubende Lärm wieder einen Höhepunkt. In seiner Phantasie drangen die Bohrer jetzt schon durch die Decke. Jeden Moment mussten sie sichtbar werden. Wie Pilze nach einem warmen Regen, nur eben nicht still wie diese, sondern mit höllischem Lärm würden sie den Boden durchbrechen. Happinger presste sich die Handflächen gegen die Ohren und beobachtete das leichte Zittern der Gegenstände auf seinem Schreibtisch, der Bilder an den Wänden und der Bücher in der Bibliothekswand hinter ihm.

Sogar die schwere Messing-Schreibtischleuchte bewegte sich. Ihr grünmetallener Schirm schien sich in ein Instrument für zeitgenössische Musik verwandelt zu haben, denn er gab Töne in Nerv tötender Frequenz von sich.

Happinger überlegte, ob er bei einem derart dringlichen Fall nicht doch auf der Stelle eine einstweilige Verfügung erwirken und damit dem Spuk ein Ende machen sollte. Während er die rechtlichen Möglichkeiten durchdachte und sie sorgfältig gegeneinander abwog, verstrich das Ultimatum, welches er den Lärmverursachern und deren Hintermännern stillschweigend gesetzt hatte.

Es war genau Viertel nach Zehn. Schlagartig hörte das Bohren und Hämmern auf. In den Kanzleiräumen waren jetzt nur noch die gewohnten Geräusche aus dem Sekretariat zu hören.

„Na geht doch“, dachte Happinger und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, um den Schriftsatz erneut in Angriff zu nehmen. Aber noch bevor er den zuletzt zu Papier gebrachten Text lesen und daran anknüpfend den halb fertigen Entwurf weiter bearbeiten konnte, klopfte es an der Tür seines Arbeitszimmers.

„Ja bitte!“ rief Happinger.

Lisa Prezz, Happingers Anwaltsgehilfin, schaute durch die halb geöffnete Tür und meldete: „Herr Rechtsanwalt, da ist ein Herr Gfäller in einer Erbangelegenheit. Er ist sehr aufgeregt und möchte unbedingt gleich mit Ihnen sprechen.“

„Wollen sie alle“, grummelte Happinger in seinen nicht vorhandenen Bart und beinahe wollte er Fräulein Prezz schon anweisen, dem Drängler einen Termin erst in der nächsten oder in der übernächsten Woche anzubieten. Aber dann überlegte er, dass dieser Mann, der anscheinend über gar keine Geduld verfügte, womöglich sofort beim nächsten Anwalt anfragen würde, und dann käme eben dieser zu einem Mandat, das sich ja vielleicht als interessant herausstellen könnte.

Das wollte Happinger dann doch nicht.

Erbrechtsfälle fand er sehr interessant und nicht selten waren sie auch lukrativ.

Wie interessant und lukrativ dieser Fall werden würde, ja dass es vielleicht einer der spannendsten Fälle in seiner ganzen Anwaltslaufbahn werden könnte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

„Also lassen Sie den Herrn Gfäller bitte im Wartezimmer Platz nehmen und sagen Sie ihm, dass es noch einen Moment dauert“, raunzte Happinger immer noch unwillig dem Fräulein Prezz zu.

Inzwischen drangen unter ihm die Bohrhämmer schon wieder in die Decken und Wände. „Na – das kann ja eine heitere Besprechung werden“, dachte er, „wenn die Nerven beim Anwalt u n d beim Mandanten blank liegen.“

An eine Fortsetzung der Arbeit am Schriftsatz war allerdings auch nicht zu denken.

Er rannte hinaus in den Flur, vorbei an der halb offenen Türe des Wartezimmers und rief Fräulein Prezz noch zu: „Bin gleich zurück! Kaffeepause!“. Er nahm nicht den Aufzug, eilte die Treppe nach unten. Sekunden später stand er den heißen Kaffee schlürfend am Stehausschank des Tschibo-Kaffeeladens.

Es kam ihm ausgesprochen ruhig vor in dem belebten Laden.

Hatten ihn die Bohrgeräusche taub gemacht?

So, dass es niemand merkte, zog er erst links und dann rechts kräftig an seinen Ohrläppchen. Es half. Schlagartig waren die Ohren wieder auf den normalen Empfang von Geräuschen eingestellt. Da war es, das muntere Geplapper von allen Seiten, wie er es von diesem stark frequentierten kleinen Laden unter den Arkaden kannte. Das Ziehen an den Ohrläppchen hatte auch bei Bergbahn-Fahrten und Flugreisen oft diese Wirkung gehabt.

Auf dem Rückweg in sein Büro ließ Happinger im Vorbeigehen die Arbeiter in der unteren Etage wissen, dass in der nächsten halben Stunde genau über ihnen eine äußerst wichtige Besprechung stattfinden wird, und dass er sie mit einem Sack voller Paragraphen aus dem Haus jagen wird, wenn sie den Lärm nicht vorübergehend unterlassen. Einer von ihnen, vermutlich der Vorarbeiter, hob die Schultern und drehte die Handflächen nach oben.

„Auch eine Antwort!“ dachte Happinger. Er hoffte aber, dass ihm sein drohender Auftritt doch zumindest eine ungestörte halbe Stunde verschaffen würde. „Der Herr Gfäller wird schon ungeduldig“, flüsterte ihm Fräulein Prezz zu, als er durch die Bürotür kam.

Happinger nahm es zur Kenntnis.

Natürlich hätte er den Mandanten auch sofort herein bitten können, aber eine Wartezeit wollte er ihm schon zumuten.

Guten Anwälten, so dachte er, eilt der Ruf voraus, vielbeschäftigt zu sein. Happinger war selbstbewusst genug, sich für einen sehr guten Anwalt zu halten. Einem Mandanten, der so überraschend daherkam, wie dieser Herr Gfäller, war eine angemessene Wartezeit zuzumuten. Aber jetzt konnte es ja losgehen.

„Herr Gfäller, kommen Sie bitte mit mir?“ sagte Happinger.

Er reichte dem Mandanten beiläufig die Hand und geleitete ihn persönlich zur Tür des Besprechungszimmers.

„I bin da Gfäller Lenz!“ dröhnte es ihm wie aus einem Schalltrichter über den Rücken direkt ins Ohr. Der Gfäller Lenz schrie es heraus, was daran lag, dass er im Wartezimmer wohl ein gehöriges Quantum Baulärm mitbekommen hatte. In seiner Aufregung hatte er aber nicht bedacht, dass mittlerweile von unten gar kein Lärm mehr kam.

„Hoppla, des war jetzt aber a bissl z`laut“, entschuldigte er sich mit betroffener Miene und hochgezogenen Schultern. „Macht nichts!“ meinte Happinger. Er war zufrieden, dass sein Protest anscheinend Erfolg hatte, sodass er auf eine ungestörte Besprechung hoffen konnte. „Nehmen Sie doch bitte Platz!“ sagte er und deutete auf einen der Besucher-Stühle. Er selbst ließ sich in seinen Schreibtisch-Sessel gleiten und nahm die Haltung ein, die er der Gewohnheit folgend bei Besprechungen immer einnahm. Mit seiner linken Hand hatte er die Sessellehne fest im Griff, der rechte Arm war abgewinkelt auf die rechte Lehne gestützt. Der Daumen der rechten Hand stützte das Kinn, der Mittelfinger folgte dem Lippenbogen und der stramm zum Ohr weisende Zeigefinger drückte fest gegen die Wange. Zuhören und Schweigen mochte das bedeuten. Tatsächlich war Happinger schon gespannt darauf, was ihm dieser Herr Gfäller zu sagen hatte.

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