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Kapitel 6 – Der Sonntag eines Freiberuflers

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Marinus liebte die berufliche Abwechslung. Der Anwaltsberuf bot ihm da schon einiges, aber es war ihm nicht genug. Er übernahm deshalb seit nunmehr schon zwanzig Jahren Lehraufträge. Die Vorlesungen vor angehenden Architekten, die mit dem Bau- und Architektenrecht zum ersten Mal in Berührung kamen, empfand er als erfrischend.

Vor allem aber schätzte er es, dass er sowohl als Rechtsanwalt in eigener Kanzlei als auch bei dieser Lehrtätigkeit nahezu vollkommen frei war von Fremdbestimmung.

Niemand schrieb ihm vor, wann und wo und wie er die übernommenen Rechtsfälle bearbeitete oder wie er seine Rechtsvorlesungen gestaltete. Es gab freilich Zeiten, zu denen er von früh bis spät ohne Unterbrechung in seiner Kanzlei arbeitete, etwa um knifflige Rechtsfragen zu lösen.

Das war dann der Preis der Freiheit.

Nach einem Tag, an dem er sich entspannt und nichts Berufliches an sich herangelassen hatte, stand Marinus ein Wochenende bevor, an dem er einen Stapel Akten „aufarbeiten“ musste. Er fuhr gleich nach dem Sonntagsfrühstück in die Kanzlei. „Es muss leider sein.

Mittags bin ich zurück!“ versprach er Anna und schon war er dahin.

Weniger als fünf Minuten brauchte er von Zuhause bis in die Rosenheimer Innenstadt.

Sonntags waren nur wenige Leute unterwegs. In der Kanzlei umfing ihn absolute Ruhe, und so schaffte er an diesem Vormittag ein weitaus größeres Arbeitspensum als an gewöhnlichen Arbeitstagen, an denen nahezu ständig Anrufe durchgestellt wurden und auch sonst alles sehr vom Zeitdruck beherrscht wurde.

Schon gegen halb zwölf Uhr war er fertig. „Ich fahre jetzt los!“ ließ er Anna wissen.

Nur der Gaudi halber fügte er noch hinzu: „Butta gli !“. Italienische Ehemänner pflegten damit ihren zuhause am Küchenherd stehenden Ehefrauen ungewöhnlich wortkarg anzukündigen, dass sie in etwa 5 Minuten nachhause kommen werden. Das „Butta gli !“ bezog sich auf die Spaghetti, die nun in den Topf zu werfen waren, damit sie bei der Ankunft des padrone gerade rechtzeitig und „al dente“ auf den Tisch kommen konnten.

„Alter Macho !“ antwortete Anna. Marinus lachte und hängte ein.

Im nächsten Moment war er im Aufzug und auf dem Weg zu seinem Auto, das er in der Kirchengasse geparkt hatte.

Mit Begegnungen hatte er nicht gerechnet, aber es kamen ihm nun doch auf halbem Weg viele Leute entgegen. Es waren Leute, die brav ihrer Christenpflicht nachgekommen waren und den sonntäglichen Gottesdienst in der benachbarten Stadtpfarrkirche St. Nikolaus besucht hatten.

„Du liebe Güte, hoffentlich treffe ich hier keine Bekannten!“ schoss es ihm durch den Kopf.

Sein schlechtes Namensgedächtnis hatte ihm schon manchen Streich gespielt, wenn er Leute in der Stadt traf, die ihm namentlich hätten bekannt sein sollen.

Und noch dazu war Sonntag.

Er malte sich das aus. Was mussten sie sich denken, wenn sie ihn da aus seiner Kanzlei kommen sahen? Angesichts dieser gläubigen Schar kam er sich wie ein scheues, heidnisches Arbeitstier vor.

Tatsächlich hatte er sie – die Begegnung, die er gerne vermieden hätte. Dr. Püller, ein Richter am Amtsgericht und ebenfalls Dozent an der hiesigen Fachhochschule, hatte offenbar den Sonntagsgottesdienst besucht. Jetzt kam er auf dem Nachhauseweg am Riedergarten entlang direkt auf Marinus zu. Vergeblich hatte der noch versucht, in aller Eile unbemerkt sein Auto zu erreichen. Doch der Richter hatte ihn längst gesehen.

Ob er denn gar so viel arbeiten müsse? rief er Marinus zu.

Marinus hatte sich diese oder ähnliche Fragen immer wieder einmal anhören müssen.

Er wäre ja auch lieber bei seiner Familie gewesen, aber über ihm schwebte eben allzu oft das „Fristen-Schwert“. Besonders die von den Gerichten gesetzten Schriftsatzfristen mussten streng eingehalten werden, und da kam er sich zuweilen vor, wie der legendäre Damokles, dem Dionysios erlaubte, an der königlichen Tafel zu sitzen, wobei er aber dem armen Damokles den quälenden Zustand allgegenwärtiger Bedrohung dadurch vor Augen führte, dass er genau über ihm an der Decke des Festsaales ein Schwert anbringen ließ, das nur mit einem Rosshaar befestigt war.

„Fristsache! Sie wissen ja!“ rief Marinus zurück. Der Richter nickte verständnisvoll.

Die Fristen waren zweifellos eine Grausamkeit des Anwaltsberufes; aber gab es überhaupt einen Beruf, der von Grausamkeiten frei war?

Eine weitere Begegnung blieb Marinus zum Glück erspart. Er schwang sich ins Auto und beeilte sich, nachhause zu kommen. Als er fünf Minuten später zuhause eintraf, erwarteten ihn die beiden Mädchen schon vor dem Haus. „Papa ist da! – Papa ist da!“ riefen sie, liefen ihm entgegen und umarmten ihn. Für Marinus war der herzliche Empfang, der ihn erwartete, wenn er von der Arbeit heimkam, wie eine Kraftquelle. Bei seiner großen Familie, die er so liebte, hatte er sich nie die Frage stellen müssen: „Wofür arbeite ich eigentlich?“

„Hallo, ich zieh mich nur noch rasch um!“ rief er ins Haus. Er eilte in sein Zimmer, wo er Anzug, Hemd, Krawatte und Schuhe, also alles was ihn einengte, gegen bequeme Jeans, T-Shirt und offene Schlappen tauschte. Als er nach unten kam, empfing Anna ihn mit einem dicken Kuss und mit der Nachricht, dass sie beim Metzger ein ganz frisches Kalbsbries bekommen hatte. Für Marinus war das eine gute Nachricht. Kalbsbries stand auf seiner Leckerbissen-Skala ganz oben. So, wie es sich gehörte, hatte Anna das Bries zuvor einige Stunden gewässert, heiß überbrüht, die dünne Haut abgezogen und es in Röschen geteilt.

Marinus konnte nun zusehen, wie sie das Hirn erst in verquirltem Ei und dann in Semmelbröseln wälzte und anschließend in der Pfanne auf zerlassener Butter goldbraun briet. Anna machte das nur ihm zuliebe.

Sie konnte das im Rohzustand schlabbrige Zeug nicht ausstehen, und wenn es fertig gebraten war, erschien es ihr auch nicht appetitlicher, da sie es ja vorher hatte anschauen und in den Händen halten müssen.

„Schmeckt´s dir, mein Lieber?“ fragte sie ihn und verzog dabei das Gesicht wie bei der nach einem Schnitt in den Finger gestellten Frage „Tut’s weh?“.

Marinus ließ sich gerade eines der knusprig braunen Bries-Röschen auf der Zunge zergehen. Alle am Tisch erwarteten nun sein Urteil.

Es dauerte bis er antwortete.

„Ein Gedicht“ sagte er und legte dabei eine Hand auf die ihre als Zeichen des Dankes dafür, dass sie sich wieder einmal für ihn aufgeopfert hatte.

Die Frage, ob sie es nicht wenigstens probieren möchte, stellte Marinus nicht, denn er kannte ja Annas Abneigung. Bevor er ein verlegenes „Ja – vielleicht irgendwann!“ provozierte, wollte er lieber gar keine Antwort.

Als passenden Wein zum feinen Kalbsbries hatte Marinus einen Randersackerer Sonnenstuhl aus dem Keller geholt. Ein Winzer aus Franken lieferte ihm seit Jahren den weißen Burgunder, der ein wenig nach Quitte, Birne und Walnuss duftete.

Wenn Anna schon das Kalbsbries verschmähte, so war jedenfalls der Wein auch nach ihrem Geschmack, das wusste Marinus. Für sich und die Kinder hatte sie Schnitzel mit Pommes aufgetischt, und es damit wieder einmal geschafft, alle glücklich zu machen.

Am Nachmittag waren die Kinder bei Freunden gewesen.

Marinus hatte einen ungewöhnlich langen Mittagsschlaf gemacht und Anna war endlich mit dem Lesen ihres Kriminalromans ein gutes Stück weitergekommen. Jetzt, am Abend,

ging jeder seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Im Falle der Kinder bedeutete das, dass sie endlos telefonierten, Audio-Kassetten hörten oder mit einem spannenden Buch in einer Ecke verschwanden.

Anna und Marinus suchten die kostbare Zeit für ein schönes Miteinander zu nutzen.

Man hätte sie als „Harmonie-Junkies“ bezeichnen können. Tatsächlich hatten die beiden in den bisher 22 Jahren ihrer Ehe noch nie gestritten. Warum das so war, konnten sie sich selbst nicht erklären. Auch an diesem Abend hatten sie nicht die geringste Lust, das Geheimnis zu ergründen. Es genügte ihnen vollkommen, dass es in ihrer kleinen Welt friedlich zuging. „Soll ich noch eine Flasche von dem guten Frankenwein öffnen?“ fragte Marinus. „Hhhmm“, meinte Anna, „ein Glas Champagner wäre vielleicht auch eine gute Wahl, was meinst du?“

Da war sie wieder, die Harmonie, das Suchen nach Übereinstimmung und das sich daraus ergebende gute Gefühl, auch in Kleinigkeiten das Glück einer guten Beziehung zu spüren.

„Welchen Champagner haben wir denn heute?“ fragte Marinus in den weit offenen Kühlschrank hinein. „Ahh, da hat sich doch Fürst Metternich wieder einmal nach vorne gedrängt! Dann wollen wir ihm halt die Ehre erweisen!“. Marinus nahm die schwere, dunkelgrün schimmernde Flasche mit dem fürstlichen Etikett vorsichtig heraus.

Den Korken wollte er diesmal nicht mit lautem Knall aus dem engen Flaschenhals jagen, doch er unterschätzte den Druck in der Flasche.

Als er den Korken zur Hälfte gezogen hatte, kam ihm der Rest mit einer Ladung Sekt so abrupt entgegen, dass er mit durchnässtem Hemd da stand. Anna, vermutlich inspiriert von dem Namen „Fürst Metternich“, der ein halbes Jahrhundert vor dem Fürsten und Reichskanzler Bismarck die politische Weltbühne mit Geschick beherrschte, kommentierte das ungeschickte Öffnen der Flasche mit einem Witz. „Kennst du den schon?“ fragte sie.

„Bismarck wurde auf einem Empfang von der Ehefrau des französischen Botschafters darauf angesprochen, wie schwierig doch die deutsche Sprache für einen Ausländer sei. Manchmal wisse man gar nicht, welches von mehreren in Frage kommenden Wörtern zu verwenden sei, etwa im Fall von <senden> und <schicken>.

Und weißt du, was Bismarck darauf sagte?“ Marinus schüttelte den Kopf.

„Nun, er sagte: <Gnädige Frau, das ist in der Tat oft schwierig. Nehmen wir zum Beispiel Ihren Herrn Gemahl. Er ist ein Gesandter, aber eben kein Geschickter.>“

„Jetzt hab ich zu meinem nassen Hemd auch noch den Spott“, gab Marinus sich klagend.

„Aber nein“, beschwichtigte ihn Anna. „Du bist doch mein Geschicktester. Alles gut???“ „Alles gut!!!“, antwortete er und hob das Glas.

„Prost“ sagten sie gleichzeitig und mit einem hellen Klang stießen die Gläser fast ein wenig zu heftig gegeneinander.

ANWALT HAPPINGER

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