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Kapitel 1. Ein Tag, der alles im Leben verändert

1.1.

Alf wacht langsam auf. Sein Gesicht ist noch halb verdeckt von der Bettdecke mit den bunten Marienkäfermustern. Durch die Ritzen der Rollos scheint schon die Morgensonne, und hinterlässt auf dem Boden und der Wand schmale lange Streifen, wie aus flüssigem Gold. Alf sieht die Helligkeit zuerst durch die geschlossenen Lider.

Er ist noch etwas benommen, dann macht er die Augen einen kleinen Spalt auf, und schielt an die Decke.

Alf hat ein Zimmer zusammen mit seiner 2 Jahre älteren Schwester Lilly, aber solche Zahlen sind für ihn noch nicht greifbar. Lilly ist die große Schwester.

Die anderen Geschwister sind Juan und Sarah, aber die haben ein eigenes Zimmer, die sind schon sieben und neun Jahre alt, aber auch diese Zahlen sagen Alf noch nichts. Er ist schließlich erst knapp drei.

Alf merkt, dass Lilly einen Schnaufer von sich gibt. Er schiebt den Kopf in ihre Richtung, und schlägt die Augen jetzt endgültig auf. Dann lässt er sich rückwärts aus dem Bett, spaziert zu Lilly, und wirft den Oberkörper auf ihr Bett.

Manchmal will Lilly ihre Ruhe haben, aber heute legt sie den Arm um Alf und meint, „komm“. Alf lässt sich das nicht zweimal sagen und kriecht zu Lilly unter die warme Bettdecke.

Es dauert nicht lange, da fangen sie an zu kichern, und Lilly bestimmt irgendwann, „lass uns mal nach Mama schauen.“

1.2.

Alf, Lilly, Juan und Sarah leben zusammen mit ihren Eltern, Elvira und, in einer kleinen Wohnung im Osten Berlins. Naja. Klein ist relativ.

Eigentlich ist es eine riesige Wohnung, die aus ursprünglich zwei Wohnungen verbunden worden war.

Alf lebt mit seiner Familie in dem kleineren Teil der Wohnung, Tante Lara lebt in dem größeren Teil der Wohnung. Dort gibt es auch eine große Küche, die von beiden Familien gemeinsam genutzt wird.

Tante Lara hat drei Kinder, aber die sind schon richtig groß. Nur Lore wohnt noch Zuhause. Sie ist jetzt 21 und studiert Elektrotechnik in Berlin.

Jens studiert in Darmstadt Maschinenbau, und Rob lebt mit ein paar Freunden in einer großen Wohnung, die Tante Helen im Osten Berlins gehört, und die viele Jahre leergestanden hatte.

Rob hatte sich schon immer für Malerei, Musik, Foto und Film interessiert, und er studiert in Berlin Film und Regie.

Von solchen Dingen hat Alf noch keine Ahnung, aber er malt gerne, und er hat viele Interessen.

Lore, Jens und Rob sind oft bei Lara und sie übernehmen manchmal auch den „Kinderdienst“, wenn Elvira und Rochen viel zu tun haben, oder sich mal zurückziehen wollen.

Lore, Jens und Rob sind für Alf große Vorbilder.

Sie können Dinge, die sind ganz unglaublich. Sie können Gegenstände durch die Luft bewegen, und Kontakt zu Alf aufnehmen, nur mit der Kraft ihrer Gedanken. Sie könnten durch den Raum gehen, und sie haben Alf und seine Geschwister schon ein paar mal mit nach Peru, nach Mexiko, in die USA und nach Wittenberge genommen.

Überall dort hat die Familie ihre „Stützpunkte“.

Man trifft sich, man redet, man lacht, und man übt sich in den übersinnlichen Kräften der Familie.

Alf wächst in diese Familie hinein. Auch wenn er in der Großstadt lebt, so kennt er inzwischen viele Tiere. Hunde, Pferde, Kaninchen, Greifvögel und vor allem Mäuse und Ratten. Tante Lore hatte ihn schon ein paar Mal mitgenommen in die „Berliner Unterwelt“. In den U-Bahntunneln und Schächten unter Berlin leben viele Ratten, und Alf hat bereits gelernt, sich mit ihnen zu unterhalten.

Auch wenn es in Berlin kaum wildlebende Tiere gibt, so gibt es in Berlin doch viele Hunde und Katzen, Vögel in Käfigen, und manche Leute halten sich Spinnen oder Krokodile in der Wohnung. natürlich gibt es auch in Berlin viele wildlebende Tiere, die den Gattungen der Vögel, der Insekten, Käfer und Spinnen angehören, aber das zählt nicht.

In der Nähe der Wohnung von Alf gibt es viel Wald. Dort gibt es sogar Kaninchen, Rehe, Eulen und Wildschweine. Auch zu diesen Tieren hat Alf schon gelernt, Kontakt aufzunehmen. Die Verständigung klappt wirklich gut.

1.3.

Mama ist ein Wunder. Sie ist wie alle Mütter, aber Mama hat diese besonderen Fähigkeiten der Familie, diese Schwingungen und Energieströme, mit denen man sich über große Strecken verständigen kann, ganz ohne Telefon. Auch Alf lernt das von ihr. Ganz langsam, denn das ist höllisch schwer. Es sind nur erste Anfänge. Ein intuitives Erfassen dieser Ströme von Energie.

Seine Geschwister sind darin viel besser, ab er die sind schließlich schon groß.

Alf weiß auch schon, dass Mama irgendetwas zu tun hat mit diesem riesigen Zentrum der Musik, das sich unter der Wohnung ausbreitet, in der er lebt.

Dieses Zentrum bestimmt auch das Denken und Handeln von Alf. Es gibt dort eine Krabbelgruppe, und es gibt einen Kindergarten. Sie haben in einem der Innenhöfe einen großen Spielplatz, und es gibt dort Kaninchenställe und richtige Hühner. Die werden von den größeren Kindern versorgt, aber natürlich haben die ganz Kleinen Kontakt zu diesen Tieren. Mama hat das vor ein paar Jahren angestoßen, damit die Kinder dieses besondere Verantwortungsgefühl im Umgang mit Tieren schon von Kleinauf lernen.

1.4.

An diesem Vormittag gehen Alf und Lilly hinüber zu Mama und Papa. Lilly hat angeklopft. Das ist in ihrer Familie so üblich. Manchmal wollen Mama und Papa auch alleine sein, aber an diesem Morgen hat Mama gerufen „kommt rein“, und sie legen sich zu Mama und Papa ins Bett, schmusen ein bisschen, erzählen, lachen und balgen, wie sie das oft zusammen tun.

Schließlich steht Mama auf und sie meint, jetzt sei Frühstückszeit.

Juan und Sarah sind schon auf. Sie haben sich schon gewaschen und schon angezogen, und sie stehen jetzt in der Küche und decken gerade den Tisch. Sie wissen schon, wie man das macht.

Mama hat gar nicht mehr so viel Arbeit mit dem Frühstück. Es wird noch Kaffee gekocht und Toastbrot geröstet. Mama kontrolliert alles noch mal, und Papa kommt frisch rasiert aus dem Bad.

Er duftet nach Rasierschaum, wie immer, und er ist schon angezogen. Er wird bald das Haus verlassen, denn es gibt heute frühe Termine. Was das ist, davon Alf keine Ahnung.

Mit knapp drei Jahren hast du eine Wahrnehmung die fern von solchen Dingen liegt. Also krabbelt Alf zu Papa auf die Eckbank, legt seine Ärmchen um seinen Hals und schnuppert an der frisch rasierten Wange. Alf liebt diesen Geruch.

1.5.

Heute bringt Mama Alf und Lilly in die Kindereinrichtung. Juan und Sahra machten sich auf den Weg zur Schule. Sie fahren mit dem Bus und mit der U-Bahn.

Auch Mama verabschiedet sich heute schnell. Sie liebt diese Ruhe am Morgen, wenn die Hektik des Betriebs noch nicht ausgebrochen ist. Dann kann sie in Ruhe Akten studieren, Gespräche mit Lieferanten führen, und frühe Sitzungstermine wahrnehmen. Solche Dinge gibt es oft. Mama ist in vielen wichtigen Ausschüssen und Gremien vertreten. Handelskammer, Gesundheitskammer, Ausländerkammer, lauter solche Dinge. Für Alf sind das Themen, mit denen er sich noch nicht beschäftigen muss.

Für ihn zählen andere Dinge. Die anderen Kinder in der Krabbelgruppe, die Erzieher, die Kaninchen, die große Halle im Zentrum, in der „Aysas Imbiss“ liegt, der seit einigen Jahren von ihrer Enkelin Senay geführt wird. Dort gibt es alle möglichen leckeren Dinge. Seit vielen Jahren bekommt man dort auch regelmäßig frisch gepresste Säfte aus Obst und Gemüse. Es gibt Bananen- und Schokomilch, Erdbeermilch und viele Obstspeisen, mit Quark und Joghurt. Es gibt verschiedene Käsesorten, Hammelfleisch, Meeresfrüchte und natürlich Teigwaren in jeder Form. Türkische Pizza, Fladenbrot, süßes Gebäck, Nudeln, Tagliatelle, Spaghetti. Senay hatte längst auch italienische, spanische und griechische Spezialitäten im Programm. Es gibt frische Feigen und Oliven, gefüllte Paprika und allerlei Soßen, süß und salzig, scharf und mild, und sogar süße Pfannekuchen mit Apfelmus, Reibekuchen, geschmorte Äpfel in Schokoladenguss, und Waffeln mit Puderzucker. Alf liebt das.

Senay hat mit der Krabbelgruppe und mit dem Kindergarten einen Liefervertrag. Sie sorgt für das Frühstück und das Mittagessen. Es gibt aber auch einen Vertrag mit dem Metzger und dem Bäcker im Zentrum. Das Essen in der Kindereinrichtung ist vielseitig.

Jedenfalls ist Alf oft bei Tante Senay im Imbiss.

Er liebt Senay, und er wird stets bevorzugt behandelt. Nun, vielleicht nicht übertrieben bevorzugt, aber als Sohn der Leiterin des Zentrums, und als Sohn des Leiters der Sicherheitsabteilung, hat er natürlich eine bevorzugte Stellung.

Manchmal ist er mit den Geschwistern oder mit Mama oder Tante Lara bei Tanz- oder bei Musikproben. Manchmal kommt Lore mit, manchmal Rob. Es gibt im Zentrum auch Verkleidungskünstler, Stelzenmänner, Zauberer und Pantomimen, und eine Einradfahrergruppe.

Sie besuchen die Kindergruppe oft, und es gibt Vorführungen. An manchen Tagen werden die Kinder angemalt wie Clowns oder Tiger, Katzen oder Bären. Es gibt Verkleidungen und kleine Theaterstücke. Sie singen. Es gibt kleine Trommeln und Klangstäbe, Triangeln, Glöckchen und Rasseln, und es wird vorgelesen und gebastelt, manchmal mit Knete, manchmal mit Phimo, manchmal mit Papier. Natürlich gibt es Holzbausteine, Duplo und Lego.

Alf hat schon früh gelernt, dass er ein Teil der Gruppe ist. Nicht nur ein Teil seiner Familie, sondern auch der Kindergruppe und der großen Gruppe im Musikzentrum.

Manchmal nutzt er die Stellung aus, die er als Sohn der großen Chefin hat, aber er hat schnell gelernt, dass die vielen Menschen im Servicebereich des Zentrums angewiesen worden waren, dass Regeln eingehalten werden müssen.

So etwas wie Starallüren oder vordrängeln wird nicht geduldet. Mama sagt stets. „Wir leben hier. Die Menschen hier im Zentrum, das ist unsere Familie. All die vielen Kids sind so etwas wie eure Schwestern und Brüder, aber weil ich das Zentrum leite, habe ich eine große Verantwortung. Ich bin der Diener all dieser Kids. Wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich hier alle wohl fühlen. Nicht nur ich und nicht nur Papa. Auch ihr habt diese Verantwortung. Vergesst das nie.“

So war Alf schon früh in diesem Bewusstsein aufgewachsen, der Diener all dieser Menschen zu sein, auch wenn er stets spürt, dass er etwas Besonderes ist, und dass immer jemand da ist, wenn er Hilfe braucht.

Auch wenn er Teil der Kindergruppe ist, so gibt es manchmal Meinungsverschiedenheiten und Streit. Das ist so, wenn Kinder zusammen aufwachsen. Die Erzieher sind aber immer zur Stelle. Sie mischen sich nicht immer ein, Kinder müssen schließlich lernen, Konflikte untereinander zu lösen, aber die Gemeinsamkeiten sind um vieles größer als die Konflikte. Es gibt einfach auch so viel Interessantes zu tun. Manchmal holen sie vorsichtig die Eier ins Haus, die von den Hühnern gelegt werden. Sie werden dann gekocht oder gebraten, oder auch in die Suppe gerührt. Es gibt eine große Küche. Manchmal werden kleine Kuchen gebacken, manchmal Fischstäbchen oder Kartoffeln gebraten. Senay bringt manchmal nur die Rohzutaten, und die Erzieher und die Kinder matschen sich ihr eigenes Essen. Es wird aber auch gebastelt und gemalt, vorgelesen und getanzt.

Manchmal werden die beiden Kindergruppen zusammengeführt, die Großen und die Kleinen.

Schließlich gibt es einen Ruheraum, wo man mittags schlafen kann. Manchmal liegt einer der Erzieher mit ihnen in diesem abgedunkelten Raum auf den großen Polstern, und summt oder singt leise.

Alf hat gelernt, dass das Leben behütet ist. Wenn er dann abends von Mama oder Papa abgeholt wird, oder mit den Geschwistern nach Hause geht, dort ins oberste Stockwerk des Musikzentrums, dann ist immer die engste Familie für ihn da. Er kann auch immer zu Tante Lara hinüber in die andere Wohnung gehen, und die Küche ist der gemeinsame Mittelpunkt aller.

1.6.

An diesem Vormittag sieht Alf zuerst nach den Hühnern und nach den Kaninchen. Die Hühner haben Küken bekommen. Über Nacht hatten sich einige schon durch die Schale gepickt, andere tun das gerade eben und das ist für die Kinder richtig spannend. Die Küken sind noch richtig nackt, nur bedeckt von einem kaum sichtbaren Flaum.

Die Henne ist wie eine Glucke und passt auf ihre Küken auf. Die Kinder sehen und staunen.

Auch die Kaninchen haben Junge. Die sind aber schon so groß, dass man sie anfassen kann. Man kann sie vorsichtig mit den Händen aufnehmen und in die Arme nehmen. Das ist gar nicht so einfach. Die Koordination der Gliedmaßen ist in diesem Alter noch nicht so richtig ausgebildet.

Die Kinder müssen höllisch vorsichtig sein, um den kleinen Kaninchen nicht weh zu tun, und fallen lassen darf man sie auch nicht.

Alf hat da große Vorteile. Es ist jetzt nicht so, dass er ganz bewusst in die Tiersprache wechseln kann. Da ist so etwas, wie ein innerer Antrieb, eine innere Steuerung, die ihm hilft, den Kontakt zu den Tieren herzustellen. Auch heute ist das so.

Er kniet sich einfach vor dem Stall auf den Boden und breitet seine Handflächen aus. Er beginnt, leicht zu summen. Das weitet sich zu einem Art Brabbeln aus, und die kleinen Kaninchen spitzen die Ohren. Die Kaninchenmama kommt auf ihn zu und beschnuppert seine Hände. Dann kriecht das erste Kaninchenjunge auf seine offene Handfläche und kuschelt sich dort in die Kuhle aus Ballen und Fingerspitzen, wie in ein Nest. Alf ist vorsichtig. Er nimmt das Kaninchen nicht hoch. Er lässt es in seiner Handfläche sitzen.

Schließlich setzt er das Junge vorsichtig wieder ins Stroh zurück.

Moni, die neben ihm steht, fragt, ob er ihr das Kaninchen einmal geben könne, und Alf sagt in seiner kleinkindlichen Sprache sinngemäß, „ja, schon, aber es ist besser, wenn die Kaninchen erst einmal den Geruch der Mutter in der Nase haben. Wenn wir das machen, dann musst du sehr vorsichtig sein.“

Die Erzieher kennen schon diese Fähigkeit von Alf, aber selbst Worte, die er gebraucht, die sind altersuntypisch. Alf gibt Moni das Junge vorsichtig in die Arme, und er setzt es später zurück ins Stroh. Er sieht die Erzieher und die Kinder seiner Gruppe mit einem ernsten Rundumblick an und meint. „Wirklich, wir sollten noch ein paar Tage warten. Die Kaninchen sind zu jung.“

Später spielen sie Kaninchenhüpfen und Fangen, und sie singen ein Kaninchenlied. Zum Frühstück beschließen sie, zusammen zu Aysas Imbiss zu gehen. Zu dieser Tageszeit ist noch nicht viel los in der großen Halle und die Bedienung hat Zeit für die „Knirpse“, wie die Kinder manchmal bezeichnet werden.

Heute soll zum Frühstück eine Gruppe aus Künstlern kommen, die im Zentrum proben. Es würde ein wunderbarer Vormittag werden.

An diesem Vormittag wird die Halle unvermutet voll. Es war der letzte Schultag. Es gibt große Ferien, und viele Kids aus Berlin haben sich schon eingefunden. Skater und Musiker, BMX’ler und Musikinteressierte.

Nach dem Frühstück zieht sich die Kindergruppe in eine der Nischen in der großen Halle zurück.

Die Straßenkünstler beginnen mit ihrer Vorstellung. Die Kinder kennen sie schon, aber es ist immer wieder interessant, und die Gruppe bezieht die Kinder immer wieder in ihr Spiel ein, manchmal in Zauberkunststückchen, manchmal in Purzelbäume oder Überschläge, Stelzenlaufen oder Ballspiele.

Auch viele der anderen Kids stehen jetzt um sie herum, lachen, klatschen und wechseln Worte.

Für die Erzieher wird die Situation langsam unübersichtlich, weil sich Besucher, Akteure und Kinder immer mehr mischen, aber sie sind hier „auf heimischem Boden“, es ist undenkbar, dass hier etwas passieren würde.

1.7.

Alf fühlt einen kleinen Stich im Nacken, dann wird er urplötzlich schläfrig. Er spürt noch, wie er von starken Armen aufgefangen wird, und sieht über sich verschwommen das Gesicht eines Clowns.

Die Menge bekommt gar nicht mit, wie sich dieser Clown herumdreht und mit Alf das Gebäude verlässt. Nach wenigen Schritten hat er einen Teil seines weiten Mantels um Alf geworfen, der unter diesem Tuch verschwindet. Alf wird in ein Auto getragen, das sich in Bewegung setzt und aus Berlin hinausfährt.

Alfs Verschwinden wird erst zehn Minuten später entdeckt, als einem der Akteure auffällt, dass eines der Kinder fehlt. Er sieht sich um, dann geht er zu einem der Erzieher und stupst ihn an.

„Ruf doch mal deine Kids zusammen. Ich habe den Eindruck, da fehlt jemand.“

Drei Kinder und eine Erzieherin fehlen. Die Erzieherin und zwei der Kinder kommen aber bald zurück. Sie sind auf dem Klo gewesen. In diesem Alter dauert das manchmal ein wenig länger. Alf fehlt.

Das ist ungewöhnlich. Alf entfernt sich zwar manchmal aus der Kindergruppe, aber er war ermahnt worden, sich abzumelden, wie alle Kinder, und er tut das auch.

Die Suche wird ausgeweitet und eine der Bedienungen von Aysas Imbiss findet jetzt ein zusammengeknülltes Papier im Abfalleimer für Gemüseabfälle, das dort nicht hingehört. Sie will es schon in den Papiermüll stecken, da faltet sie das Papier, wie aus einer Art innerem Antrieb auseinander, und runzelt die Stirn.

Dort steht in ausgeschnittenen bunten Lettern: „Alf ist weg. Das kostet euch 100 Millionen.“

Sie bringt den Zettel sofort zu Senay und die schaltet schnell. „Keine weiteren Fingerabdrücke“, bestimmt sie, und greift zum Telefon.

1.8.

Fünf Minuten später steht Elvira neben ihr, und lässt sich die Situation erklären. Sie nickt. Sie alarmiert Rochen und die Sicherheitsabteilung.

Rochen lässt sich das Papier mit einer Pinzette in ein Plastiksäckchen stecken, und alarmiert die Polizei.

Dann werden die Kinder, die Erzieher, die Zuschauer und die Akteure befragt. Niemand hat etwas gesehen.

Rochen geht hinüber in den Videoüberwachungsraum und lässt die Bänder zurücklaufen. Auf einem der Bänder ist zu sehen, wie ein ungewöhnlich unförmiger Clown das Gebäude in Richtung der Parkplätze verlässt. Da es keine Außenkameras gibt, gibt es dort keine weiteren Bilder.

Als die Kripo eintrifft, werden weitere Befragungen und Ermittlungen vorgenommen, dann verabschiedet sich Elvira. Sie hat jetzt ein paar dringende Gespräche zu führen.

Das ist nun etwas, wobei sie die Beobachtung der Polizei nicht gebrauchen kann. Elvira nimmt Kontakt zu den Leitern der großen Mafiaorganisationen in Berlin auf, zu den Chinesen, den Kroaten, den Italienern, den Russen und den Serben.

„Ich nehme nicht an, dass ihr mit dieser Entführung etwas zu tun habt“, sagt sie, und ich bitte euch, dass ihr eure Augen und Ohren offen haltet. Ich will mein Kind heil und gesund wiederhaben. Der Entführer hat 100 Millionen verlangt. Wenn ihr dafür sorgt, dass Alf wieder nach Hause kommt, dann werden eure Informanten einen sehr schönen Urlaub verbringen können, das verspreche ich euch.“

Diesmal schlüpft Elvira in die Köpfe der Mafiabosse. Sie sind nicht involviert. Sie wissen wirklich nichts.

Noch bevor der Polizeiapparat richtig auf Touren kommt, arbeiten schon die Mafiaorganisationen, und auch Rochens Sicherheitsgruppe an der Lösung des Problems.

Elvira versucht über ihre Energie den Kontakt zu ihrem Sohn herzustellen. Sie fühlt, dass er lebt und dass es ihm gut geht.

Sie nimmt Kontakt zu ihrer Tante Chénoa und zu ihrer Cousine Solveig auf, die beide über diese gewaltigen Fähigkeiten verfügen, Energieströme zu versenden, aber auch die schütteln den Kopf.

Sie spüren, dass es dem Kind gut geht, aber wo Alf ist, das finden sie nicht heraus.

Nach zwei Tagen kommt der erste Brief des Entführers. Er wurde irgendwo im Westen von Berlin im Briefkasten eines Backshops eingeworfen. Auch jetzt hatte niemand etwas gesehen. „Keine Polizei“, steht da, und wenn Elvira bezahlen wolle, dann solle sie in der Berliner Morgenpost eine Anzeige aufgeben, mit dem Text. „Berliner Bären lieben heiße Schokolade“. Alles andere würde sie später erfahren.

1.9.

Die Leute der Mafia strecken ihre Fühler aus.

Rochens Leute werden aktiv. Die Polizei hört sich um. Es gibt keine Spur. Es ist wie verhext. Der Staat hatte seine Überwachung längst perfektioniert. Heimlich und für die Bürger unsichtbar. Die Mafia hat sehr große Ohren und sie kennt sich in diesem Milieu aus. Rochens Leute sind geschickt und gut vernetzt. Sie kennen sich in Berlin und Umgebung wirklich gut aus, aber sie finden keinen einzigen Hinweis.

Chénoa nimmt Kontakt zu den Bossen der südamerikanischen Drogenmafia auf. Wenn es da einen Zusammenhang gäbe, warnt sie, dann würde sie das persönlich nehmen. Die Mafiabosse versichern, dass sie damit nichts zu tun haben.

Elvira versucht immer wieder, den Kontakt zu ihrem Kind herzustellen. Sie spürt, dass Alf lebt.

Sie spürt, dass er sich gegen den Entführer wehrt, aber seine Energieströme sind viel zu schwach, dass sie hätte herausfinden können, wo er sich gerade aufhält.

Nur Artemis weiß, wo Alf steckt, denn einer der Cantara sitzt in Alfs Kopf, aber Artemis tut nichts.

In diesem Stadium scheint es nicht notwendig, Alf zu schützen, oder der Familie zu helfen.

1.10.

Als Alf aus seiner Betäubung wieder aufwacht, ist er in einem leeren und ziemlich verwahrlosten Raum. Es gibt eine Matratze und eine Decke. Vor ihm steht ein Tablett mit einem Teller Müsli und eine Flasche Wasser. Es gibt ein Oberlicht, das nur Dämmerlicht in den Raum durchlässt, und es gibt eine Tür mit einem Spion. Es gibt ein „Töpfchen“ aus Emaille, eine Rolle Klopapier, und es ist so still, dass es schon fast unheimlich ist.

Alf ist alleine. Er ist nicht gefesselt, und seine Augen, Ohren und der Mund sind auch nicht verbunden.

Er setzt sich auf, studiert seine Umgebung, versucht sich zu erinnern, und steht dann auf, um gegen die Stahltür zu hämmern.

Es klingt dumpf, fast lautlos. Irgendwo gibt es eine Art Hall. Dann schreit Alf, aber da ist nichts.

Kein Laut, keine Reaktion.

Alf ist noch sehr klein, aber spürt natürlich, dass hier etwas nicht stimmt. Nein, nicht irgendetwas. Nichts stimmt hier. Er sieht sich noch einmal um, dann seufzt er.

Er trinkt aus der Plastikflasche. Das Wasser ist frisch. Er muss die 1,5 Literflasche mit beiden Händen halten. Sie ist sehr schwer und noch schwerer ist es, den Schraubverschluss alleine aufzumachen und wieder zu verschließen.

Er verschüttet beim Öffnen von dem Wasser, das ihm kühl auf die Hose läuft. Es ist unangenehm, wie kaltes Pipi.

Tatsächlich rührt sich jetzt die Blase und Alf hat Mühe, seine Hose nach unten zu ziehen, bevor sich die Blase entleert. Er nutzt einfach dieses leere Emailtöpfchen. Dann legt er sich wieder auf die Matratze und zieht die Decke über sich. Was soll er sonst tun?

Er überlegt. Er versucht mit Mama Kontakt aufzunehmen. Er versucht mit Tieren Kontakt aufzunehmen, Spinnen, Mücken, irgendetwas, was es hier geben mochte. Ja, es gibt zwei Spinnen, die ihre Netze oben in der Ecke geflochten haben. Sie können Alf nicht helfen. Es gibt eine verirrte Stechmücke, aber auch die kann Alf nicht helfen. Er bleibt alleine.

Alf weint und dann schläft er ein. Er wird schließlich durch einen Taschenlampenstrahl geweckt. Draußen ist es noch hell, aber hier kommt wirklich nur wenig Licht herein. Alf sieht, dass es ein Clown ist, aber der Clown spricht nicht, er sieht nur nach Alf, sieht nach dem Wasser und dem Essen, leert das Emailtöpfchen in einen Plastikeimer und verschwindet wieder durch die Tür. Alf hört, wie sich ein Schlüssel umdreht. Der Clown reagiert auf keinen einzigen Laut von Alf.

Alf ist verzweifelt. Schließlich macht er erneut Pipi, isst das Müsli auf, und trinkt wieder einen Schluck Wasser, wobei er aufpasst, dass er dieses mal nichts verschüttet.

Es ist langweilig. Es ist nichts zu hören. Niemand reagiert auf Weinen oder Schreien, und Alf ist ziemlich verzweifelt. Er hat noch nicht gelernt, alleine durch den Raum zu gehen, nur das würde ihm in der jetzigen Situation helfen. Schließlich schläft er wieder ein.

Er wird erneut von einem Taschenlampenstrahl geweckt. Der Clown bringt belegte Brötchen, eine Tasse heißen Kakao und eine Zeitung. Er setzt Alf hin, drückte ihm die Zeitung in die Hand und es blitzt auf. Alf kennt den Blitz eines Fotoapparates.

Dieses Mal rennt er dem Clown von hinten in die Knie, als der den Raum wieder verlassen will. Der Clown schwankt, aber er stürzt nicht.

Er dreht sich um, nimmt Alf an der Brust, wirft ihn in hohem Bogen auf das Bett und verlässt den Raum.

Alf war mit dem Kopf angeschlagen. Es tut weh, und er ist jetzt wütend, aber was solltest du machen, wenn sich nichts rührt. Es gibt einfach keine Reaktion. Alf weint und schreit. Schließlich nimmt er die Brötchen, und isst sie auf. Der Kakao ist inzwischen kalt geworden, und Alf trinkt ihn mit Genuss. Auch dieses Mal verschüttet er etwas. Es klebt.

Später geht er zu diesem Topf und macht AA. Es ist ziemlich schwer, sich mit dem Papier abzuputzen. Das ist immer sehr schwer, und das AA in dem offenen Emailbehälter riecht unangenehm.

Als Alf wieder wach wird, hatten sich drei Schmeißfliegen eingefunden, angezogen von dem offenen Töpfchen mit dem AA. Sie hatten sich auch auf die Brösel des Brötchens gesetzt und auf das Gesicht von Alf. Alf riecht inzwischen leicht nach Schweiß und nach Pipi und nach Schokolade. Schmeißfliegen lieben solche Gerüche.

Alf nimmt Kontakt zu den Schmeißfliegen auf, und lässt sich erzählen. Er erfährt, dass es da draußen noch mehr Räume gibt, und dass es um diese Räume herum Bäume gibt. Viele Bäume.

Das bringt Alf aber nicht weiter. Er ist einfach noch viel zu klein.

1.11.

Als der Clown wiederkommt, greift Alf ihn erneut an. Er versucht zu beißen, ihn aufzuhalten und zur Tür zu rennen, die nicht ganz geschlossen worden war, aber der Clown erwischt ihn wieder.

Er zischt: „Wenn du das noch mal machst, breche ich dir die Beine.“

Er wirft Alf grob auf das Bett und verlässt den Raum.

Ach was ist das dumm, dass Alf noch nicht gelernt hat, sich in Tiere zu verwandeln. Wie praktisch wäre das jetzt gewesen, egal ob in eine Fliege, ein Krokodil, oder sogar in einen Elefanten. Aber Alf kann das nicht. Seine Mutter und seine Geschwister hatten ihm das bisher noch nicht gezeigt. Er versucht, wenigstens den Tunnel zu rufen. Er weiß, wie das geht, aber der Tunnel öffnet sich nicht.

Alf hat kein Zeitgefühl. In diesem Alter hat man das nicht, und unter den genannten Umständen ist es nicht möglich in Tagen oder Nächten zu zählen.

Nach vier Tagen versucht Alf dem Clown aufzulauern, der in Abständen kommt, um Essen zu bringen und das Töpfchen zu leeren. Er kann sich schlecht stundenlang neben die Tür stellen, also versucht Alf, sich auf Geräusche zu konzentrieren. Gibt es irgendetwas, was diesen Clown ankündigt?

Als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird, nimmt Alf todesmutig Aufstellung. Der Clown öffnet die Tür mit der rechten Hand, in der anderen trägt er heute eine Tasche mit Essen. In diesem Dunkel des Raums kann er nicht viel sehen. In diesem Moment rennt dieser Knirps in den Clown hinein.

Das geschieht so abrupt, dass der Clown das Gleichgewicht verliert, aber er hat enorme Reflexe. Noch im Fallen greift er nach dieser Gestalt, die an ihm vorbeischlüpfen will und hält sie fest.

Alf hätte es beinahe geschafft. Soviel bekommt er mit, dass es hier wirklich weitere Räume gibt.

Es ist eine Art Ruine, ein halb verfallenes Gebäude, aber auch der zweite Raum ist noch intakt und hat eine Tür, und auch diese Tür ist verschlossen.

Diesmal ist der Clown rabiat. Er verabreicht Alf eine gezielte Trachtprügel und wirft ihn dann wieder auf das Bett, bevor er Alf verlässt.

Heute schreit und weint Alf viel und laut, aber es nützt nichts. Es gibt keine Reaktion.

Schließlich isst er die Nudeln, die der Clown mitgebracht hatte, trinkt Wasser, macht Pipi und überlegt.

Er nimmt wieder Kontakt zu den Schmeißfliegen auf. Er versucht, sich in eine Schmeißfliege zu verwandeln. Vielleicht kann er dann entwischen, aber es funktioniert nicht. Seine großen Geschwister, die können das bereits, aber Alf ist noch zu klein und zu ungeschickt.

Er ist todunglücklich. Außerdem tut der Po höllisch weh. Der Clown war wirklich nah dran gewesen Alf die Beine zu brechen.

Der Clown meldet sich am nächsten Tag nicht.

Für Alf ist das noch schlimmer als die erlittene Trachtprügel. Er empfindet das als Strafe.

Dann kommt der Clown wieder. Er bricht wieder eine Zeitung und der Fotoapparat blitzt wieder.

Diesmal wehrt sich Alf nicht. Er grübelt darüber nach, wie er dem Clown das nächste Mal entwischen könnte.

Dazu sollte es nicht mehr kommen.

1.12.

Der Clown hatte inzwischen den Kontakt zu Elvira hergestellt. Sie hatte ihm signalisiert, dass sie zahlen, und sich an alle Vereinbarungen halten würde. Der Clown war sehr vorsichtig gewesen.

Er hatte bemerkt, dass die Polizei vor Ort ist, und nicht nur die Polizei. Da sind noch andere, die er nicht kennt.

Es wird brenzlig.

Schließlich sieht er nur einen Ausweg. Er muss unerkannt verduften. Auch dieses Kind muss weg. Vielleicht hat es irgendetwas gesehen.

Vielleicht war er einmal unvorsichtig gewesen.

Vielleicht konnte dieses Kind seine Stimme wiedererkennen, auch wenn er nur einmal gesprochen, nein, mehr gezischt hatte.

Der Clown macht reinen Tisch.

Diesmal nimmt er eine Eisenstange mit. Als er die Tür aufschließt, schlägt er hart zu.

Als er den Kopf des Jungen trifft, gibt es einen Lichtblitz, der ihn blendet und umwirft. Er reibt sich die Augen und sieht sich um.

Die Eisenstange liegt neben ihm, blutverschmiert.

Die Matratze ist leer. Auch dort gibt es Blutflecken, aber das Bett ist wirklich leer.

Er dreht sich um, geht aus dem Raum und untersucht den Boden. Es gibt keine Blutspur, die hinausführt. Nicht einen einzigen Tropfen. Er geht sinnend zurück. Der Junge konnte nicht entflohen sein, aber er ist definitiv weg.

Der Clown versteht das nicht. Er nimmt einen Lappen aus seinem Mantel, wischt alle Spuren weg, dann geht er raus und kommt mit einem Kanister Benzin zurück. Er gießt das Benzin über die Matratze. Er legt eine Benzinspur, zündet sie an, und rennt weg.

Er hört die Detonation hinter sich, als der Raum Feuer fängt. Er läuft, bis er seinen Kleinbus findet. Er passt auf, dass niemand in der Nähe ist, steigt hinein, zieht sich um, und wischt sich die Schminke aus dem Gesicht. Dann fährt er davon.

Die Polizei, die Mafia und die Gruppe von Rochen hatten den Ring inzwischen immer enger gezogen. Als es dort im Wald, rund 50 Km vor Berlin plötzlich brennt, wird die Feuerwehr alarmiert. Es hat nur qualmenden Rauch gegeben, den ein Ausflügler von Weitem gesehen hatte. Der Wald ist nicht verbrannt worden. Die Kripo untersucht die Spuren. Sie finden die Reifenspuren des Kleinbusses und sie folgen den Spuren durch den Wald.

Zwei Tage später brennt in Süddeutschland ein Kleinbus aus. Die Polizei untersucht den Fall und zieht Parallelen.

Der Clown war untergetaucht. Das Kind ist und bleibt verschwunden.

Die Kripo gibt Rochen und Elvira Bescheid, aber Elvira sieht die Beamten nur traurig an. „Ich weiß“, sagt sie. „Mein Sohn ist tot. Eine Mutter spürt so etwas.“

1.13.

Alf erlebt den Tunnel nicht zum ersten Mal. Seine Tanten und Onkels hatten ihn schon mit durch diesen Tunnel genommen, wenn sie nach Südamerika oder nach Wittenberge gesprungen waren. Alf kennt diesen langen schwarzen Tunnel, der rotiert, während er dort hindurchfliegt.

Diesmal ist es dennoch anders. Er spürt den Schlag schon nicht mehr, der seinen Schädel gespalten hatte.

Er sieht um sich herum lauter kleine weiße Funken, wie Sterne. Er fliegt durch diesen Tunnel. Es ist eine rasend schnelle Fahrt, die scheinbar unendlich lange dauert. Dann sieht Alf plötzlich ein fernes Licht, dem er sich rasend nähert.

Er wird sanft abgelegt und schläft sofort ein.

Als er die Augen öffnet, sieht er um sich herum eine blühende Landschaft aus lauter kleinen bunten Blumen. Er liegt auf Moos, und um ihn herum gibt es seltsame große und keilförmige Steine. Irgendwo am Himmel brennt die Sonne und in der Nähe plätschert ein Bach.

Alf richtet sich auf. Er sieht sich verwundert um.

Solch eine Landschaft hat er noch nie gesehen.

Es ist warm und er fasst instinktiv an seinen Kopf. Es gibt keine Wunde, der Kopf scheint heil.

Es gibt nicht einmal einen Schmerz. Nichts. Nur das rechte Ohr scheint etwas verrutscht. So. als wenn es da nicht richtig hingehört.

Alf steht auf. Er sieht an sich herunter, dann sucht er diesen Bach.

Es ist wirklich ein kleiner Bach, der sich in einer kleinen Mulde sammelt, nicht wie ein See, eher wie eine große Pfütze. Alf sieht, dass sich der Himmel in dieser Pfütze spiegelt, und er beugt sich vorsichtig darüber. Er sieht plötzlich sein Spiegelbild ganz klar, und er dreht den Kopf hin und her. Er sieht das Blut auf der Kleidung und in seinen Haaren. Er sieht, dass ein Stück seines Ohres fehlt, und er sieht, dass der Kopf sonst völlig in Ordnung ist. Er kniet sich hin, trinkt von dem klaren Wasser und wäscht sich unbeholfen.

Dann steht er wieder auf und versucht den Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Nichts. Da ist nichts. Da ist nur Stille.

Dort, wo Alf steht, ist die Wiese sehr nass, und er läuft ein paar Schritte, um eine trockene Stelle zu finden. Dabei sieht er, dass es hier niedere Büsche gibt. Sie haben kleine Blätter und blaue Beeren. Als er sich bückt, sieht er, dass hier Walderdbeeren wachsen. So genau kennt er die allerdings nicht. Er kennt Erdbeeren, aber die hier sind wirklich sehr klein.

Alf probiert von den Erdbeeren und den blauen Früchten, und findet, dass sie sehr gut schmecken.

Er hatte in den letzten Tagen wenig gegessen und der Hunger rührt sich urplötzlich.

Von den blauen Beeren wachsen hier genug. Mehr als er essen kann.

Während er isst, verfärben sich seine Hände und der Mund. Alles ist jetzt blaulila von den Heidelbeeren. Alf sieht auf seine Hände. Er leckt daran. Es schmeckt süß und es macht Alf irgendwie glücklich.

Er versteht das alles nicht und es ist auch nicht zu verstehen, nicht nur für einen Dreijährigen.

Schließlich streckt sich Alf und sieht sich um.

Er hat einen kleinen kugelrunden Bauch bekommen, von den Beeren, und fühlt sich satt, zufrieden und etwas müde. Es gibt hier eine Art Lichtung, wie ein Plateau. Um diese Lichtung herum stehen diese seltsamen großen Steine und auch Holzsteelen, die in Kreisform aufgestellt sind, und die jetzt Schatten werfen. Das Tal hat auf drei Seiten hohe Wände aus Stein, die in wilden Zacken immer höher hinaufreichen. Auf der vierten Seite ist das Tiefblau des Himmels zu sehen, und jetzt nahm Alf zum ersten Mal diesen Duft wahr, der hier über der Lichtung liegt. Ein süßer und würziger Duft von Moosen, Waldboden und Beeren.

An den Hängen stehen vereinzelt hohe Tannen und sie reichen auch noch weiter hinauf. Sie klammern sich ans Gestein und sie haben seltsam geformte Wurzeln.

Alf sieht das alles, aber mit seinen drei Jahren nimmt er das noch nicht bewusst auf. Er hat keine Ahnung, wo er ist. Seine Mutter ist offenbar weit weg, und diese Landschaft ist entschieden besser als der Kerker, in dem er die letzten vierzehn Tage verbracht hatte.

Er sucht sich ein trockenes Plätzchen, legt sich in das Moos und schläft nach wenigen Minuten ein.

1.14.

Elvira, die in Berlin zurückgeblieben war, die war traurig über den Verlust. Sie weiß einerseits, dass Alf tot ist, und gleichzeitig hat sie das Gefühl, dass sie Alf eines Tages wiedersehen wird. Sie spricht mit Chénoa und ihrer Cousine Solveig, und Solveig nickt vorsichtig. Sie hat in diesen Dingen ein untrügliches Gespür.

„Du wirst ihn wiedersehen“, sagt sie mit Bestimmtheit. „Nicht morgen, nicht in fünf Jahren. Vielleicht musst du zwanzig oder dreißig Jahre warten, aber ich weiß das mit Bestimmtheit. Alf wird zurückkehren in unsere Welt. Glaub’ mir.“

Für die Polizei gilt Alf als vermisst. Sie setzen ihn auf eine Liste. Es gibt nicht einmal eine Beerdigung.

Elvira spricht mit ihren Kindern und auch mit Lara und ihren Kindern. Lara umarmt sie, und sie sieht die Kinder der Reihe nach an.

„Ich habe gelernt, auf die Kräfte der Familie zu vertrauen. Ich habe nicht die Kräfte von Solveig, aber auch ich spüre, dass Alf eines Tages zurückkommen wird. Lasst uns das immer wieder besprechen. Auch auf den Treffen der Kinder muss das einen neuen Stellenwert erhalten.

Vielleicht gelingt es uns eines Tages, den Kontakt zu Verschollenen herzustellen.“

Lilly ist so traurig, dass sie jetzt zu ihrer großen Schwester ins Zimmer zieht. „Ich kann das einfach nicht, so alleine neben dem leeren Bett von Alf liegen. Ich muss immer daran denken, wenn wir uns morgens geneckt haben, bevor Mama und Papa aufgestanden sind.“

1.15.

Alf, Elvira und Solveig wissen nicht, dass Artemis seine schützende Hand über Alf gehalten hat. Sie wissen nicht, dass Artemis schon vor vielen Jahren gelernt hat, in die Vergangenheit zu reisen. Sie wissen nicht, dass Artemis mit Alf etwas Großes vor hat, und dass er deswegen nicht in das Geschehen eingegriffen hat, solange Alf noch gefangen gehalten worden war.

Sie wissen viel, aber Vieles wissen sie nicht.

Alf, der ein kleiner unschuldiger Junge von drei Jahren ist, hat eine große Zukunft vor sich, und er wird durch eine harte Schule gehen, um später einmal seine zukünftigen Aufgaben für die Familie zu erfüllen.

Artemis muss immerhin zugeben, dass seine Entscheidung eine Art Experiment ist. Er weiß auch nicht, wie die menschliche Physis und die Psyche auf einen Zeitsprung von über 1000 Jahren reagiert. Er selbst war schon ein paar Mal in der Vergangenheit. Es war immer sehr aufschlussreich gewesen. Man kann aus der Vergangenheit oder auch aus der Zukunft weit besser lernen, wenn man selbst daran teilgenommen hat.

Der Wolfsmann

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