Читать книгу Das Komplott der Senatoren - Hansjörg Anderegg - Страница 9

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Phoenix

Die offizielle Trauerfeier auf dem National Memorial Cemetery im Norden von Phoenix zog sich wie erwartet in die Länge. Lee drückte die Hand seiner Verlobten, als ihr Vater vor die Trauergemeinde trat, um letzte Worte an seinen guten Freund und treuen Weggefährten Finn O’Sullivan zu richten. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte Neill Douglas, der Senator aus Chicago, seine helle Freude daran, als bekannt wurde, dass sich seine Tochter Anna Hals über Kopf ausgerechnet in den blitzgescheiten Lee O’Sullivan verliebt hatte. Seit rund einem Jahr lebten sie ihre Liebe als Verlobte sozusagen öffentlich, doch mit heiraten schien weder sie noch er es sonderlich eilig zu haben, zu beschäftigt waren beide. Seit Anna bei der Tribune angeheuert hatte, war wenigstens nicht immer er derjenige, der Rendezvous absagen musste. In dieser Hinsicht musste keiner dem anderen etwas vorwerfen.

»Droben in Washington«, fuhr Neill fort, als gehörte er auch zu denen unten im Süden, »gibt es viele Leute, die behaupteten, Finn wäre ein sturer Bock.« Beifälliges Raunen ging durch die Reihen. »Und lassen Sie es mich mal so ausdrücken: genau solche Böcke braucht es auf dem Capitol Hill.« Solche Sprüche gefielen den Gästen, die mehrheitlich aus dem Süden stammten und nicht viel am Hut hatten mit dem undurchsichtigen Treiben in Washington. Theatralisch wandte er sich um und schloss seine Rede mit einem letzten Gruß zum Sarg: »Finn, alter Haudegen, wir vermissen dich.«

Die endlose Reihe der Honorablen des Staates Arizona zog an Lee vorbei, um dem hinterbliebenen Sohn die Hand zu schütteln. Dann endlich war die Feier zu Ende und eine sorgfältig ausgewählte Gesellschaft aus nächsten Verwandten und Bekannten geleitete den Verstorbenen zu seiner letzten Ruhestätte.

»Nun, Lee, wann werden Sie in die Fußstapfen Ihres Vaters treten?«, fragte ein untersetzter, braungebrannter Mann neben ihm. Eine massive Sonnenbrille verbarg seine Augen, und die schwarz glänzende Frisur aus dem Windkanal zeigte straff nach hinten. Diego Martinez, der Ehemann von Lucy Martinez, der Gouverneurin von Arizona, und noch so ein Winkeladvokat.

»Diese Fußstapfen sind mir entschieden zu groß«, antwortete Lee trocken. »Wenn immer möglich meide ich ausgetretene Trampelpfade und versuche neue Wege zu beschreiten.« Darauf fiel dem Anwalt keine intelligente Antwort ein. Er schwieg, und Lee bemerkte, wie ein schadenfrohes Lächeln über die Lippen der Gouverneurin zu seiner Rechten huschte.

»Erzählen Sie mir etwas von den neuen Wegen, die Sie beschreiten«, wollte sie wissen, als sie später beim Dinner im Ritz-Carlton neben ihm saß. Zögerlich begann er, von seiner Firma und den Projekten zu sprechen, doch als er bemerkte, dass sie sich ehrlich für seine Arbeit interessierte, holte er weiter aus, froh, endlich ein vernünftiges Thema gefunden zu haben.

»Sie lassen sich auf ein gefährliches Spiel ein, Gouverneurin«, warnte Anna. »Wenn er über die Arbeit spricht, vergisst er die Zeit.«

»Oh, kein Problem«, lachte Lucy. »Es ist sicher gut investierte Zeit. Von einem Spitzenwissenschaftler über die neusten Entwicklungen im Kampf gegen den Wassermangel aufgeklärt zu werden, erspart mir mühsames Literaturstudium.«

»Nicht zu vergessen, dass gute Literatur zum Thema Mangelware ist«, warf Lee ein, und er verstand die Bemerkung keineswegs als Scherz. Es gab genug Scharlatane, die Bücher über die Folgen des Klimawandels publizierten, ohne sich im Geringsten um die physikalischen Zusammenhänge zu kümmern. Leute, die einfach mit einem populären Stichwort ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollten, oder, schlimmer, von gewissenlosen Lobbyisten gesteuert wurden. »Im Grunde genommen kennt niemand die wahre Ursache der zunehmenden Trockenheit, die man in den letzten Jahren auch hier in den Staaten beobachtet. Jeder, der etwas anderes behauptet, weiß entweder nicht, wovon er spricht, oder er will die Leute gezielt manipulieren. Damit will ich nicht sagen, dass die Ursachenforschung versagt hat oder unnötig ist. Die Wissenschaft ist einfach noch nicht so weit. Die Klimamodelle sind immer noch viel zu grob. Wir kennen lange nicht alle Parameter und Zusammenhänge, um zu begreifen, was in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre vor sich geht, ganz zu schweigen von den Vorgängen in den Weltmeeren und ihrem Einfluss auf das Klima. Tausende renommierter Wissenschaftler im Weltklimarat sammeln seit Jahrzehnten Erkenntnisse aus der Klimaforschung, und sie verstehen die Schwächen und Grenzen ihrer Modelle.« Mit einem Seitenblick auf den skeptisch grinsenden Anwalt gegenüber fügte er schnell hinzu: »Und durch die enormen Fortschritte der Computertechnik sind wir heute weit besser in der Lage als noch vor wenigen Jahren, die Ungenauigkeiten abzuschätzen. Man sollte daher nicht den Fehler gewisser Politiker und Lobbyisten begehen, die gesicherten Erkenntnisse einfach zu ignorieren oder zu leugnen, nur weil wir noch nicht alles begriffen haben. Wir wissen viel, aber immer noch viel zu wenig, leider.«

»Die beste Motivation für euch Forscher, nicht wahr?«, lächelte Lucy.

»So ist es. Wie fast immer in der Wissenschaft muss man sich in kleinen Schritten dem Ziel nähern, Voraussetzungen und Konsequenzen von Modellen und Beobachtungen ausloten und eben auch unkonventionelle Wege beschreiten.« Anna hatte sich inzwischen an einen anderen Tisch zurückgezogen und Lee bemerkte, dass er zu dozieren begann, wie sie angedeutet hatte. Leicht errötend entschuldigte er sich: »Tut mir leid, ich rede zuviel.«

»Ganz und gar nicht.« Die Gouverneurin schien eine gute Zuhörerin zu sein. »Wenn ich Sie richtig verstehe, wird es noch lange Zeit dauern, bis konkrete Gegenmaßnahmen in Sicht sind?«

»Gegen die zunehmende Trockenheit, meinen Sie?« Sie nickte. »Ja und nein«, fuhr er fort. »Wir sehen zwar noch nicht, wie die Ursachen zu bekämpfen sind, im Gegensatz zum Kampf gegen die Erwärmung, wo man das CO2 als wichtigen Bösewicht entlarvt hat. Wobei man, nebenbei bemerkt, andere Treibhausgase wie Methan üblicherweise vergisst. Nein, die Ursache der Trockenheit bleibt ein Rätsel, aber wir können und müssen natürlich die Folgen bekämpfen.«

»Und da kommt Ihre Firma ins Spiel, wie ich vermute«, lächelte sie.

»Ja, eines unserer aktuellen Projekte geht gerade jetzt in die entscheidende Phase. Wir haben ein völlig neuartiges Verfahren zur Entsalzung von Meerwasser entwickelt, das nur einen Bruchteil der Energie konventioneller Anlagen benötigt. Schade, dass Ihr Staat keine Küste hat, sonst könnten wir unsere Technologie hier einsetzen und müssten den Pilotversuch nicht in Indien durchführen.«

»Indien?« Er nickte.

»Mit einem großen Projekt im Bundesstaat Kerala wollen wir die Machbarkeit beweisen.«

»Faszinierend. Ich kann mir vorstellen, welcher Segen eine solche Technologie für viele Küstenregionen wäre.« Die Frau war in Ordnung, aber warum hatte sie nur diesen windschlüpfrigen Advokaten geheiratet? Mehr von ihrer Sorte könnte seine Meinung über die Politiker in diesem Land durchaus positiv beeinflussen. Durch die angeregte Unterhaltung hatte er das Steak auf seinem Teller ganz vergessen. Als er zum Messer griff, entschuldigte sich Lucy unvermittelt: »Nun ist Ihr Steak kalt. Tut mir leid, dass ich Sie vom Essen abgehalten habe.« Mit einem Blick auf ihren Teller schmunzelte er:

»Gleichfalls. Lassen Sie sich’s schmecken.« Er aß ein paar Bissen und legte dann Messer und Gabel weg. Am Essen war nichts auszusetzen, aber auf solchen Gesellschaften fühlte er sich nie richtig wohl, und das dämpfte seinen Appetit. Überdies hätte er sich gerne mit Anna unterhalten, aber sie war in den Schoss ihrer Familie geflüchtet. Sie saß am Tisch des Senators aus Illinois, zwischen Neill und ihrer Mutter Myra. Eine Bilderbuchfamilie, dachte er spöttisch und gleichzeitig ein wenig wehmütig. In seiner Familie hatte es eine solche Idylle nie gegeben. Irgendwie lebte jeder sein eigenes Leben in seiner eigenen Welt. Manchmal hatte er das Gefühl, die Eltern und er hätten sich nur zufällig getroffen und eine Weile im gleichen Haus gewohnt. Es war Zeit, sich zu seiner neuen Familie zu gesellen. Er entschuldigte sich bei der Gouverneurin und wollte sich erheben, als sie ihn zurückhielt. Sie zeigte auf einen kultivierten Herrn mit feinen Zügen und angegrauten Schläfen, der neben ihr stand und sagte:

»Nur einen Augenblick noch, Mr. O’Sullivan. Ich möchte Sie kurz Mr. Leblanc hier vorstellen. Er ist CEO von Mamot SA.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Jedes Kind kannte den Nahrungsmittelkonzern Mamot, einen der größten der Welt. Das war er also, Maurice Leblanc, Franzose oder Schweizer, einer der mächtigsten Wirtschaftsbosse. Sein Konzern kontrollierte unter anderem fast jedes Wasserloch, füllte das kostbare Trinkwasser in Flaschen ab und vertrieb es rund um die Welt. Allein mit dem Wassergeschäft erzielte Mamot Milliardenumsätze. Lee kannte sich aus auf diesem Gebiet, denn in gewisser Weise war seine Firma mit den Entsalzungsanlagen eine, wenn auch unbedeutende, Konkurrentin. Ich werde dir das Wasser abgraben, dachte er böse, wechselte ein paar nette Worte mit Leblanc und schlenderte zum Tisch des Senators.

»… disruptive, was soll das? Eine Abbruchfirma? DT, ich bitte dich! Klingt eher nach Insektenvertilger als nach Hightech«, hörte er Neill zu seiner Tochter lästern, als er sich näherte.

»Abbruchfirma ist eine gute Bezeichnung, Neill«, lächelte er, zog einen verwaisten Stuhl heran und setzte sich neben Anna an den illustren Tisch. »Wir räumen nämlich auf mit veralteten Technologien und ersetzen sie durch Sinnvolleres.«

»Er hat es nicht so gemeint, Lee«, versuchte seine zukünftige Schwiegermutter zu schlichten.

»Schon O. K., Myra, ich bin es gewohnt, dass man meine Arbeit nicht versteht«, und zu Neill gewandt fuhr er fort: »vielleicht solltest du unser Projekt in Kerala besuchen, das wäre gutes Anschauungsmaterial.«

Der Senator rümpfte die Nase. »Indien?«, sagte er schaudernd. »Ich glaube, ich verstehe ganz gut, was ihr treibt, aber das sind doch alles ganz kleine Fische. Das große Geld liegt hier, zum Beispiel dort drüben am Tisch der ›Big Coal‹. Der Glatzkopf, der sich gerade den Mund fusselig redet ist Ken Holden, Chef von Clearwater Power. Der könnte kostensparende, neue Technologie gebrauchen. Ihr könntet etwas für die Umwelt tun und erst noch unanständig reich werden dabei.« Es war nicht das erste Mal, dass er solche Vorschläge hörte. Auch sein Vater hatte nicht mit ähnlichen Kommentaren gespart, aber auf diesem Ohr war er taub. Die Kohlekraftwerke hatten keinen Platz in seiner Welt. Diese Dreckschleudern musste man ohne wenn und aber einfach schließen. Mit oder ohne Hightech: es existierte keine saubere Kohle. Er hatte keine Lust, die Diskussion zu vertiefen, gab Anna einen Wink, und sie zogen sich auf die Terrasse zurück, um sich eine Weile ungestört zu unterhalten.

»Auch wenn du es nicht glauben wirst, Lee, aber du bist genau der gleiche Dickschädel wie dein Vater«, sagte Anna halb lachend, halb tadelnd.

»Also habe ich doch noch eine positive Eigenschaft geerbt.«

Sie schaute ihn eine Weile nachdenklich an, dann murmelte sie: »Es ist schon traurig, weißt du.«

»Was meinst du?«

»Es braucht einen tragischen Todesfall, damit wir uns wieder einmal länger als zwei Stunden sehen.« Er nickte schweigend. Sie sprach nur aus, was ihn schon den ganzen Tag beschäftigte. »Und bald wirst du längere Zeit ganz weg sein.«

»Einen Monat«, sagte er leise, wie zu sich selbst. Er hoffte, sie würde die gefürchtete Frage nicht stellen, vergeblich.

»Wie soll es nur mit uns weitergehen?« Er nahm sie in die Arme und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Antwort wusste er keine.

Library of Congress, Washington DC

»A faier sol im trefn!«, schimpfte Jerry außer sich und knallte das Buch auf den Tisch. Jeremy Glickman musste sich schon sehr echauffieren, bis er das einem Buch antat, aber erstens war dieser hanebüchene Bericht über den Selbsterfahrungstrip des Hinterbänklers Lindsay in den Appalachen kein richtiges Buch und zweitens war das neue Katalogsystem soeben zum dritten Mal ausgestiegen an diesem Freitag.

»Immer mit der Ruhe, Jerry, die Ferien stehen vor der Tür«, rief ein junger Kollege, der schnelle Paul, hinter seinem Pendenzenberg.

»Eben, das ist es ja. Heute muss unbedingt zeitig Feierabend sein, ich kann Sarah nicht enttäuschen. Mit dem neuen System kommt man nicht vom Fleck. A schand ist das. Rückgaben dauern viermal so lange wie früher. Habe ich recht oder habe ich recht?« Bald würde er ein trauriges Jubiläum feiern können: das zehnte neue Katalogsystem. Diese Katastrophe war schon das neunte in seiner langen Karriere an der ehrwürdigen Library of Congress. Wie zu jedem Ferienbeginn hatte er seine Tochter zu einem festlichen Schmaus in seine Dachwohnung eingeladen. Wie jedes Mal würde Sarah ihre kleine Buchhandlung in Adams-Morgan ausgerechnet am Freitagabend, wenn die meisten Kunden kamen, frühzeitig schließen, um ihrem alten Vater Gesellschaft zu leisten. Nein, heute durfte er sich unmöglich verspäten, schon gar nicht wegen eines mangelhaften Computerprogramms.

»Kaffee?«, fragte Paul, der schon an der Tür wartete.

»A Schnaps könnte ich jetzt vertragen.« Mit einem bekümmerten Blick auf den Stapel Bücher, der noch bearbeitet werden musste, erhob er sich und schlurfte hinter Paul her zu den Aufzügen. Wenigstens war er bisher von den meisten Reorganisationen verschont geblieben, hatte nicht andauernd umziehen müssen, sondern thronte nun schon fünfzehn Jahre in seinem Penthouse-Büro im fünften Stock des John Adams Building.

Schweigend fuhren sie zur Cafeteria hinunter. Nicht weniger als ein halbes Dutzend weitere Angestellte der Bibliothek machten mehr oder weniger gelangweilt Zwangspause an den Tischen. Jerry sah auf die Uhr und brummte:

»Um fünf bin ich draußen, das schwöre ich.«

»Guter Vorsatz«, lachte Paul. »Die Bücher warten schon, bis du wieder zurück bist. Zwei Wochen, mein lieber Schwan, was machst du nur so lange ohne uns?« Ein fast schon verklärtes Lächeln umspielte seinen Mund, als er an die bevorstehende Reise dachte.

»Ich werde mich bestimmt nicht langweilen«, antwortete er.

»Wohin geht’s denn?«

»In den Süden, Santa Fe und Kalifornien.«

»Route 66?« Paul war ehrlich überrascht.

»Nicht so, wie du denkst. Mit dem Zug.«

»Gute Nacht!«

»Ganz recht, mein Junge. Nach St. Louis und dann im feudalen Schlafwagen des Southwest Chief nach Westen. In Lamy unterbreche ich die Fahrt und sehe mir die Kunst in Santa Fe an.«

»Cool. Ein Glück, dass das Klima wieder besser geworden ist da unten.«

»Klima? Was meinst du damit?«

»Liest du keine Zeitungen?«, wunderte sich Paul, dann schlug er sich an die Stirn. »Ach so, dumm von mir, ich vergesse es immer wieder. Ihr Humanisten lest ja nur das Feuilleton.«

»Was ist mit dem Klima?«, fragte Jerry ungerührt, während er wieder auf die Uhr schaute.

»Die Durchschnittstemperatur ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Sogar in Arizona gibt es neuerdings längere Perioden unter hundert im Sommer.«

»Hört sich gut an«, sagte er abwesend und stand auf. Er musste zurück an die Arbeit. Wenn die Techniker nicht geschlafen hatten, sollte das System inzwischen wieder hochgefahren sein.

Ohne aufzublicken widmete er sich den letzten Büchern des Stapels, freute sich über jede Eingabe bei der keine Fehlermeldung auf dem Bildschirm erschien. Noch zehn Minuten und noch ein Buch. Das war zu schaffen. Er klappte den Deckel des Wälzers auf und stutzte. Die Abhandlung über den Klimawandel war fünf Jahre überfällig. Ein Spezialfall, auch das noch. »A schand ist es, a schand«, grantelte er verärgert, doch als er die Adresse des Kunden sah, hellte sich seine Miene auf. Ein Senator, der durfte sich so etwas natürlich ohne Konsequenzen erlauben. Rasch tippte er die notwendigen Angaben in die Tastatur und meldete sich beim widerspenstigen System ab. Zum letzten Mal für zwei Wochen. Er atmete auf. Bevor er das Buch zur Ablage weitergab, hob er es auf und ließ die Seiten mit geübtem Griff über seinen Daumen gleiten, um sicher zu gehen, dass nichts im Buch steckte, was nicht hinein gehörte. Laien machten sich keine Vorstellung davon, was die Leute alles zwischen Buchseiten steckten. Fotos, Geld, Briefe, er hatte schon einen Präservativ gefunden, original verpackt, glücklicherweise. Eine Minute vor fünf, und prompt fiel ein dünnes Bündel zusammengefaltete Papiere auf seinen Schreibtisch. Der liebe Gott wollte ihn ärgern, den ganzen Tag schon. Vielleicht wusste Rabbi Katzenstein, was den Allmächtigen an solchen Tagen umtrieb, aber er musste jetzt zu dieser Tür hinaus, vergessene Briefe hin oder her. Kurz entschlossen stopfte er die Papiere in einen Umschlag, beschriftete ihn mit der Adresse des Senators und steckte ihn ein. Er konnte die paar Seiten ebenso gut von zu Hause aus an den vergesslichen Kunden zurücksenden.

Bevor er zur Metrostation hinunterstieg, sog er seine Lungen einige Male voll mit der frischen Luft. Er liebte die Arbeit mit den Büchern, aber jetzt war er froh, für zwei Wochen alles vergessen zu können. Wer weiß, vielleicht erwartete ihn ohnehin ein neues Computersystem, wenn er um viele Erfahrungen reicher ins Penthouse zurückkehrte.

Kochi, Indien

Lee hätte sich am liebsten hingelegt, wo er gerade stand. Er wäre wohl auf der Stelle eingeschlafen. Die mühsame, zeitraubende Suche nach dem zuständigen Beamten des Regional Transport Office in Kochi, die Hitze, die unerträglich dicke Luft im Stau und zu viele Pappadoms mit scharfem Chutney zehrten arg an seinen Kräften. Aber noch lag ein halber Arbeitstag vor ihm, und das hieß in dieser Phase des Projekts: weitere acht Stunden.

Er hatte die Mannschaft im Maschinenraum versammelt, um den Arbeitsfortschritt zu besprechen. Die Halle mit den mächtigen Tanks, Pumpen und dem Gewirr silbern schimmernder Röhren, die nur darauf warteten, Salzwasser aus dem Meer zu saugen und sauberes Trinkwasser auszuspeien, bildete die richtige Ambiance für die täglichen Meetings. Trotz der auf den ersten Blick verwirrenden Vielzahl von Apparaturen staunte er jedes Mal, wenn er hier stand, wie einfach ihre Anlage doch im Grunde funktionierte. Konventionelle, ältere Entsalzungsanlagen arbeiteten nach dem Destillationsprinzip, indem man das Salzwasser erhitzte und den kondensierten Wasserdampf als Süßwasser auffing. Meist geschah das unter stark reduziertem Druck, um den Siedepunkt des Wassers herunterzuschrauben. Viele neuere Anlagen benutzten ein anderes Verfahren: Umkehrosmose oder Reverse Osmose, RO. Der natürliche Vorgang der Osmose, bei dem Wasser durch eine halbdurchlässige Membran von Regionen niedriger Salzkonzentration in Regionen höherer Konzentration fließt. Setzte man aber die Region mit höherer Salzkonzentration, also das Meerwasser, genügend hohem Druck aus, wanderte das Wasser in die andre Richtung, und auf der anderen Seite der Membran sammelte sich das Trinkwasser. Beide Verfahren waren aufwändig und verbrauchten Unmengen an Energie. Die neue Technologie seiner Firma war dagegen geradezu primitiv, trotz der abschreckenden Bezeichnung: Kapazitive Ionenpumpe. Sie leiteten das Meerwasser einfach zwischen elektrisch aufgeladenen Platten hindurch. Die gelösten Salzteilchen, elektrisch geladene Ionen, wanderten dabei zur Platte mit der entgegengesetzten Ladung, und am Ende des Wegs kam nur noch Süßwasser aus der Anlage. Zu- und Abflussröhren, Verteiler und ein paar mechanische Filter war alles, was ihre Fabrik außer den Platten und der Elektrotechnik brauchte. Revolutionär an ihrer Technologie war die Beschichtung dieser Platten: Nanostrukturen, die wie feinste Schwämme eine millionenfach größere Oberfläche für den Ionentausch boten als konventionelle Elektroden. Dadurch verschlang ihr Apparat nur einen Bruchteil der Energie anderer Anlagen für die Entsalzung des Meerwassers. Lee war überzeugt, dass sich ihre Technologie über kurz oder lang durchsetzen würde.

»Sayed, ich muss gestehen, ich hätte dich heute Morgen gebraucht«, sagte er, als er seinen kurzen Lagebericht beendete.

Sayed Chandra, der Maschineningenieur aus Kochi, den er an der Universität in Chicago kennen gelernt hatte, grinste schadenfroh.

»Du wolltest dich ja unbedingt allein durchschlagen, aber ich habe dich gewarnt. Unsere Beamten haben die seltsame Gabe, plötzlich taub zu werden oder die englische Sprache nicht mehr zu verstehen, insbesondere bei Ausländern.«

»Danke, ich hab’s begriffen. Das nächste Mal wirst du wieder dabei sein.« Sayeds Team motivierter, junger Techniker schien Lees Missgeschick königlich zu amüsieren. Er konnte es ihnen nicht verübeln, denn wenn er etwas gelernt hatte in den wenigen Tagen seit er hier im Südwesten des indischen Subkontinents angekommen war, dann die Tatsache, dass er als Fremder absolut nichts verstanden hatte von der Art, wie man hier Geschäfte abwickelte. »Wie sind eure Durchlauftests verlaufen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. Sayed setzte eine betrübte Miene auf, als er antwortete:

»Statik und Druck sind mit größter Wahrscheinlichkeit O. K., aber ich kann das nicht mit letzter Sicherheit behaupten. Wir tun unser Bestes, die Produktion mit den Ersatzpumpen zu simulieren, aber sie sind viel zu schwach, um die Anlage wirklich in Betrieb zu nehmen, das weißt du ja.«

»Ich habe gute Nachrichten, Leute. Der Frachter mit dem restlichen Material läuft heute ein.« Die Hafenverwaltung hatte ihn informiert. Höchste Zeit, dass die Ware geliefert wurde, denn die Entsalzungsanlage an der Küste von Veli im Süden der Stadt war nichts als ein Schrottplatz ohne die richtigen Spezialpumpen. Die Männer, und es arbeiteten tatsächlich nur Männer im Projekt, applaudierten erleichtert. Jeder wartete ungeduldig auf das erste Wasser.

Er gab seinem Freund Ingo ein Zeichen. Ingemar Lohwasser, ein Deutscher, Elektroingenieur, der sein ganzes Studium in den Staaten absolviert hatte, sollte die Leitung des laufenden Betriebs nach der Bauphase übernehmen. Der bärtige blonde Hüne freute sich mehr als alle anderen auf den Tag, an dem es endlich losginge. Mit seiner Baritonstimme gab er die neusten Änderungen der Schichtplanung bekannt, nicht ohne sein ceterum censeo hinzuzufügen:

»Ich möchte nur nochmals darauf hinweisen, dass ein Betrieb ohne Reserve-Transformatoren nicht zu empfehlen ist.«

»Auch du bist erhört worden, Ingo«, lachte Lee. »Der Frachter wird zwei Trafos liefern.«

»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe«, brummte der Ingenieur, den man sich eher als Alleinsegler denn als Betriebsleiter vorstellen konnte. Lee schmunzelte nur. Er kannte den Kauz gut und vertraute ihm hundertprozentig.

Eine Stunde später saß er eingepfercht neben Sayed auf dem Rücksitz einer Autorikscha im Stau. Die dreirädrigen Blechkästen waren die vernünftigsten Transportmittel in der Stadt, aber auch sie blieben häufig im Verkehrschaos stecken. Sie waren unterwegs zum Frachthafen. Mit den nötigen Papieren in der Tasche, wollte er die Löschung und das Umladen der Ware auf den Laster selbst überwachen. Nachdem sie die Neue Brücke nach Willingdon Island überquert hatten, rollte der Verkehr flüssiger, und der Fahrer setzte sie nach wenigen Minuten vor dem imposanten Tempel der Hafenverwaltung ab. ›Ernakulam Q6‹ war der Kai, an dem ihr Frachter angedockt hatte, nur ein paar hundert Meter vom Büroturm entfernt. Ein Mehrzweckfrachter sollte es sein, ein Stückgutschiff mittlerer Größe. Sie brauchten nicht lange zu suchen. Eingeklemmt zwischen zwei unendlich langen, modernen Containerschiffen lag ein alter Rosthaufen am Kai, jedenfalls war das Lees erster Eindruck. Aber es war ihr Schiff. ›Спа´сский‹ stand in großen, kyrillischen Lettern am Bug, die Spassky mit russischer Mannschaft unter panamaischer Flagge, die ihre Transportfirma wohl einzig und allein angeheuert hatte, um Kosten zu sparen. Die Wartung des Kahns konnte jedenfalls nicht viel Geld verschlingen, wie die rotbraunen Streifen auf der schmutziggrauen Hülle bestätigten. Das Schiff bestand im Wesentlichen aus einem fünf- oder sechsstöckigen Deckhaus, mehreren Ladeluken und zwei hohen Masten mit überraschend gebrechlich wirkenden, langen Ladebäumen. Einer dieser Deckskräne hatte gerade seine Palette mit folienverpackten Kisten vor dem Gabelstapler abgesetzt. Leuchtend blau lachten ihnen die Buchstaben DT entgegen, das vertraute Logo ihrer Firma. Lee warf seinem Begleiter einen triumphierenden Blick zu und vergaß den zweifelhaften Zustand des Schiffs. Auf Sayeds Rat hatten sie eine spezialisierte Mannschaft mit der Löschung beauftragt, und die Leute schienen ihr Handwerk zu verstehen. Sie arbeiteten schnell und mit der nötigen Vorsicht.

»Was wohl die Typen dort hinten im Schild führen?«, wunderte sich Lee. Eine Gruppe Hafenarbeiter lehnte gelangweilt an einem Schuppen und beobachtete das emsige Treiben. Sayed grinste verlegen. Er zögerte mit der Antwort.

»Nokku kooli«, sagte er schließlich wenig hilfreich. Lee sah ihn fragend an. »Bezahlte Zuschauer. Es sind lokale Hafenarbeiter, die wir bezahlen müssen, weil fremde Männer ihren Job machen.« Lee konnte nicht glauben, was er hörte.

»Du behauptest allen Ernstes, ich bezahle diese Kerle fürs Zuschauen?« Sein Kollege nickte und beeilte sich zu versichern:

»Diese Zuschauer-Gebühr ist illegal, aber hier war es immer so. Glaub mir, es ist das Beste, den bescheidenen Tribut einfach zu entrichten.«

»Unfassbar«, brummte Lee einigermaßen erschüttert. Mit seiner Auffassung von freier Marktwirtschaft war dieses Gebaren nicht vereinbar, und das ärgerte ihn nachhaltig. Sie gingen zum Lastwagen, auf dessen Ladefläche die DT-Paletten jetzt standen. Der Chauffeur zwängte sich mit der Ladeliste zwischen den Stapeln hindurch und prüfte die Etiketten. »Alles da?«, fragte Lee. Er begrüßte den Fahrer und schwang sich zu ihm hinauf. Nach dem Gesicht des Mannes zu urteilen, war es alles andere als eine rhetorische Frage.

Der Fahrer schüttelte den Kopf und schimpfte: »Einmal möchte ich erleben, dass diese elenden Listen stimmen.« Er zeigte Lee das Papier, auf dem er alle Posten abgehakt hatte, außer einem. Als Lee sah, was die fehlende Palette enthielt, erbleichte er.

»Die Liste stimmt schon«, murmelte er, »aber die Lieferung offenbar nicht. Sind Sie sicher, dass alles abgeladen ist?« Der Fahrer nickte.

»Das behauptet die Crew.«

»Das kann nicht wahr sein«, sagte er tonlos und begann, selbst nochmals die ganze Ladung zu kontrollieren.

»Was ist los?«, rief Sayed beunruhigt.

»Die Pumpen fehlen«, schrie Lee zwischen den Paletten.

»Was?«

Die Ladeliste stimmte.

Er beugte sich zu Sayed hinunter und reichte ihm das Dokument.

»Die verdammten Pumpen fehlen«, knurrte er wütend. Das musste ein Irrtum sein. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass die Pumpen von der Transportfirma in Chicago abgeholt worden waren. Sie mussten einfach da sein. Eine Verwechslung? Die Spassky hatte eine Menge anderer Güter entladen, die teils noch auf dem Kai lagerten, teils bereits in anderen Lastwagen wer weiß wohin unterwegs waren. »Wir müssen mit dem Captain reden«, sagte er unvermittelt und sprang vom Wagen.

Um ganz sicher zu gehen, kontrollierten sie in aller Eile die Etiketten der noch nicht abgeholten Güter am Kai Q6, bevor sie sich zum Schiff wandten. Sie hatten das Fallreep der Spassky noch nicht erreicht, als sich ihnen vier Männer mit versteinerten Mienen in den Weg stellten. Soweit Lee es beurteilen konnte, waren es Einheimische, die nicht danach aussahen, als ließen sie mit sich spaßen.

»Stopp, was wollt ihr?«, schnauzte sie einer an.

»Zum Captain. Wir wollen zum Captain«, knurrte Lee streitlustig zurück, »und wer seid ihr?« Der Anführer der Viererbande machte einen drohenden Schritt auf sie zu.

»Der Captain ist nicht da. Ihr habt hier nichts zu suchen, verzieht euch!« Das war zuviel für ihn. Trotzig trat er näher, bereit, dem anderen jederzeit an die Gurgel zu springen, doch Sayed zerrte ihn plötzlich am Hemdsärmel zurück und flüsterte aufgeregt:

»Goondas!«

»Goon – was?« Sayed deutete verstohlen auf die Männer, aber Lee hatte die Messer in ihren Händen längst bemerkt. »Komm, weg hier.« Widerstrebend folgte er seinem Mitarbeiter. Kaum waren sie außer Hörweite, klärte ihn Sayed auf. Als Goondas bezeichnete man hier Mitglieder krimineller Banden, und deren gab es viele in dieser Gegend. Selbstredend gab es Gesetzte gegen das Bandenwesen, aber die nützten nicht viel, solange sie nur auf Papier standen. Es sah ganz danach aus, dass jemand mit Gewalt verhindern wollte, dass er den Frachter betrat, aber weshalb?

Sayed musste sein ganzes diplomatisches Geschick einsetzen, um ihn vor einem Ausraster im Büro der Hafenpolizei zu bewahren. »Es ist das gute Recht des Kapitäns, jemanden nicht aufs Schiff zu lassen«, betonten die Beamten. Das wusste er auch, aber sein gutes Recht war es, Auskunft über seine teuer bezahlte und dringend benötigte Ware zu erhalten. Die nervenaufreibende Odyssee in der Hafenverwaltung brach er nach einer Stunde selbst ab. Mit konstanter Boshaftigkeit endeten sämtliche Vorstöße stets mit dem Hinweis auf die Transportfirma und die Versicherung. Allmählich begann er zu glauben, dass die für das Projekt lebenswichtigen Pumpen tatsächlich nicht angekommen waren. Eine Katastrophe, denn sie hatten keinen Plan B. Chicago würde er erst in ein paar Stunden anrufen können. Alles hatte sich gegen ihn verschworen.

Sie fuhren wortlos zur Fabrik zurück. Ihm wurde übel beim Gedanken, das Projekt für unbestimmte Zeit auf Eis legen zu müssen.

Die Krisensitzung mit seinen Teamleitern förderte wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer zutage. Wenn sie die alten Pumpen in Reihe schalteten, könnte die Förderhöhe überwunden werden, aber sie brauchten zwei solche Konstruktionen. Das hieß für Sayeds Männer, nochmals zwei Ersatzpumpen, Ventile und Röhren zu organisieren. Trotzdem saß der Schock tief, war die Stimmung unter den Leuten bedrückt, denn diese Alternative bedeutete Zeitverlust und beträchtliche Mehrkosten.

An diesem Abend hatte keiner Lust auf ein gemeinsames Essen, das sonst zum Tag gehörte, wie das Schrillen des Weckers am frühen Morgen. Um acht Uhr rief Lee die Transportfirma in Chicago an. Die freundliche Sachbearbeiterin bestätigte ihm nach kurzer Suche, was er im Grunde genommen schon wusste. Das Material hatte die USA auf diesem Schiff verlassen, daran gab es keinen Zweifel. Resigniert nahm er zur Kenntnis, dass die Versicherung wenigstens einen Teil des Schadens bezahlen würde. Die Sache stank zum Himmel. Mit dieser Spassky stimmte etwas ganz und gar nicht. Er kannte sich selbst gut genug, dass er gar nicht erst versuchte, die Geschichte zu verdrängen. Ohne zu wissen, was los war, fände er keine Ruhe mehr. Wenn sich die offiziellen Stellen blind und taub stellten, musste er die Sache selbst in die Hand nehmen.

Ein paar Minuten später saß er wieder im Auto und ließ sich, mit einer Taschenlampe bewaffnet, zum Hafen fahren. Diesmal schlich er sich vorsichtig an den Frachter heran. Der Kai lag verlassen im Dunkeln. Auf dem Schiff brannten nur die Positionslichter, und einige Fenster des Deckhauses waren erleuchtet. Er blieb stehen, horchte, schaute sich angestrengt nach allen Seiten um, dann näherte er sich dem Fallreep. Kein Mensch war zu sehen, nur das gleichmäßige Plätschern des Wassers und das verhaltene Brummen der Generatoren waren zu hören. Er setzte einen Fuß auf die Treppe. Das Metall ächzte leise und er hielt erschreckt inne. Als alles ruhig blieb, wagte er den nächsten Schritt. Unendlich langsam stieg er die Treppe entlang der Schiffshülle hinauf. Wieder horchte er angestrengt, bevor er einen Blick aufs Deck wagte. Schwarz und verlassen lag die Ladeluke vor ihm und ein erleichtertes Grinsen huschte über sein Gesicht, denn trotz der Dunkelheit konnte er deutlich erkennen, dass sie noch offen war. Er schwang sich über die Reling, als ihn plötzlich ein heller Lichtstrahl traf. Eine Tür am Deckhaus flog auf und Stimmen ertönten. Blitzschnell sprang er aufs Fallreep zurück und kauerte sich in der Dunkelheit an die Schiffshülle. Niemand rief nach ihm. Gott sei Dank, sie hatten ihn nicht gesehen. Schon atmete er auf, doch kurz danach näherten sich schwere Schritte. Wenn das die verfluchten Goondas waren, hatte er ganz schlechte Karten. Seine Muskeln spannten sich. Mit jeder Faser seines Körpers bereitete er sich auf den unvermeidlichen Angriff vor. Das dumpfe Geräusch der Schritte war jetzt unmittelbar über seinem Kopf, aber es verstummte nicht wie erwartet. Der Unbekannte ging weiter. Ein Matrose vielleicht, der seine gewohnte Runde machte. Erst als er ihn nicht mehr hörte, wagte sich Lee aus seinem Versteck. Noch vorsichtiger als bisher huschte er, jede Deckung ausnützend, zur Luke und glitt geräuschlos wie eine Schlange die eiserne Leiter hinunter in den nachtschwarzen Laderaum.

Er verkroch sich in die hinterste Ecke, setzte sich auf den rauen Holzboden und lauschte. Eine Weile hockte er bewegungslos im Dunkeln, bevor er es wagte, die Lampe einzuschalten. Dann begann er seine Suche. Auf den ersten Blick fiel ihm auf, dass der Laderaum keineswegs leer war, und er schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht fand er die vermisste Palette doch noch auf diesem verhexten Frachter. Er wollte sich systematisch an den Wänden entlang arbeiten und anschließend gegen die Mitte der riesigen Ladeluke vordringen. Aber wo sollte er beginnen? Der Lichtkegel seiner Lampe schweifte langsam durch den Raum, bis er an einer leer geräumten Stelle stehen blieb. Dort hatten wohl die übrigen DT-Paletten gestanden. Aufgeregt sprang er auf die Lücke zu. Zu spät sah er den Stahlträger, der hinter einem mannshohen Stapel Kisten den Weg versperrte. Mit voller Wucht prallte seine Stirn gegen das Metall. Er ging lautlos zu Boden, nur der dumpfe Aufprall auf den Planken war zu hören.

Lee hörte und spürte nichts, als das Fallreep hochgezogen, die Taue eingeholt, die Dieselmotoren angelassen wurden und die Spassky mitten in der Nacht in See stach.

Das Komplott der Senatoren

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