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A2.3 Anregungen zu den einzelnen Schritten

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So weit das Rezept Erfahrungen reflektieren einmal im Schnelldurchgang und anhand eines einfachen Beispiels (weitere Beispiele: B4 Reklamationsgespräch, B5 Das gute Leben und B6 Unterrichtsbeispiele besprechen). Damit die einzelnen Schritte die gewünschte Funktion übernehmen und als Ganzes ineinandergreifen, gibt es Verschiedenes zu beachten.

Zu Schritt 1: Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Situation als Analyseeinheit: Erfahrungen werden als Situationen erinnert (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche). Entsprechend ist die Einheit bei der Analyse von Erfahrungen die Situation.

Bekannte Situation: Der ganze Ablauf geht davon aus, dass die Lernenden mit der Situation bereits Erfahrungen gemacht haben. Am besten eignen sich daher Situationen, bei denen diese Voraussetzung für alle Lernenden erfüllt ist. Es ist aber auch möglich, an Situationen zu arbeiten, zu denen nicht alle Lernenden eigene Erfahrungen gemacht haben. Eine bestimmte Geschichte wird letztlich für alle – ausser der Lernenden, die sie erzählt – eine fremde Geschichte sein, und auch die Lernenden mit einschlägigen Erfahrungen müssen sich in diese fremde Geschichte eindenken. Allerdings sollten mehr als ein Drittel der Lernenden die Situation schon erlebt haben, da sonst in der Klasse der Eindruck entsteht, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt, die den ganzen Aufwand nicht wert ist.

Beobachtungsaufträge: Das Material, auf das die Lernenden bei der Arbeit an ihren Erfahrungen zurückgreifen, ist reichhaltiger, wenn man ihnen geeignete Vorbereitungsaufträge stellt. Dabei kann es sich um Beobachtungsaufträge handeln. Die Lernenden beobachten sich selbst oder andere in der entsprechenden Situation und machen sich Notizen. Man kann sie aber auch auffordern, Materialien wie schriftliche Unterlagen oder Handyfotos der erlebten Situation mitzubringen, soweit dadurch nicht rechtliche Bestimmungen verletzt werden.

Zu Schritt 2: Geschichte wählen und erzählen

Auswahl: Als Einstieg fragt die Lehrperson, wer von den Lernenden schon Erfahrungen mit der entsprechenden Situation (z.B. «Reklamationen entgegennehmen») gemacht hat und darüber erzählen möchte. Die Lernenden schildern kurz in zwei, drei Sätzen, was sie erzählen könnten. Diese Kurzfassungen dienen dann als Basis für die Entscheidung darüber, welche Geschichte ausführlicher erzählt werden soll.

Dadurch, dass die Lernenden bei der Auswahl der Geschichte mitwirken, wird sichergestellt, dass sich möglichst viele Lernende dafür interessieren und sich aktiv mit ihr auseinandersetzen (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit). In seltenen Fällen kann es trotzdem sinnvoll sein, wenn die Lehrperson die Lernenden überstimmt und eine Geschichte wählt, dank der sich besser an aktuellen Lernzielen arbeiten lässt (z.B. lieber «eine anspruchsvolle Kundin» als «ein wütender Kunde»).

Geschichte: Die Arbeit wird ergiebiger und wirksamer, wenn die Erfahrung ungefiltert einfliesst. Der Begriff «Geschichte» ist daher ganz bewusst gewählt. Es geht nicht darum, einen «Fall» zur Illustration einer bestimmten Theorie zu gewinnen, sondern darum, an den realen Erfahrungen der Lernenden anzuknüpfen und diese zu bearbeiten (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C2 Erfahrungen und Ressourcen; C7 Schnelles Denken, langsames Denken).

Nur eine Geschichte: Es wird nur eine Geschichte erzählt, damit genügend Platz vorhanden ist, um die entsprechende Erfahrung in ihrer vollen Komplexität darzustellen und zu analysieren. Allerdings wird so das situative Wissen nur von einer einzigen Lernenden direkt bearbeitet. Daher ist es wichtig, die Geschichte ausführlich zu erzählen, sodass die anderen Lernenden sie als eine Ersatzerfahrung auch in ihr situatives Wissen einbauen können (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C5 Erfahrung und Instruktion).

Zu Schritt 3: Frage wählen

Funktion: Jede reale Erfahrung lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln genauer analysieren. Fragen, die man im Zusammenhang mit der erzählten Geschichte behandeln möchte, entsprechen solchen Blickwinkeln. Dabei kann es um eher fachliche, aber genauso gut um sozial-kommunikative oder methodische Fragen gehen.

Bei «Reklamationen entgegennehmen» könnte es beispielsweise aus einem eher fachlichen Blickwinkel um den professionellen Umgang mit Reklamationen gehen oder aus einer eher sozial-kommunikativen Perspektive um die Gestaltung der Interaktion mit dem Kunden.

Wahl: Auch hier sollen nach Möglichkeit die Lernenden die Frage bestimmen, mit der weitergearbeitet wird, damit sich möglichst viele von ihnen mit ihr identifizieren und aktiv mitarbeiten (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort). Sogar wenn die Frage aus Sicht der Lehrperson nicht besonders sinnvoll erscheint, kann es zweckmässig sein, auf den Wunsch der Gruppe einzugehen. Dies ermöglicht es den Lernenden zu erleben, welche Fragen in welchem Kontext eher zu interessanten Einsichten führen.

Buchführung: Für alle Beteiligten ist es hilfreich, die Liste der Fragen gut sichtbar aufzuhängen und im weiteren Verlauf gelegentlich zu dokumentieren, welche davon man bereits wie angegangen hat. Man kann diese Liste auch laufend um weitere Fragen ergänzen, die vielleicht bei der Bearbeitung der folgenden Schritte auftauchen.

Zu Schritt 4: Raster wählen und darstellen

Geeignete Raster: Nützlich sind Raster mit einer klar normativen Aussage, das heisst, aus denen man ableiten kann, ob das Vorgehen in der geschilderten Situation professionellen Standards genügt. Und selbstverständlich sollte das gewählte Raster eine Bearbeitung der gewählten Frage ermöglichen.

Das Vier-Ohren-Modell nach Schulz von Thun (1981) beispielsweise beleuchtet Situationen eher aus einer sozial-kommunikativen Perspektive, ist also für entsprechende Fragen geeignet. Es enthält verschiedene normative Aspekte, wie etwa die Aussage, dass es für eine gelingende Kommunikation wichtig ist, auf Widersprüche zwischen den vier «Ohren» zu achten.

Quelle: Sofern das Raster früher schon einmal behandelt wurde, sollten nach Möglichkeit die Lernenden es kurz zur Auffrischung darstellen. Kommt ein neues, unbekanntes Raster zum Einsatz, wird es an dieser Stelle durch die Lehrperson eingeführt.

Darstellung des Rasters: Notwendig ist an dieser Stelle nur ein Überblick über die zentralen Aspekte (z.B. kurz und anschaulich, welche vier Aspekte der Kommunikation mit den vier Ohren gemeint sind), die einen Bezug zur gewählten Frage haben (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C3 Situierte Abstraktion; C5 Erfahrung und Instruktion). Details können bei Bedarf beim folgenden Schritt nachgereicht werden.

Zu Schritt 5: Beschreibung

Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Funktion: Bei der Beschreibung geht es darum, die einzelnen Elemente der Geschichte mit der Begrifflichkeit des Rasters zu benennen. Je nach Raster ist dies schnell getan oder erfordert eine sorgfältige, feine Aufgliederung. Durch diese Beschreibung wird einerseits die Analyse im folgenden Schritt vorbereitet, andererseits üben die Lernenden, über eine Situation aus dem beruflichen Alltag mithilfe der Fachsprache zu kommunizieren und sie aus einer fachlichen Perspektive zu strukturieren.

Nutzt man beispielsweise das Vier-Ohren-Modell als Raster zur Beschreibung einer Geschichte zum Thema «Reklamationen entgegennehmen», geht es darum, die einzelnen Etappen des Gesprächs mit dem Kunden den vier Kategorien «Sach-Ohr», «Beziehungs-Ohr», «Selbstoffenbarungs-Ohr» und «Appell-Ohr» zuzuordnen.

Präzisierungen zum Raster: Typischerweise wird im Verlaufe des Versuchs, die Geschichte mithilfe der Begrifflichkeit des Rasters zu ordnen, schnell klar, wo die erste einführende Darstellung des Rasters genügte und wo spezielle Aspekte detaillierter behandelt werden müssen. Damit der Arbeitsfluss erhalten bleibt, sollten immer nur gerade so viele Details behandelt werden, wie für die Analyse der Geschichte notwendig sind. Eine systematischere umfassende Darstellung des Rasters kann nachträglich schriftlich abgegeben oder es kann auf entsprechende Quellen verwiesen werden (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C3 Situierte Abstraktion).

Zu Schritt 6: Analyse

Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Funktion: Ziel dieses Schritts ist es, das Geschehen in der Geschichte aus dem Blickwinkel des Rasters zu bewerten. Zu diesem Zweck werden für einen Moment alle Zweifel an der Nützlichkeit und Begründbarkeit des Rasters und seiner normativen Aussagen zur Seite geschoben, und die Analyse erfolgt, als ob das Raster eine unumstössliche Wahrheit formulieren würde. Setzt man beispielsweise das Vier-Ohren-Modell ein, unterdrückt man für die Analyse jeden Zweifel daran, ob es sinnvoll ist, die vier «Ohren» zu unterscheiden und auf Widersprüche zwischen ihnen zu achten.

Resultate: Beim Vergleich zwischen normativer Aussage des Rasters und realem Geschehen in der Geschichte kann man zu vier verschiedenen Aussagen kommen:

Positives Beispiel im Sinne des Rasters: In der Geschichte wurde genauso gehandelt, wie es das Raster vorsieht (z.B.: Ein Widerspruch zwischen zwei verschiedenen «Ohren» wurde erkannt, und es wurde darauf reagiert).

Negatives Beispiel aus der Sicht des Rasters: Aus der Sicht des Rasters wurden in der geschilderten Situation Fehler begangen (z.B.: Ein Widerspruch zwischen zwei verschiedenen «Ohren» wurde nicht bemerkt).

Erweiterung/Variante zum Raster: Das Vorgehen in der Geschichte weist Aspekte auf, die so zwar im Raster nicht explizit erwähnt sind, die aber eine Präzisierung oder einen guten Zusatz im Sinne des Rasters darstellen (z.B.: In der Geschichte wurde auf eine besonders gelungene Art auf einen Widerspruch zwischen verschiedenen «Ohren» reagiert).

Begründbare Abweichung vom Raster: Das Vorgehen in der Geschichte weicht zwar von dem ab, was laut Raster optimal wäre. Die speziellen Umstände in der geschilderten Situation machen diese Abweichung aber notwendig und sinnvoll. (z.B.: Aus einem guten Grund, der sich aus der konkreten Situation heraus ergibt, wurde ausnahmsweise nicht auf einen Widerspruch zwischen verschiedenen «Ohren» reagiert).

Raster nicht anwendbar: Das Raster ist auf die geschilderte Situation nicht anwendbar, und entsprechend ist keine Aussage möglich (z.B.: Die Problematik der Geschichte liegt weniger im sozial-kommunikativen Bereich, sondern eher im fachlichen, wozu das Vier-Ohren-Modell keine Aussagen macht).

Auch das letzte Resultat ist eine wertvolle Einsicht, denn zum Beherrschen eines Konzeptes gehört auch das Wissen über seinen (begrenzten) Anwendungsbereich.

Kritische Distanz: Je nach Raster kann es sinnvoll sein, nach erfolgter Analyse wieder eine gewisse kritische Distanz zum Raster einzunehmen. Dies kann bedeuten, dass man gemeinsam aus der Analyse heraus beurteilt, als wie nützlich es sich erwiesen hat, wie wertvoll die gewonnen Einsichten sind. Dann ist aber auch ein als nützlich wahrgenommenes Raster nur wirklich nützlich, wenn es verlässlich ist, das heisst, wenn die normativen Komponenten mehr oder weniger unbestritten sind. Ist beispielsweise die Forderung, auf Widersprüche zwischen verschiedenen «Ohren» zu reagieren, eine allgemein akzeptierte Norm oder nur die Idee eines einzelnen Autors? Hier ist die Lehrperson gefragt, um den notwendigen Hintergrund zu liefern.

Zu Schritt 7: Varianten

Funktion: Durch die Schritte 3 bis 6 wird die erzählte Geschichte aus einem klar definierten, durch das Raster gegebenen und damit eingeschränkten Blickwinkel beleuchtet. Typischerweise gibt es aber noch verschiedene andere Aspekte der Geschichte, die die Lernenden beschäftigen. Schritt 7 bietet die Gelegenheit, in offener Form darauf einzugehen. Aufgrund der vorangegangenen Diskussionen ist es für die Lehrperson meist möglich abzuschätzen, was die Lernenden beschäftigt, und sie kann somit geeignete Aktivitäten vorschlagen.

Weitere Bearbeitung der Geschichte: Man kann sich der erzählten Geschichte nochmals unter einem neuen Gesichtspunkt zuwenden. Mögliche Themen sind:

• Vorschläge, wie man in der Geschichte hätte anders vorgehen können,

• Vergleich mit den Erfahrungen der anderen Lernenden,

• alternative Raster, mit denen man die Geschichte auch noch analysieren kann,

• kritische Anmerkungen zum verwendeten Raster,

• Erweiterungsvorschläge zum Raster,

• Präzisierungen zum genutzten Raster.

Im Gegensatz zum vorangegangenen Analyseschritt, in dem es strukturiert darum geht, Erfahrung und Raster beziehungsweise Theorie zueinander in Verbindung zu bringen, kann die Diskussion hier in lockerer Form geführt werden.

Hat man eine Geschichte zu «Reklamationen entgegennehmen» mithilfe des Vier-Ohren-Modells analysiert, könnte man nun beispielsweise noch besprechen, ob das, was im Gespräch gesagt wurde, auch fachlich korrekt war.

Üben: Alternativ kann man diesen Schritt aber auch dazu nutzen, den Gebrauch des gewählten Rasters zu üben, wie etwa weitere Erfahrungen mithilfe des Rasters zu ordnen oder übungshalber nach den Vorgaben des Rasters zu handeln.

Im Zusammenhang mit «Reklamationen entgegennehmen» könnten beispielsweise die Lernenden in kleinen Gruppen eigene Erfahrungen mithilfe des Vier-Ohren-Modells analysieren. Alternativ könnte man im Rollenspiel üben, Reklamationen korrekt entgegenzunehmen.

Zu Schritt 8: Konsequenzen

Individuelle Form: In den meisten Fällen werden sich für die einzelnen Lernenden ganz unterschiedliche Konsequenzen ergeben (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit). Die einen sind vielleicht zum Schluss gekommen, dass das verwendete Raster sehr nützlich ist, sie es aber noch nicht gut genug kennen und mehr erfahren wollen. Andere ziehen aus dem Besprochenen konkrete Schlussfolgerungen für ihren beruflichen Alltag und werden diese erproben wollen. Wichtig ist deshalb, dass die Lernenden je individuell für sich ihre Schlüsse ziehen. Fällt ihnen das schwer, bietet es sich an, im Tandem zu arbeiten, da es manchen Lernenden leichter fällt, diese Überlegungen im Gespräch als für sich allein anzustellen.

Spickzettel: Ziehen die Lernenden die Konsequenz, das Gelernte im beruflichen Alltag zu erproben, ist es sinnvoll, dass sie dazu eine kleine Anleitung, einen Spickzettel schreiben, auf den sie dann bei Gelegenheit zurückgreifen können.

Schlussrunde: Die abschliessende Runde hat einen doppelten Zweck: Zum einen erhöht sie die Verbindlichkeit der Beschlüsse, die die Lernenden für sich gefasst haben. Und zum anderen bekommen die Lernenden hier vielleicht weitere Anregungen, welchen Ideen sie zusätzlich noch nachgehen könnten.

Vielleicht möchten sich einige Lernende nicht öffentlich zu ihren Konsequenzen äussern, da sie zu persönlich sind. Dann genügt: «Ich habe Konsequenzen gezogen, möchte darüber aber nicht sprechen.» Und es kann auch vorkommen, dass Lernende keine Möglichkeiten sehen, Konsequenzen zu ziehen. Dann haben sie das Recht, auch dies in der Schlussrunde zu sagen.

Nachbesprechung: Der Haupteffekt der Analyse besteht darin, dass den Lernenden nun reflektierte Erfahrungen zu Verfügung stehen, die ihr zukünftiges Handeln beeinflussen wird (Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion). Um das Ganze abzurunden, lohnt es sich, gelegentlich mit den Lernenden auf die Analyse zurückzukommen und sie zu Situationen zu befragen, in denen Erinnerungen an das Besprochene ihr Handeln beeinflusst haben.

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