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Beethovens Gegenwehr

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Nachdem Mälzel Anfang 1814 Wien verlassen hatte, war für Beethoven die Sache mit dem Metronom vorerst erledigt. Mälzels mangelhafter Chronometer wurde nicht produziert und somit bestand für den Komponisten kein Handlungsbedarf. Erst drei Jahre später, in den ersten Wochen des Jahres 1817, als Beethoven das Metronom auspackte, welches ihm von Mälzel als Werbegeschenk zugeschickt worden war, wurde er wieder in das Projekt einbezogen. In der Zwischenzeit gab es keine nachweisliche Beschäftigung mit dem Gegenstand, was nicht sagen will, dass das Problem der mechanischen Zeitmessung ihn nicht gedanklich beschäftigt hätte.

Im Prinzip hätte Beethoven sich über das Metronom freuen müssen. Jeder Komponist kennt die Schwierigkeit beim Übermitteln eigener Kompositionen. So hielt Maurizio Kagel es für absolut ausgeschlossen, dass seine Musik von anderen Musikern so gespielt werden könne, wie er sie komponiert hatte. Nach eigener Aussage habe er als junger Komponist noch die Illusion gehabt, dass Profi-Musiker imstande seien, die Notenschrift so zu lesen und zu interpretieren, wie es auf dem Papier steht. Nach harten Kämpfen und bitteren Enttäuschungen habe er eines Tages einsehen müssen, dass diese vermeintliche Selbstverständlichkeit auf einer strukturellen Unmöglichkeit basiere. Du bist nicht ich, ich bist nicht du: die Trenngrenze zwischen ich und du stehe der originalgetreuen Musikinterpretation unerbittlich im Wege. Auf diesem Hintergrund müsste jeder Komponist froh sein, dass es ein Instrument gibt, mit dem er seine Tempovorstellungen exakt festlegen kann. Damit wird die Chance erhöht, dass seine Interpreten wenigstens die Tempi richtig spielen. Musikalische Anweisungen können ja nicht deutlich genug sein. Gerade Beethoven, der nie zufrieden war mit seinen Mitstreitern, weder mit seinen Verlegern, noch mit seinen Interpreten, müsste doch an Mälzels Zeitmessung interessiert sein!

Zur Illustration der notorischen Unzufriedenheit Beethovens folgen hier einige Textstellen, die aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stammen. Die erste Textstelle betrifft das Problem der Druckfehler. Weil damals die Noten noch nicht gedruckt, sondern gestochen wurden, sollte man vielleicht besser von Stechfehlern sprechen:

Hr. Mollo hat wieder neuerdings meine Quartette sage: voller Fehler und Errata

– in großer „Manier“ und kleiner Manier herausgegeben sie wimmeln wie die kleinen Fische im Wasser d.h. ins unendliche – questo è un piacere per un autore – das heiß ich stechen, in Wahrheit meine Haut ist voller Stiche und Rize – von dieser schönen Auflage meiner Quartetten –

(Beethoven an den Verlag Hoffmeister & Kühnel in Leipzig, am 8. April 1802)

In der zweiten Textstelle bemängelt Beethoven die Dynamik (=Lautstärke) des von ihm dirigierten Orchesters nach einer Aufführung seiner Oper „Leonore“:

Lieber Mayer! Ich bitte dich, Hr. Von Seyfried zu ersuchen, daß er heute meine oper dirigirt, ich will sie heute selbst in der Ferne ansehen und hören, wenigstens wird dadurch meine Geduld nicht so auf die probe gesezt, als so nahe bey, meine Musick verhunzen zu hören – Ich kann nicht anders glauben, als daß es mir zu Fleiß geschieht. Von den Blasenden Instrumenten will ich nichts sagen, aber – laß alle p. pp. cres. alle decresc. und alle f. ff. aus meiner oper ausstreichen; sie werden doch alle nicht gemacht. mir vergeht alle Lust weiter etwas zu schreiben, wenn ichs so hören soll – Morgen oder übermorgen hole ich dich ab zum Eßen – ich bin heute wider übel auf –

Dein Freund Beethowen

(Beethoven an Sebastian Mayer, Schwager Mozarts, am 10. April 1806)

Die dritte Textstelle stammt aus der Feder eines 22-jährigen Wienbesuchers aus Dessau. Der Inhalt spricht für sich:

Du wünschest gern von Beethoven etwas zu hören; ….. Was ich sonst von ihm weiß, werde ich Dir jetzt erzählen. Er ist ein eben so origineller und eigner Mensch als seine Compositionen; gewöhnlich ernst, zuweilen auch lustig, aber immer satyrisch und bitter. Auf der anderen Seite ist er auch wieder sehr kindlich und auch gewiß recht innig.

Er ist sehr wahrheitsliebend und geht darin wohl oft zu weit; denn er schmeichelt nie, und macht sich deswegen viel Feinde. Ein junger Mensch spielte bei ihm, und als er aufhörte, sagte Beethoven zu ihm. Sie müssen noch lange spielen, ehe Sie einsehen lernen, dass Sie nichts können. ….. Einmal traf ich ihn in einem Speisehause, wo er mit einigen Bekannten zusammen saß. Da schimpfte er gewaltig auf Wien und auf die dasige Musik und den Verfall derselben. Hierin hat er gewiß recht und ich war froh, dies Urtheil von ihm zu hören, da ich es schon vorher bei mir empfand. Vorigen Winter war ich häufig im Liebhaberkonzert, wovon die ersten unter Beethovens Direction sehr schön waren. Nachher aber, als er abging, wurden sie so schlecht, dass nicht eins verging, wo nicht irgend etwas wäre verhunzt worden. - - -

(Wilhelm Rust an seine Schwester Jette, am 9. Juli 1808)

Die vierte Textstelle spricht das Problem des Zusammenspiels an, welches unter die Verantwortung des Konzertmeisters (Direktors) fiel:

Dies ist nöthig, in einem Jahrhundert, wo es keine Konserwatorien mehr gibt, und daher kein Direktor mehr wie alles andere auch nicht gebildet wird, sondern dem Zufall überlassen wird, dafür haben wir geld für einen OhneHodenMann wobey die Kunst nichts gewinnt, aber der Gaumen unserer ohnedem appetitlosen reizlosen sogenannten Großen gekizelt wird

(Beethoven an Gottfried Christoph Härtel, am 21. August 1810)

Aus keiner dieser zitierten Passagen tritt uns ein zufriedener Musiker entgegen. Ganz offensichtlich war Beethoven oft unglücklich mit der Interpretation seiner Werke. Trotzdem greift er niemals wie ein Schulmeister ein. Wenn seinen Vorschriften nicht nachgekommen wird, neigt er eher dazu, die Anweisungen gänzlich zu tilgen als dass er sie mit Nachdruck durchsetzt.

Aber wir wollen nicht nur wissen, was Beethoven an der Wiedergabe seiner Kompositionen schlecht findet, wir wollen auch wissen, was er gut findet. Es ist ja nicht so, dass er sich darüber nie geäußert hat. Nach seiner Lehre sollte jeder Interpret über drei Eigenschaften verfügen. Er muss über Kenntnis verfügen, er muss Gefühl haben und – wohl das Allerwichtigste – er muss „achtsam“ sein. Merkwürdigerweise nimmt gerade die Achtsamkeit auch in der buddhistischen Lehre eine zentrale Position ein. Achtsamkeit! Bedeutet es doch, dass der Mensch seine Sinnesorgane öffnet und die Verbindung zwischen Geist und Materie scharf stellt. Man beachte die folgende Textpassage von Ferdinand Ries:

Wenn Beethoven mir Lection gab, war er, ich möchte sagen, gegen seine Natur, auffallend geduldig. Ich wusste dieses, sowie sein nur selten unterbrochenes freundschaftliches Benehmen gegen mich größthentheils seiner Anhänglichkeit und Liebe für meinen Vater zuzuschreiben. So ließ er sich manchmal eine Sache zehnmal, ja noch öfter, wiederholen. In den Variationen in F-Dur, der Fürstin Odescalchi gewidmet (Opus 34), habe ich die letzten Adagio-Variationen siebenzehnmal fast ganz wiederholen müssen; er war mit dem Ausdrucke in der kleinen Cadenze immer noch nicht zufrieden, obschon ich glaubte, sie eben so gut zu spielen, wie er. Ich erhielt an diesem Tage beinahe zwei volle Stunden Unterricht. Wenn ich in einer Passage etwas verfehlte, oder Noten und Sprünge, die er öfter recht herausgehoben haben wollte, falsch anschlug, sagte er selten etwas; allein, wenn ich am Ausdrucke, an Crescendos u.s.w. oder am Charakter des Stückes etwas mangeln ließ, wurde er aufgebracht, weil, wie er sagte, das Erstere Zufall, das Andere Mangel an Kenntnis, an Gefühl, oder an Achtsamkeit sei.

Mälzels Metronom würde Beethoven die Gelegenheit verschaffen, die Tempi seiner Werke mit einer Eindeutigkeit vorzuschreiben, wie sie sonst nur beim Militär üblich ist. Aber wollte er das auch? Hatte er nicht schon längst mitbekommen, dass Vorschriften, je eindeutiger sie sind, umso weniger beachtet werden?

Aber sogar wenn es möglich gewesen wäre, die Tempi von allen Sätzen des Gesamt-Oeuvres mit Zahlen festzulegen und bei allen Interpretationen durchzusetzen, was wäre denn gewonnen? Beethoven kannte Platons Phaidros. Das Buch stand in seinem Bücherregal und enthält eigenhändige Eintragungen des Komponisten. Die Überschrift über dem 60. Kapitel lautet:

Schwäche des durch die Schrift überlieferten toten Wissens.

Bei den folgenden Sätzen könnte man denken, Platon spricht von Mälzels Metronom und nicht vom Alphabet:

Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.

Dabei gilt zu bedenken, dass Beethoven ohnehin der Überzeugung war, dass die Tempi seiner Werke, wie auch die Tempi von Haydn und Mozart, aus den Noten selbst ablesbar sind. Voraussetzung dazu sind Grundkenntnisse der klassischen Temporelationen, wie sie im 18. Jahrhundert in den Konservatorien gelehrt wurden, aber eben nicht mehr im ersten Jahrzehnt des neuen 19. Jahrhunderts.

Das Hauptproblem der damaligen neuen Zeit war, dass die sogenannten langsamen Sätze der klassischen Werke bereits zu langsam, die schnellen Sätze zu schnell gespielt wurden. Das klassische Maß wurde nicht mehr eingehalten und zeigte überall Risse. Dieses Auseinanderdriften der Adagio- und Andantesätze auf der einen Seite und der Allegro- und Prestosätze auf der anderen ist ein Phänomen, das durch Rezensionen in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung Leipzig gut belegt ist.

So heißt es in einem Beitrag der AMZ vom Januar 1807:

Die Sucht, musikal. Werke immer geschwinder zu spielen, nimmt auch hier immer mehr über Hand, so dass man sich oft einen Spaß und auch wohl ein Verdienst daraus macht, z. B. die Sinfonie, herunter „gestäubt“ zu haben. So wurde vor einiger Zeit ein Mozartsches Klavierkonzert gerade noch einmal so geschwind gespielt, als ich es selbst von Mozart vortragen hörte.

Um auch von übertriebenem Zögern wenigstens ein Beyspiel anzuführen, nenne ich das von Lamarc, der während seines Aufenthaltes in Wien das zweyte Stück des zweyten der konzertirenden Mozartschen Quartetten fast noch einmal so langsam nahm, als ich es unter Mozarts Leitung habe spielen hören.

Ein anderes Beispiel steht in der AMZ von Oktober 1811:

Paris 1811: In der Symphonie und Ouvertüre herrschen hier vor allen Mozart und Haydn. Ihre sämtlichen Werke dieser Gattungen werden hier mit einem Feuer, einer Präzision, einer Sorgsamkeit ausgeführt, dass auch dem strengsten Kunstrichter nur selten etwas zu wünschen übrig bleibt. Dies noch zu Wünschende möchte wohl zunächst seyn, dass man die Allegrosätze dieser Werke nicht selten zu rasch nimmt. Ich erinnere mich noch ganz genau, Mozart und Haydn in Wien Symphonien ihrer Composition aufführen gehört zu haben: ihre ersten Allegros nahmen sie nie so geschwind, als man sie hier, und auch wohl jetzt an mehreren deutschen Orchestern, zu hören bekommet; die Menuetten ließen beyde rasch hingehen, die Finalen liebte Haydn schneller zu nehmen als Mozart – was freylich aus dem Charakter und der Schreibart dieser ihrer Sätze hervorgeht, aber jetzt von andern Direktoren zuweilen vergessen wird.

Auf Beethoven hatte das klaffende Loch zwischen den Tempi der sogenannten langsamen und schnellen Sätze eine fatale Wirkung, als würde man das Mittelregister seines Klaviers zertrümmern. Im Originalton lautet die Beschreibung dieses Lasters:

Nicht zu gedenken, dass da, wo höherer Ernst, Würde und Kraft der Charakter des Tonstückes sind, dieser durch leichtfertiges schnelles Herabspielen entwürdiget, oder ganz vernichtet, im umgekehrten Falle aber, wo Feuer, Energie im Tonstücke liegt, der ganze Vortrag träge, schleppend, folglich auch hier der Geist des Tonsatzes verfehlt, und demnach die vom Tonsetzer beabsichtigte Wirkung auf eine oder auf die andere Art vereitelt wird.

(Nikolaus von Zmeskall, Beethovens Sprechrohr, am 28. August 1817 in der AMZ Wien)

Natürlich wissen wir nicht genau, wann und was Beethoven in der Zeit zwischen 1814 und 1817 gedacht hat, aber Ahnen ist erlaubt. Deutlich spürbar ist der Unwille des Meisters, einem unaufhaltsamen Trend in der Musikpraxis durch eindeutige Vorschriften entgegenwirken zu wollen, zumal er damit letztendlich sich nur selbst lächerlich machen würde. Nur zu gut wusste er, dass die Instrumentalisten sich immer weniger um seine Metronomvorschriften scheren und nach seinem Tod erst recht jeder Willkür freien Lauf lassen würden.

Als Beethoven in den ersten Wochen des Jahres 1817 das neue Metronom Mälzels empfing und zum ersten Mal in den Händen hielt, hatte er den Umriss seiner Strategie bereits im Kopf. Im Nu stand die erste Metronomzahl seiner Hand auf dem Papier: es war die Zahl 100.

Tempo 100 ist auch ein Begriff, den die Autofahrer als eine Übergangszahl zwischen schnell und richtig schnell kennen. So ähnlich wirkt M.M. 100 auch in der Musik, vorausgesetzt, der zugehörige Notenwert ist mit der sogenannten „Zählzeit“ identisch, das heißt mit dem Dirigentenschlag oder dem Hauptimpuls des Taktes.

Diese Zahl nun schrieb Beethoven auf das Widmungsexemplar eines Lieds, das er gerade komponiert und seiner vertrauten Freundin Antonie von Brentano zugeschickt hatte. Antonie, geborene von Birkenstock, war verheiratet mit dem Geschäftsmann Franz von Brentano, der wiederum ein Halbbruder der berühmten Bettina von Armin, geborene Brentano, war. Alle drei gehörten zu Beethovens besten Freunden, aber zu Antonie, auch Toni genannt, hatte der Komponist einen höchst speziellen Draht.

Das betreffende Lied war vom Pommerschen Dichter Carl Lappe verfasst worden und trug den bezeichnenden Titel „So oder so“. Die Komposition steht im 6/8-Takt und trägt die Tempobezeichnung Ziemlich lebhaft und entschlossen.

Die gegebene Metronomzahl lautet zwar 100, jedoch gibt Beethoven gar keinen Bezugswert dazu an. Der Interpret muss den richtigen Notenwert selbst einsetzen. Im Regelfall würde dies eine punktierte Viertelnote sein, denn dieser Notenwert stellt im 6/8-Takt die eigentliche Zählzeit dar. Aber aufgepasst! Der Komponist gibt eine kleine Gebrauchsanweisung:

100 nach Mälzel, doch kann dieß nur von den ersten Täkten gelten, denn die Empfindung hat auch ihren Takt, dieses ist aber doch nicht ganz in diesem Grade (100 nämlich) auszudrücken.

Diese Zeile enthält Beethovens Strategie gegen die Mechanisierung im Allgemeinen und gegen seinen Kontrahenten Mälzel insbesondere. Beethoven gibt seine Tempoempfehlung zum Lied in der Form eines Rätsels. Er gibt sie somit in indirekter Weise. Eine seiner Devisen aus dieser Zeit, mit deren er mehrere Briefe abschließt, lautet dementsprechend:

Gegeben ohne zu geben

Stillschweigend nimmt der Komponist, der sich zum Ziel stellt, die Weisheit jeder Geschichtsepoche zu erfassen, somit Bezug auf das 61. Kapitel von Platons „Phaidros“. Statt für tote Buchstaben und Zahlen als Datenträger entscheidet er sich für lebendige Buchstaben und Zahlen. Die Rätselform dient dazu, seine Angaben einzufrieren und später wieder zum Leben zu erwecken. Es ist die Schrift,

...welche mit Einsicht geschrieben wird in die Seele des Lernenden, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und wohl wissend zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll.

Die verrätselte Metronomanweisung zum „So oder so“ entspricht somit Platos „ausgesätem Samen“,

..., vermittels dessen einige in diesen, andere in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermögen und den, der sie besitzt, so glückselig machen, als einem Menschen nur möglich ist.

Der andere Beethoven

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