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Zweiteilung oder Zerschlagung

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„So oder so“ ist, wie wir gleich sehen werden, nicht nur der Name eines von Beethoven vertonten Liedes, es ist auch die geheime Bezeichnung des Systems, mit dem der Komponist die Tempi seiner Werke angibt. Zunächst aber wollen wir das Gerät selbst eine Weile betrachten, damit es auch denjenigen vertraut wird, die niemals mit ihm in Berührung gekommen sind.

Das klassische Metronom Mälzels hat die unverkennbare Form einer Pyramide. Elektronische Metronome von heute sehen anders aus, aber noch immer werden Holzpyramiden nach klassischem Muster fabriziert. Fast zweihundert Jahre lang gehört Mälzels Kreation somit zur Standardausrüstung eines jeden Musikzimmers. Ihr Anblick ist dort so vertraut wie Musiknoten oder das Pianoforte.

Die Formgebung ist, man wird mir da hoffentlich beipflichten, absolut gelungen. Sie wird sogar Beethoven gefallen haben. Es gibt nicht viele Gegenstände, die wie eine Pyramide aussehen und bereits aus diesem Grund Assoziationen mit Schatzkammern und Königsgräbern wecken. Die Tatsache, dass sich im Inneren ein Uhrwerk befindet, das sich wie ein Wecker aufziehen lässt, mindert die Aura des Geheimnisvollen nicht im Mindesten.

Wenn man eine Seite der Pyramide öffnet, indem man eine Luke wegnimmt, präsentiert das Metronom ein stehendes Pendel aus Metall, das verriegelt ist. Dieses stehende Pendel, an dem ein verstellbares Gewichtchen befestigt ist, war Winkels Idee. Frühere Zeitmesser hatten noch hängende Pendel.

Wenn das Pendel aus seiner Verriegelung genommen wird, produziert es sofort ein deutlich vernehmliches regelmäßiges Ticken, dessen Geschwindigkeit durch das Verschieben des Gewichtchens eingestellt und verändert werden kann. Das hin und her Pendeln ist scheinbar alles, was das Metronom zu leisten vermag, aber das leistet es mit großer Zuverlässigkeit, ohne jemals zu zögern, vorausgesetzt, die Feder ist aufgezogen.

Hinter dem Pendel wird das Herzstück der Erfindung sichtbar. An zwei senkrechten Strichen auf dem Holz sind die Stufen einer Skala verzeichnet. Diese Skala, welche man als Tempoleiter bezeichnen könnte, stammt diesmal wirklich von Mälzel und nicht von Winkel. Auf den Stufen befindet sich eine Reihenfolge von ruhenden Geschwindigkeiten. Für das Auge werden die Stufen nach oben hin immer kleiner, für die Ohren aber sind die Tempo-Intervalle gleichmäßig groß.

Weil das Pendel steht und nicht hängt, hängt die Tempoleiter kopfüber. Im oberen Bereich befinden sich die langsamen Tempi, nach unten hin werden die Tempi immer schneller. Zwischen den Senkrechten der Leiter sind die traditionellen Tempobezeichnungen, wie Adagio, Andante, Allegro und Presto, aufgeschrieben, aber diese haben wegen ihrer großen Relativität keine Bedeutung für den Messvorgang. Viel interessanter sind die Zahlen, obwohl sie auf den ersten Blick alles andere als interessant aussehen.

Die oberste Zahl mit der langsamsten Geschwindigkeitsstufe lautet 40, die unterste mit dem höchsten Tempo ist die Zahl 200 (Schläge pro Minute). Dies gilt aber nur für die Pyramidenmetronome von heute. Zu Zeiten Beethovens wurde das Spektrum abgesteckt durch die Zahlen 50-160 statt 40-200. Die Zahlen der 28-stufigen Skala, welche Beethoven vorgelegt wurden, sind die folgenden:

50-52-54-56-58-(60)

60-63-66-69-72-(76)

76-80-84-88-92-96-100-104-108-112-116-(120)

120-126-132-138-(144)

144-152-160

Es wird von der Beethovenforschung immer wieder behauptet, der Komponist sei ein schwacher Rechner gewesen, weil er allem Anschein nach nicht einmal multiplizieren konnte. Inwieweit dies stimmt, ist eine Frage, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte. Es leuchtet aber ein, dass Beethoven als großer, genialer Musiker einen ganz anderen Zugang zu Zahlen hatte als ein Mathematiker. Für Beethoven bedeuteten Zahlen Musik, und Musik ist nichts anderes als Proportionen oder ganz einfach Maßverhältnisse. Also wird er in Zahlen immer die Proportionen gesucht haben, welche mit den Proportionen der Musik übereinstimmen.

Zur Illustration dessen, was hier gemeint ist, wollen wir einige Absätze lang versuchen, die Zahlen Mälzels mit den Augen Beethovens zu sehen. Wohin ging sein Blick, als er zum ersten Mal die „langsamste Zahl“ betrachtete? Nun, zu 50 passt, musikalisch gesehen, die Zahl 100 wie eine Oktave zur anderen. Denn das Tempo-Intervall 50:100 repräsentiert die gleiche Proportion wie die Oktave bei den Ton-Intervallen, die ebenfalls auf einer 1:2 Relation in der Geschwindigkeit der Schwingungen beruht. Die Tempo-Oktave hat also haargenau die gleiche Proportion wie die Ton-Oktave. Bei der Aufteilung der Oktave in Stufen sind die Abstände dagegen nicht gleich. Die Tonleiter hat 12 gleiche Stufen, die Tempoleiter Mälzels 16. So hat die Temposkala zwischen 50 und 100 16 Schritte, die allesamt ein wenig kleiner sind als die kleinen Sekunden der chromatischen Tonleiter.

Im tonalen System spielt neben der Oktave die Quinte eine dominierende Rolle und wird nicht von ungefähr Dominante genannt, wenn sie sich auf den Grundton bezieht. Die Quinte verbindet die zwei grundverschiedenen Prinzipien der Zweiteilung und der Dreiteilung, wogegen die Oktave nur die Zweiteilung repräsentiert. Bereits Pythagoras hat rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung herausgefunden, dass der Quinte das Verhältnis 2:3 zu Grunde liegt. Dieses 2:3-Verhältnis ist auch auf der Skala Mälzels von dominierender Bedeutung, so dass wir bei den Tempo-Intervallen dieses Typus ruhigen Gewissens von Tempo-Quinten sprechen könnten. Auf Mälzels Skala lassen diese sich nicht immer mit mathematischer Präzision ausdrücken, weil die Tempoleiter 16 Stufen hat statt 12. Innerhalb der Tempo-Oktave 50-100 wäre die Zahl 75 der exakte Punkt für die Tempo-Quinte. Diese Zahl kommt auf Mälzels Skala aber nicht vor. Die elfte Stufe 76 kommt dem 2:3 Verhältnis am nächsten. Man muss also die Zahlen manchmal abrunden, wenn man sich an Mälzels Regeln halten und trotzdem korrekte Tempoverhältnisse ausdrücken möchte. Nebenbei sei vermerkt, dass Beethoven diese Technik perfekt beherrschte, obwohl das System Mälzels für ihn brandneu war. Mit sicherer Hand trifft er in den 144 Metronomzahlen seiner Erfindung immer die Zahlen, die Mälzel vorgegeben hat. Eine Selbstverständlichkeit ist diese Sicherheit keineswegs. Fast alle anderen Komponisten und Musikwissenschaftler irren sich beim Notieren der Zahlen oder ignorieren die Stufen Mälzels ganz bewusst.

Fürs Betrachten folgt jetzt die niedrigste Tempo-Oktave von 50 bis 100 mit ihren 16 Stufen. Die numerierten Stufen kombinieren wir diesmal mit den Zahlen der jeweiligen „Oberquinte“, abgerundet auf Mälzels Skala:

1: 50-76

2: 52-76/80

3: 54-80

4: 56-84

5: 58-88

6: 60-88/90

7: 63-96

8: 66-100

9: 69-104

10: 72-108

11: 76-112/114

12: 80-120

13: 84-126

14: 88-132

15: 92-138

16: 96-144

(1: 100-152)

An dieser Stelle möchte ich in aller Kürze eine neue Hypothese aufstellen, die sich weder beweisen noch widerlegen lässt. Ich behaupte, dass Beethoven nach Empfang des Metronoms keine drei Tage, wenn nicht drei Stunden gebraucht hat um sich Mälzels Tempi zu verinnerlichen, sowohl was ihre absoluten Geschwindigkeiten betrifft als auch was das relative Netzwerk angeht. Das würde bedeuten, dass er danach sein Metronom für die Tempofindung der Musik nicht mehr gebraucht hat und ganz und gar auf das Ticken des Pendels verzichten konnte. Es bedeutet auch, dass die wohlbekannte Frage, ob Beethovens Metronom einwandfrei funktioniert habe oder nicht, im Grunde vollkommen gleichgültig ist. Klar ist: Meister bleibt Meister. Der Gedanke, dass Beethoven beim Definieren der Tempi seiner Musik herumgestümpert habe, weil er in seiner sitzenden Position die Oberseite und Unterseite des Gewichtchens am Pendel seines Metronoms nicht habe auseinander halten können, ist derart absurd, dass ich den heutigen Musikwissenschaftler nicht namentlich nennen möchte, der eine solche Vermutung ausgesprochen hat. Wir wollen nur festhalten, dass die Künstlerehre Beethovens in unserer Zeit genauso wenig gilt wie zu seinen eigenen Lebzeiten, als Ignaz Mosel allen Ernstes den Vorschlag unterbreitete, der Komponist möge während des Komponierens das Metronom ununterbrochen ticken lassen. Zurück zum Hauptthema, zurück zum Rätsel.

Schauen wir uns einmal die Gebrauchsanleitung etwas näher an, welche Beethoven zur Metronomzahl beim Lied „So oder so“ gegeben hat:

100 nach Mälzel, doch kann dieß nur von den ersten Täkten gelten, denn die Empfindung hat auch ihren Takt, dieses ist aber doch nicht ganz in diesem Grade (100 nämlich) auszudrücken.

Oberflächlich gelesen, entsteht der Eindruck, dass Beethovens Tempoangabe nur für die ersten Takte gilt und danach umgangen werden darf. Das will sagen, wörtlich genommen, dass der Sänger oder die Sängerin zwei Takte strikt im Tempo bleiben muss und in den übrigen 20 Takten frei nach seinem Gefühl singen darf. Eine solche Anweisung macht natürlich keinen Sinn; sie ist, um es gelinde auszudrücken, etwas rätselhaft. Wozu dient eine Metronomvorschrift, wenn das Tempo im großen Ganzen frei sein soll und warum dazu noch Tempo 100? Bezogen auf das Hauptzeitmaß, macht dieses Tempo das Lied ziemlich ungenießbar. Keine Frage, aus gesangstechnischer Sicht ist Mälzels Zahl durchaus machbar und sie steht auch nicht im Widerspruch zur zweiten Tempoangabe Beethovens, welche lautet: Ziemlich lebhaft und entschlossen.

Dennoch ist das angegebene Tempo so hoch, dass es das Lied auf eine ganz eigenartige Weise kalt und gefühllos erscheinen lässt. Dies trifft natürlich vor allem auf die ersten zwei Takte zu, wenn die anderen tatsächlich frei sein sollten. In dem Tempo klingen die ersten Takte wie von einer Mechanik erzeugt, ohne jede Empfindung. Hat der Textdichter dies verdient? Schauen wir uns doch die Worte der ersten beiden Takte einmal an. In der ersten der sechs Strophen heißen diese:

Nord oder Süd!

Der Rhythmus ähnelt dem bekannten Motiv, mit dem Beethovens Fünfte anfängt: kurz-kurz-kurz-lang.

In den folgenden Strophen sind die Anfangsworte wie folgt:

Strophe 2: Stadt oder Land!

3: Arm oder reich!

4: Blass oder roth!

5: Jung oder alt!

6: Schlaf oder Tod!

Wie man sieht, handelt es sich bei jeder Strophe um Kontraste, allerdings nicht um moralische Gegensätze wie „schlecht oder gut“, sondern um Alternativen, die aus ethischer Sicht eher gleichwertig erscheinen. Vielleicht sieht der Dichter auch zwischen Schlaf und Tod keinen wirklichen Gegensatz. Immerhin hat Lappe den letzen Satz seines Gedichtes in seinen eigenen Grabstein einmeißeln lassen:

Schlaf oder Tod!

Hell strahlt das Morgenroth!

Das Lappesche Gedicht So oder so hat mit seinen Begriffspaaren dennoch eine moralische Botschaft, die sich in wenigen Worten zusammenfassen lässt. Sie lautet etwa: „Egal, wo du bist, wie alt du bist oder wie reich, welche Gesichtsfarbe du hast, nur eines zählt: das Gefühl, oder, in Beethovens Ausdrucksweise: die Empfindung.“

Auf dem Widmungsexemplar an seine Freundin hat Beethoven nur die erste Strophe ausgeschrieben:

Nord oder Süd!

Wenn nur im warmen Busen

Ein Heiligthum der Schönheit und der Musen,

Ein götterreicher Himmel blüht!

Nur Geistesarmuth kann der Winter morden:

Kraft fügt zu Kraft und Glanz zu Glanz der Norden.

Nord oder Süd!

Wenn nur die Seele glüht!

Wenn der Sänger oder die Sängerin Beethovens Vertonung aber gefühlvoll vortragen möchte, wird er oder sie bald merken, dass dies im Tempo 100 niemals gelingen kann. Immer wird der Vortrag einen unverkennbar mechanischen Charakter haben.

Diese Einschätzung gilt aber nur, wenn das angegebene Tempo 100 tatsächlich auf das Hauptzeitmass, die punktierte Viertelnote, bezogen wird. Beethoven hat aber gar keine Bezugsnote angegeben! Gibt es vielleicht noch eine zweite Bezugsmöglichkeit, etwa ein Nebenzeitmass? Schauen wir doch mal nach in den Noten! Das Lied ist im Sechsachteltakt geschrieben. Jeder Takt besteht demnach aus sechs Achtelnoten, ganz einfach, auch für Menschen, die nie Noten gelernt haben. Weil aber jede Zahl 6 sowohl durch 3 als durch 2 geteilt werden kann, ist die Sechserzahl wie eine Münze. Sie hat zwei Seiten, welche untrennbar miteinander verbunden sind.

In der Musik trifft diese Eigenschaft sowohl bei der Quinte als auch im Sechsachteltakt zu. Wie bei der Quinte Zweiteilung und Dreiteilung untrennbar miteinander verschmolzen sind, so können Sechsergruppen von Achtelnoten sowohl Sechsachteltakte als Dreivierteltakte bilden. Der Sechsachteltakt hat zwei Zählzeiten, ist also zweiteilig, der Dreivierteltakt ist dagegen dreiteilig, aber zu jedem Zeitpunkt kann die eine Taktart fließend in die andere übergehen.

Bei allen Komponisten wird die rasche Abwechslung zwischen den beiden Taktarten häufig verwendet, aber Beethoven geht manchmal noch einen Schritt weiter. Bei ihm gibt es Dreivierteltakte, die in Wirklichkeit getarnte Sechsachteltakte sind, wie zum Beispiel im Scherzo des Harfenquartetts op. 74. An anderen Stellen wechseln die Taktarten sich so schnell ab, dass es nicht auszumachen ist, welche von beiden vorherrscht. Beide Taktarten können sogar gleichzeitig in den verschiedenen Stimmen einer Komposition auftreten. Sechsachteltakt und Dreivierteltakt sind dann tatsächlich wie zwei Seiten einer Medaille.

Die Lösung des Rätsels rückt heran:

Die Metronomzahl ist eine feste Messlatte. Wenn das Metronom auf 100 eingestellt ist, zeigt der hörbare Tick des schlagenden Pendels ein Tempo, an dem nicht zu rütteln ist. Auf welche Notenwerte diese Messlatte angelegt wird, ist dagegen variabel. Es ist ein Unterschied, ob die Zeitspanne von einer Hundertstel-Minute zwei oder drei Achtelnoten definieren soll. Natürlich wäre die punktierte Viertelnote mit ihrem Zeitmass von drei Achtelnoten der übliche Bezugswert im Sechsachteltakt. Auch Beethoven wusste dies. Aber warum sollte er sich nach dem richten, was üblich heißt? Für ihn, der tagtäglich mit den unterschiedlichsten Taktarten jonglierte, war das Nebenzeitmass ebenso präsent wie das Hauptzeitmaß. Zudem war das Metronom so neu, dass noch bestimmt werden musste, was üblich ist und was nicht.

Die Auflösung liegt im richtigen Verständnis des Ausdrucks von den ersten Täkten. Offenbar meint Beethoven mit „Täkten“ nicht „Takte“, wie man auf den ersten Blick meinen würde, sondern „taktierende Achtelnoten“. „Von den ersten Täkten“ bedeutet in diesem Rätsel demnach „für die ersten zwei Achtelnoten“ – statt für die ersten drei – also für die Viertelnote statt für die punktierte Viertelnote. Jetzt lesen wir Beethovens Gebrauchsanleitung für das Tempo des Lieds ein wenig anders:

100 nach Mälzel, doch kann dies nur für die ersten zwei Achtelnoten gelten, denn die Empfindung hat auch ihren Takt. Dieses ist aber doch nicht ganz in diesem Grade (100 nämlich) auszudrücken.

Die Worte „doch nicht ganz“ bedeuten das Gleiche wie „nur zum Teil“. Zu welchem Teil? Natürlich zum Zweidrittel-Teil. Denn wenn das Hauptzeitmaß in das Nebenzeitmaß umgewandelt wird, verliert es an Geschwindigkeit in einem ganz bestimmten Grad. Es wird um eine Tempo- Quinte langsamer und fällt von 100 auf 66 zurück auf Mälzels Skala.

Mit diesem Rätselvers hat Beethoven seine Strategie gegen den Einzug des Mechanismus in die Musik vorgestellt. Sie ist ebenso genial wie einfach. Der Komponist geht dem Gegner in der Gestalt des Metronoms Mälzels nicht aus dem Weg, sondern stellt sich ihm wie ein mittelalterlicher Ritter einsam zum Kampf. Mit einem Schlag haut er den Drachen der mechanischen Zeitbestimmung in zwei Teile, in den „Takt nach Mälzel“ auf der einen Seite, „den Takt der Empfindung“ auf der anderen („die Empfindung hat auch ihren Takt“). Der Mälzeltakt ist der vordergründige, suchen muss man nach dem Takt der Empfindung.

Nach außen hin zeigt sich Beethoven somit äußerst zuvorkommend. Er geht auf die Wünsche der gefühllosen Außenwelt ein und „gibt dem Mälzel, was des Mälzels ist“. Er bietet dem Erfinder des Metronoms und dessen Konsorten eine mechanisierte Version seiner kleinen Tonschöpfung „So oder so“ an, wohl wissend, dass er seinen Interpreten ohnehin nicht zu einem bestimmten Tempo zwingen kann. Hinter dieser Fassade verbirgt sich das wahre Gefühl, das durch die verrätselte Zahl einen unerwarteten Schutz bekommt.

Man darf nicht vergessen, dass Beethoven selbst von vielen seiner Zeitgenossen oft als hart und unnahbar empfunden wurde. Dabei ist es angesichts des hoch emotionalen Gehalts seiner Musik undenkbar, dass er beim Komponieren immer wie eine Maschine funktionierte. Ungezählt sind die Tränen, welche er im stillen Kämmerlein vergossen hat, ungezählt schon deshalb, weil er beim Komponieren keine Menschen in seiner Nähe ertrug. Die Erfindung des Mälzeltaktes gibt uns eine ferne Ahnung davon, dass er nach einem harten Panzer suchte, um die extreme Verletzlichkeit seiner Seele einigermaßen schützen zu können. Interessant ist dabei, dass er zwischen dem Takt nach Mälzel und dem Takt der Empfindung eine klar definierte Beziehung bestehen lässt.

Allerdings gibt es einen einfachen Weg, die Zahl M.M. 66 für die Zählzeit des Lieds zu finden. Wenn der Sänger nichts von einer Metronomzahl weiß und sein Herz in die Wiedergabe der Komposition legt, kommt er automatisch auf Tempo 66. Bei Bedarf kann ich den Namen einer Sängerin aus Wien nennen, die in Gegenwart von Zeugen mit mir am Klavier die Probe aufs Exempel gemacht und die Richtigkeit der Zahl 66 glänzend bewiesen hat.

Fazit: Die Auflösung der Rätselzahl 100 zeigt, dass der Mälzelsche Takt aus Beethovens Sicht überflüssig ist, weil er sich, sobald er erkannt wird, wie eine Fata Morgana ins Nichts auflöst. Aber diese Überflüssigkeit wird erst wirksam, wenn das Rätsel erkannt und gelöst worden ist. Bevor es so weit ist, wacht die ungelöste Rätselzahl wie eine Sphinx vor dem Grab, in welchem die unsterbliche Empfindung ruht. Wie soll man ihren Zustand beschreiben? Schlaf oder Tod? Egal, sagt der Dichter von „So oder so“:

hell strahlt das Morgenrot.

Der andere Beethoven

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