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Was markiert die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit?

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Die traditionelle Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit liegt für die deutsche Geschichtswissenschaft um 1500, wenn nicht gar im Jahr 1517, in dem Luther seine Ablassthesen publizierte, worin der Beginn der Reformation gesehen wird. Diese Epocheneinteilung geht auf Leopold von Ranke und seine Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation von 1839 bis 1847 zurück und steht in Verbindung mit seiner Sicht, wonach die Geschichte der germanischen oder germanisch-romanischen Völker der „Kern aller neueren Geschichte“3 ist. Gewissermaßen wird damit die Geschichte des protestantischen Deutschland zum Kern des Kerns der neueren Geschichte. Ranke nennt Luthers Thesen „das große Weltereignis“, das „Deutschland aufweckte“.4 Für andere Länder passt eine solche Epochengrenze nicht.

Schon für Frankreich ist es schwierig, das spätere 15. Jahrhundert noch als Mittelalter zu bezeichnen. Wichtige Einschnitte der französischen Geschichte jener Zeit waren das Ende des Hundertjährigen Krieges mit England 1453 und das 1477 besiegelte Ende der Machtstellung Burgunds, das Eingreifen Karls VIII. in die Machtkämpfe um Italien 1494, der Einfluss der Renaissance auf Frankreich und die Neuorganisation der Macht unter Ludwig XI. zwischen 1461 und 1483. So beginnen viele Darstellungen der Geschichte Frankreichs am Anfang der Neuzeit 1450 oder 1453, wie man auch von La France de la Renaissance sprechen kann. Noch weniger möglich ist es, in dem Land Dantes und Petrarcas für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts noch vom Mittelalter zu reden. In Italien, wo die Antike nie gänzlich untergegangen und in ihren Relikten sichtbar und erinnerbar war, waren das 14. und 15. Jahrhundert, Trecento und Quattrocento, eher Renaissance als spätes Mittelalter. Auch wirtschaftlich zeigen die Handelsmetropolen Venedig und Genua sowie Florenz als Zentrum des Geldverkehrs schon im 13. und 14. Jahrhundert eher neuzeitliche Züge. Dazu gehörte die doppelte Buchführung, die für das Wirtschaftsleben unter den Bedingungen der Geldwirtschaft von ähnlicher Bedeutung war wie das von Galilei begründete Prinzip des Experiments in den Naturwissenschaften. In Italien war die doppelte, Soll und Haben gegenüberstellende Buchführung längst verbreitet, als Luca Pacioli 1494 sein Lehrbuch der Buchhaltung veröffentlichte und bevor die doppelte Buchführung über die oberdeutschen Handelshäuser in Deutschland aufkam.

Politisch bildete in Italien der Zusammenbruch der Stauferherrschaft einen Einschnitt, der in den folgenden zwei Jahrhunderten rivalisierende Stadtstaaten und im Süden seit 1282 das Königreich Sizilien des Hauses Aragón entstehen ließ, das 1442 auch Neapel gewann. Nachdem die Päpste nach dem Ende des Schismas 1415 nach Rom zurückgekehrt waren, nachdem Florenz seine Macht ausgedehnt, Mailand seine Herrschaft ausgeweitet und Venedig sich die Terra Ferma gesichert hatte, standen sich in Italien seit dem Frieden von Lodi 1454 die fünf Mächte Mailand, Venedig, Florenz, der Kirchenstaat und Neapel-Sizilien gegenüber. So kommt es, dass Darstellungen der Geschichte Italiens häufig die Zeit um 1450 oder das Jahr 1454 als Epochenzäsur wählen, aber kein Ereignis um 1500.

In Spanien waren die entscheidenden Vorgänge zwischen Mittelalter und Neuzeit die Personalunion der beiden Königreiche Kastilien und Aragón unter Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón seit 1479 und die Eroberung des muslimischen Granada 1492 − in demselben Jahr, in dem Kolumbus Amerika für die Krone von Kastilien entdeckte.

Nimmt man die Christenheit oder Europa im Allgemeinen und die Länder der Balkanhalbinsel im Besonderen, so war die Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 der wichtigste Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zwar hatten die aus verschiedenen Türkmenenstämmen hervorgegangenen Türken − Osmanen ist der auf die Türken übertragene Name der Herrscherdynastie − schon 1354 die Meerengen überschritten, nachdem sie seit 1071 in das byzantinische Anatolien eingedrungen waren. 1526 erreichten sie Ungarn, 1529 belagerten sie Wien und 1541 wurden große Teile Ungarns Teil des Osmanischen Reiches. Als Epochengrenze entscheidend ist von diesen Jahreszahlen nur eine: 1453.

Schließlich werden für den Anfang der Neuzeit die überseeischen Entdeckungen der Europäer und vor allem die Entdeckung Amerikas von 1492 genannt. Die Entdeckungsfahrten setzten aber bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit den Seefahrten der Portugiesen ein. 1419/20 erreichten sie Madeira, 1427 die Azoren. Danach stießen sie bis zum westafrikanischen Kap Verde und darüber hinaus nach Guinea vor. 1488 erreichte Bartolomeu Dias die Südspitze Afrikas. Zwar war die Entdeckung Amerikas weltgeschichtlich folgenreich, aber das Zeitalter der Entdeckungen hatte lange vor Kolumbus begonnen. Das räumt auch Stephan Skalweit ein, auch wenn er mit Recht die „zukunftsträchtigen Hauptergebnisse [der Entdeckungsfahrten], die sich auf wenige Jahrzehnte zwischen 1490 und 1520 zusammendrängen,“5 betont.

Die Frage nach dem Anfang der Neuzeit ist also für verschiedene Länder Europas verschieden und eher mit einer größeren Zeitspanne als mit einem einzigen Jahr zu beantworten. Man darf auch nicht übersehen, dass Epochen und Epochengrenzen nur Arbeitshypothesen der Historiker sind und nur in unserer Vorstellung − nicht in der Realität − existieren. Niemand im Mittelalter wusste, dass er im Mittelalter lebte. Und niemand im 17. Jahrhundert hatte eine Ahnung davon, dass man seine Lebenszeit 300 Jahre später als Frühe Neuzeit bezeichnen würde.

Es gibt eine Ausnahme. Die Humanisten der Zeit der Renaissance hatten das Bewusstsein, dass sie in einer neuen Zeit lebten, dass sie die alte Zeit, die Antike, erneuerten und dass es zwischen jener alten und ihrer neuen Zeit das dunkle Mittelalter gegeben habe. So dachte Francesco Petrarca, der sich 1373 in seinen Epistula metrica XXI im Rückblick auf die Antike in einer Zeit des Niedergangs sah und auf künftige Erneuerung hoffte6; so dachte auch der Bibliothekar des Vatikans, der 1475 gestorbene Humanist Giovanni Andrea Bussi, der das Mittelalter von seiner eigenen Zeit unterschied. Die Zeit vor seiner Zeit nannte er media tempestas (mittlere Zeit); seine eigene Zeit war für ihn nostra aetas (unser Zeitalter). Es dauerte nach Bussi aber noch gut 200 Jahre, bis dieses humanistische Bewusstsein einer neuen Zeit Grundlage der Epocheneinteilung der Historiker wurde. Das bewirkte Christoph Cellarius, der zwischen 1685 und 1696 eine dreibändige Darstellung der Weltgeschichte veröffentlichte. Den ersten Band nannte er Historia antiqua. Darauf folgten die Bände Historia medii aevi und Historia nova. Vorher hatte man die Geschichte ganz anders eingeteilt. Von jetzt an verbreitete sich das Denken in den Großepochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Seitdem unterscheiden wir Mittelalterliche Geschichte und Neuere Geschichte.

Von vielen Historikern wird die Epochengrenze um 1500 infrage gestellt. Diese Historiker betonen den Zäsurcharakter der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution und unterstreichen den Epocheneinschnitt der Zeit um 1800 stärker als den um 1500. Manche sprechen von der Epoche Alteuropas oder vom alteuropäischen Zeitalter, dessen Beginn im 13. Jahrhundert und dessen Ende mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert angesetzt wird. Das wichtigste Argument ist dabei, dass sich der moderne Staat in seiner Frühform schon seit dem 13. Jahrhundert entwickelt habe. Es gibt dazu aber auch Gegenpositionen, die am Epochencharakter der vom Mittelalter getrennten Frühen Neuzeit − verstanden als 16. bis 18. Jahrhundert – festhalten. Dabei begegnet man dem Alteuropakonzept heute eher mit Ablehnung als mit Zustimmung. Deutlich ist auch, dass die Debatte um die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit inzwischen abgeebbt ist. Man geht pragmatischer mit dem Periodisierungsproblem und auch mit dem Mittelalter- und dem Neuzeitbegriff um und ist zunehmend bereit, Periodisierungen in eigene Konzepte zu integrieren, die auf fremde Gegebenheiten, etwa die des Osmanischen Reiches, bezogen sind.

Fremde Gegebenheiten sind für Allgemeinhistoriker auch Dogmen- und Theologiegeschichte ebenso wie Wirtschafts-, Landwirtschafts- oder Technikgeschichte. Das sind Bereiche, die sich ihren Periodisierungen entziehen. Auch sind die Zäsuren der Wirtschafts- oder Technikgeschichte oft weniger ereignis- als prozesshaft, beziehen sich auf breitere Zeitspannen und weniger auf einzelne Jahre. Man kann die Französische Revolution genau datieren; die Industrielle Revolution genau datieren zu wollen, wird niemandem einfallen. Ähnlich ist es mit der Verlagerung von Produktionen, wenn etwa im 17. Jahrhundert die in Städten wie Florenz, Mailand oder Como, aber auch in Venedig bedeutsame Wolltuchherstellung allmählich zugunsten der Herstellung von Luxuswaren aus Seiden- und Brokatstoffen aufgegeben wird, wenn das Seidengewerbe im 16. Jahrhundert von Italien nach Lyon und weiter nach Antwerpen gelangt, wenn in den Niederlanden die Wolltuchproduktion im 16. Jahrhundert vom flandrischen Süden in den holländischen Norden abwandert, während der Süden sich auch hier auf Luxustextilien und Spezialprodukte wie Gobelins verlegt.

Zwar kennt auch die Wirtschaftsgeschichte exakte Daten, etwa wenn 1553 das Hansekontor von Brügge nach Antwerpen verlagert wird. Es herrschen aber die langsamen, im vorstatistischen Zeitalter in ihrem Verlauf kaum fassbaren und erst von ihrem Ergebnis her erkennbaren Entwicklungen vor.

Das Aufkommen des oberschlächtigen Wasserrades im 14./15. Jahrhundert − wichtig für den Betrieb von Mühlen und Hammerwerken −, die Verbreitung der Kammerschleuse, die Leon Battista Alberti in De re aedificatoria von 1443/52 beschrieb − wichtig für den Ausgleich von Niveauunterschieden bei Kanalbauten und im Binnenschifffahrtsverkehr − oder die technischen Innovationen bei Windmühlen und bei der Eisenerzeugung vom Rennfeuerverfahren zum Frischfeuerverfahren in Stücköfen zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert wogen mit ihren Folgen für die Technik- und Wirtschaftsgeschichte die Bedeutung gewonnener Schlachten für die Politikgeschichte auf. Von der doppelten Buchführung war die Rede. Noch viel einschneidender war die Entwicklung der Feuerwaffen seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und deren Einsatz im Hundertjährigen Krieg. Die Feuerwaffen setzten nicht nur den ritterlichen Idealen des Mittelalters ein Ende, sondern lösten die bis heute andauernde Rüstungsspirale technischer Menschenmassenvernichtung aus. „Vieles spricht dafür, dass die Feuerwaffe die Basisinnovation der Neuzeit darstellte.“7 Eine andere Basisinnovation der Neuzeit waren die im 14. Jahrhundert entwickelten mechanischen Uhren − zuerst die von Ingenieuren wie Richard von Wallingford oder von dem Arzt Giovanni de’ Dondi konstruierten Turmuhren −, die an die Stelle der Wasseruhren und anderer Techniken der Zeitmessung traten und den Weg zu der rigiden Zeitordnung der Moderne und zu „dem modernen Berufsmenschen, [der] ‚keine Zeit hat‘“8, eröffneten. Eine dritte Basisinnovation der Neuzeit war das Aufkommen des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der 1455 als erstes großes Druckwerk die 42-zeilige lateinische Bibel des Mainzer Druckers Johannes Gutenberg hervorbrachte, was zunächst − wegen des geringen Alphabetisierungsgrades der Bevölkerung mit nur rund zehn Prozent Lesefähigen und der hohen Kosten der heute Inkunabeln genannten frühen Druckwerke − nur ein Moment der Technikgeschichte war, bevor die Drucktechnik mit der Publizistik der Reformation ein Kommunikationsmedium von bis dahin unbekannter Wirkung entstehen ließ. Aber schon im 15. Jahrhundert traten mit dem Buchdruck an die Stelle der nur langsam, in kleiner Zahl und mit großen Kosten zu verbreitenden Handschriften gedruckte Bücher und nach einiger Zeit auch Flugschriften, die bald nicht mehr nur kirchliche und gelehrte Texte vermittelten, sondern auch populäre und durch einprägsame, sich der Technik des Holzschnitts bedienende Bilder auch Analphabeten zugängliche Stoffe verbreiteten.

Und die Kirchen- und Theologiegeschichte? Sie kennt weit mehr exakte Daten als die Wirtschaftsgeschichte – Konzilien, Pontifikate, theologische Schriften, wie auch Luthers Ablassthesen eine war –, doch entzieht sich auch die Kirchen- und Theologiegeschichte bisweilen den Periodisierungen der Allgemeinhistoriker. Ranke war Allgemeinhistoriker. Das Jahr 1517 ist als Epochenjahr ein der Kirchen- und Theologiegeschichte oktroyiertes Datum eines im deutschen Luthertum verwurzelten Allgemeinhistorikers. Es entspricht der Binnensicht der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen, zerschneidet aber den größeren kirchen- und theologiegeschichtlichen Zusammenhang der Katholischen Reform, die lange vor 1517 begann und weit über 1517 hinausragte und als deren Mitakteur Luther bis zu seinem Bruch mit Rom erscheint. Trotz der tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Folgen der Reformation war die Reformation in erster Linie ein Vorgang der Kirchen- und Theologiegeschichte. Bei der Frage nach der Epochenbedeutung Luthers und der Reformation kommt es auf die Klärung des Verhältnisses von Reformation und Mittelalter und auf die Frage an, was Katholische Reform ist und wann sie einsetzte.

Luther und die Neuzeit

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