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Martin Luther und die Wittenberger Reformation

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Wenn der frühe Luther als katholischer Reformer verstanden und die Reformation als „eine aus dem Ruder gelaufene Ordensreform“ (Edeltraud Klueting) gedeutet und als „Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben“ (Wolfgang Reinhard) bezeichnet werden kann, dann war in der Reformation viel Mittelalterliches enthalten. Das Verhältnis von Reformation und Mittelalter und die Frage nach Mittelalterlichem in der Reformation wird heute auch von evangelischen Kirchenhistorikern und besonders von Berndt Hamm gestellt, der in der Reformation einen „Verdichtungsvorgang“ gegenüber dem Mittelalter sieht, wobei er von „normativer Zentrierung“ spricht. Die Reformation erscheint ihm sowohl als „Umbruch“ wie auch als „in langfristige Kontinuitäten des Wandels integriert“, die „das Zeitalter der Reformation zusammen mit dem Spätmittelalter als Wegstrecke eines größeren kultur-, institutions-, mentalitäts- und religionsgeschichtlichen Zeitalters“11 deutlich werden lassen.

Radikaler Bruch oder Wandel in langfristigen Kontinuitäten Hamm stellt differenzierte Beobachtungen an und unterscheidet vier Bereiche. Ein radikaler Umbruch war die Reformation demnach als Entsakralisierungsprozess, der mit dem alten „Verständnis von Heiligkeit“ brach. Das habe sich zwar „in gewissen Wandlungsprozessen des Spätmittelalters“ angekündigt, stelle aber eine „grundlegende Richtungsänderung“ dar.12 Das trifft sich mit der These, wonach die aus der Observanzbewegung kommende Reformation „eine an Radikalität nicht zu überbietende Observanzbewegung im Sinne einer Aufgabe der evangelischen Räte“13 war. Die zweite Beobachtung lässt die Reformation nur als „Verstärkung“ oder „Beschleunigung“ spätmittelalterlicher Entwicklungen erscheinen, wobei Hamm u. a. an das landesherrliche Kirchenregiment denkt.14 Während hier der Faktor der Kontinuität von Mittelalterlichem groß ist, ist er bei der dritten Beobachtung noch größer, weil dabei „kontinuierliche Veränderung ohne gravierende Verstärkung oder Beschleunigung“ feststellbar ist, etwa bei der im Spätmittelalter lebendigen Vorstellung „von der teuflischen Fundamentalbedrohung des wahren Glaubens, die dann in den Schriften Luthers und in den konfessionellen Konflikten des 16. Jahrhunderts eine weitere Ausgestaltung erfahren wird“.15

Den größten „qualitativen Sprung“ zeige die vierte Beobachtung: Luthers Rechtfertigungslehre. Hamm räumt ein, dass es „bei einigen Theologen zwischen 1450 und 1520 die starke Tendenz [gibt], die Gnadenzuweisung der göttlichen Barmherzigkeit, vor allem durch die Passion Christi, in einer Weise zu maximalisieren, dass die vom Menschen geforderte Eigenbeteiligung auf ein Minimum herabgeschraubt werden kann. [...] Der qualitative Sprung der Reformation liegt dann im Schritt vom Minimum zum Nichts.“16 Ob dieses Urteil richtig ist und ob nicht auch hier von Verstärkung oder Verdichtung − oder gar nur von Veränderung ohne gravierende Verstärkung − die Rede sein müsste, hängt zumindest von der Einschätzung Gasparo Contarinis und seiner Erkenntnis der Rechtfertigung vor Gott ohne menschliche Bußleistung von 1511 ab, auf die Hamm nicht eingeht. Zweifellos radikal anders als bei Contarini war die Resonanz und die Wirkung der Rechtfertigungslehre Luthers. Wahrscheinlich lag hier das eigentlich Neue der Reformation. Nicht Luthers Rechtfertigungslehre war das epochale Ereignis, sondern ihr Widerhall.

Es gibt aber auch nach wie vor evangelische Kirchenhistoriker, die den „tiefgreifenden Umbruch“ der Reformation herausstellen und von deren „epochalem Charakter“ sprechen17, ohne die von Hamm gemachten Differenzierungen vorzunehmen. Das gilt für Gottfried Seebaß, der fünf Gründe nennt: die alleinige Berufung auf die Schrift und die Abwertung der Tradition − „nicht in einem formal-äußerlichen Sinn, sondern so, dass die Mitte der Heiligen Schrift, nämlich Person, Wort und Geschick Jesu von Nazareth in den Mittelpunkt“18 rückte −, die Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders vor Gott und die Beseitigung der „spätmittelalterlich-religiösen Leistungsgesellschaft“19, die Aufhebung des Unterschieds von Klerus und Laien im Allgemeinen Priestertum aller Getauften, die Ersetzung von Mönchtum und Askese als „Maßstab des eigentlich Christlichen“20 durch den Dienst am Nächsten im weltlichen Beruf und die durch die Reformation und die nachfolgende Ausbildung der Konfessionen bedingte Gestaltung des Christlichen als persönliches Bekenntnis. Dabei sieht auch Seebaß Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Reformation, wenn er zu der These kommt, man könne versucht sein, „die bei Katholiken wie Protestanten verbreitete Vorstellung, die heutige römisch-katholische Kirche befinde sich in ungebrochener Kontinuität zum Mittelalter, die evangelische aber nicht, geradezu umzukehren. Denn das Spätmittelalter findet in vielen Punkten seine ihm entsprechende Fortsetzung tatsächlich eher in der vielgestaltigen Welt des Protestantismus als in dem erst in der Abwehr der Reformation entstandenen und deswegen gegen die Reformation ausgebildeten tridentinisch-römischen Zentralismus.“21 Es kann hier nicht um die Frage gehen, wie diese These zu der Feststellung des epochalen Charakters der Reformation passt, oder darum, wer recht hat.22 Es gibt Argumente für beide Sichtweisen.

In einem Punkt muss Seebaß und denen, die seine Sicht teilen, aber widersprochen werden, dann nämlich, wenn sie die Kirche vor dem Tridentinum nicht als katholische Kirche bezeichnet sehen wollen und stattdessen auf Formulierungen wie römische Kirche oder alte Kirche ausweichen. Chlothilde, die Tochter des burgundischen Königs Chilperich II., war katholisch, nicht – wie der Westgote Wulfila und wie die Langobarden bis zu Agilulf im 7. Jahrhundert – arianisch. Ihr Gemahl, der Merowingerkönig Chlodwig I., empfing 497/99 die Taufe in der katholischen – nicht in der arianischen – Kirche, und Nikolaus Cusanus schrieb De concordantia catholica 1433 als Kleriker der katholischen Kirche. Den Begriff katholische Kirche gibt es – lat. catholicus für griech. καθολικός in der Bedeutung von ‚allgemein‘ – seit den epistula ad Smyrnaeos, den Briefen des Bischofs Ignatius von Antiochien an die Gemeinde in Smyrna, aus dem 2. Jahrhundert, und zwar im Sinne der Gesamtkirche im Gegensatz zur Ortskirche. Als Bezeichnung für die rechtgläubige Kirche wird καθολικός im Martyrium Polycarpi – der Märtyrerbischof Polykarp von Smyrna lebte im 2. Jahrhundert – gebraucht. In den epistulae des Augustinus – er starb 430 – ist die ecclesia catholica die in Einheit universal verbreitete Kirche. Nach Augustinus setzte sich die Gleichsetzung der ecclesia catholica mit der ecclesia romana durch.23 Diese Kirche stand immer unter dem Primat des Papstes, des Bischofs von Rom, und war deshalb immer auch römische Kirche. Sie war auch alte Kirche – „alt“ im Sinne von „hergebracht“ oder „überliefert“, gemessen an den aus der Reformation hervorgehenden Kirchenbildungen.24 Deshalb kann der Verfasser dieses Buches die Bezeichnungen katholische Kirche, römische Kirche und alte Kirche25 synonym verwenden.

Halten wir uns an die Antwort, die Joseph Lortz 1939 gab:

„Die gewaltige Änderung, welche die Reformation im Gesamtbestand des europäischen Daseins − kirchlich, religiös, wissenschaftlich, politisch und auch wirtschaftlich − bedeutet, ist zu einer Hälfte das Ergebnis einer seit rund 1300 angelegten Verschiebung und Zersetzung. Der andere Teil heißt Luther.“26

Voraussetzungen und Ursachen der Reformation In den zwei Jahrhunderten vor der Reformation seit etwa 1300 entstanden die Voraussetzungen der Reformation: die Religiosität der Menschen besonders der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit ihrer großen Heilssehnsucht, aber auch Mechanisierung und Kommerzialisierung der Frömmigkeit27, die Mystik und die Devotio Moderna, die Observanzbewegungen der Dominikaner, Franziskaner, Karmeliten und Augustiner-Eremiten28, die verbreitete Kirchenkritik mit der Kritik am Papsttum und an der Geistlichkeit, der aus solcher Kritik genährte Antiklerikalismus29, der beginnende Nationalismus, wie er im Gallikanismus (dem französischen Nationalkirchentum seit dem Mittelalter) hervortrat, und die beginnende territoriale Staatsbildung, die hinter dem vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiment sichtbar wird, und nicht zuletzt die Lehren des John Wiclif und des Jan Hus.30

Schon Wiclif sprach, wie später Luther, vom Allgemeinen Priestertum, verwarf Hierarchie und Weihepriestertum und forderte die Beseitigung des Ablasses, der Heiligen- und Reliquienverehrung, des Kirchenbesitzes und die Beschränkung der Sakramente auf Taufe und Eucharistie. Hus übernahm wichtige Punkte aus Wiclifs Theologie, wobei ihn − wie später Luther − das Ablassproblem in den Konflikt mit der Kirche führte.

Neben diesen Voraussetzungen gab es andere, nicht weniger wichtige. Dazu gehörte die wachsende Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit, das Ende des klerikalen Bildungsmonopols, der Aufschwung des akademischen Bildungswesens, die Gründung zahlreicher neuer Universitäten und die Entwicklung der Theologie und Philosophie der Scholastik. Die via antiqua (die ältere thomistische, auf Albertus Magnus und Thomas von Aquin zurückgehende theologisch-philosophische Schulrichtung der Scholastik) war zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht mehr die einzige Richtung der Scholastik. Von der Pariser Universität drang die via moderna (die jüngere ockhamistische, mit Wilhelm von Ockham in Verbindung gebrachte und auch als Nominalismus bezeichnete theologisch-philosophische Schulrichtung der Scholastik) vor, mit Gabriel Biel in Tübingen als Hauptvertreter in Deutschland. Sein gemäßigter Nominalismus (in der Scholastik ausgebildete Lehre über die Allgemeinbegriffe – oder Universalien –, wonach diese nur im Denken oder nur in ihren Namen – lat. nomina – und nicht in der Wirklichkeit bestehen) gewann Einfluss auf Luther.

Entscheidende Bedeutung kam dem Buchdruck mit beweglichen Lettern seit Gutenbergs 42-zeiligem lateinischen Bibeldruck von 1455 zu. Bis 1500 entstanden nach vorsichtigen Schätzungen rund 27 000 Buchdrucke mit Auflagen von 300 bis 500 und in einigen Fällen bis zu 1000 und mehr Exemplaren. Auch die Technik verbreitete sich rasch. Um 1500 gab es wahrscheinlich bereits etwa 260 Druckorte, wobei allein auf Venedig 151 Druckereien entfielen.

Zentren des Buchdrucks in Deutschland waren Straßburg, Köln, Basel, Augsburg, Nürnberg und Leipzig. Mit dem Buchdruck standen Medien zur Verfügung, mit denen die Lehren Luthers und der Reformation in einem Maße verbreitet werden konnten und verbreitet wurden, wie das ohne diese Technik unmöglich gewesen wären, sodass manche von Medienrevolution sprechen.31

Eine Voraussetzung für den Erfolg Luthers und der Reformation − wahrscheinlich die wichtigste neben Buchdruck und Landesfürstentum − bildete der Humanismus. Der Biblische Humanismus32 schuf mit der griechischen Ausgabe des Neuen Testaments des Erasmus von Rotterdam in der Fassung von 1519 und mit Johannes Reuchlins Rudimenta linguae Hebraicae von 1506 die Voraussetzungen für Luthers deutsche Übersetzung des griechischen Neuen und des hebräischen Alten Testaments. Aber der Zusammenhang von Humanismus und Reformation geht weiter. Bernd Moeller hat das so formuliert: „Ohne Humanismus keine Reformation.“33 Er hat die These aufgestellt, dass „Luthers Sache ohne die Zustimmung der Humanisten nicht zum Sieg gekommen“34 wäre. Tatsächlich waren viele Reformatoren − Melanchthon, Zwingli, Bucer, Brenz, Calvin − anfangs selbst Humanisten oder humanistisch gebildet. Nur Luther macht eine Ausnahme. Dennoch hielten die Humanisten Luther für einen der Ihren. In ihren Augen war seine Kirchenkritik deckungsgleich mit ihren eigenen Reformvorstellungen. Deshalb unterstützten sie Luther. Sie waren die ersten, die in entscheidendem Maße zur Verbreitung seiner Schriften und seiner Lehren beitrugen. Später erwies sich das Bündnis als Irrtum, sodass sich die Wege Luthers und der Humanisten ab 1525 trennten. Das Menschenbild der Humanisten und das Menschenbild Luthers waren nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die Humanisten, auch die biblischen Humanisten, waren an dem Ideal einer durch Bildung glücklichen und harmonischen Persönlichkeit orientiert, die durch Bildung zu einem wahren und vollständigen Menschen wird, der nicht vom Geschick abhängig ist, sondern sich selbst zu entfalten weiß. Luther hatte ein anderes Menschenbild, das ganz in der Stellung des Menschen zu Gott aufging und den Menschen als vollständig abhängig von Gott ansah.

Früh- oder Spätdatierung des reformatorischen Durchbruchs Martin Luther wurde 1483 in Eisleben geboren. Von 1488 bis 1497 besuchte er die Stadtschule in Mansfeld und danach für ein Jahr die Domschule in Magdeburg und ging anschließend bis 1501 an seinem Geburtsort in die Schule. In Magdeburg unterrichteten Angehörige der Brüder vom gemeinsamen Leben, sodass er mit seinen Magdeburger Lehrern der Devotio Moderna begegnete. 1501 begann er mit dem Studium an der Artistenfakultät der Universität Erfurt. Dem artes-Studium verdankte Luther seine Kenntnis der lateinischen Grammatik und der Philosophie des Aristoteles − Voraussetzung seiner späteren Kritik an der aristotelischen Philosophie und an Thomas von Aquin. An der Erfurter Artistenfakultät herrschte der Nominalismus der via moderna in der gemäßigten Form, wie sie von Gabriel Biel vertreten wurde. Daneben lernte Luther auch andere Richtungen des philosophisch-theologischen Denkens kennen, vor allem Augustinus und die Mystik.

1505 beendete er das artes-Studium mit dem Magistergrad und trat in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. Das war eines der 30 Klöster, die sich in der Ordensprovinz Sachsen der Observanz unter Johann von Staupitz, Generalvikar der observanten Kongregation seit 1503, angeschlossen hatten. In Staupitz, der in seinen Schriften die augustinische Betonung der erwählenden Gnade Gottes hervorhob, sodass man darin Luthers spätere Rechtfertigungslehre antizipiert sehen kann, begegnete dem jungen Luther ein Ordensreformer als Lehrer und väterlicher Freund.35 Seit 1510 stand Luther bei Auseinandersetzungen unter den observanten Klöstern auf Staupitz’ Seite; Hans Schneider bringt seinen endgültigen Wechsel von Erfurt nach Wittenberg damit in Verbindung.36

1507 empfing Luther die Priesterweihe und begann in Erfurt mit dem Theologiestudium. 1508 versetzte ihn Staupitz in das Augustiner-Eremiten-Kloster in Wittenberg, wo er an der Theologischen Fakultät der Universität sein Studium fortsetzen und an der Artistenfakultät als Magister philosophische Vorlesungen halten sollte. 1509 erwarb er in Wittenberg mit dem Baccalaureat den niedrigsten akademischen Grad der Theologie. Er kehrte nach Erfurt zurück, um Vorlesungen in der Theologischen Fakultät zu halten. Er las 1509/10 über die Sentenzen des Petrus Lombardus. Seine Randbemerkungen zu Petrus Lombardus37 und zu einigen Augustinus-Schriften aus dem Winter 1509/1038 sind die ältesten bekannten Schriften Luthers. Nach der endgültigen Rückkehr nach Wittenberg reiste Luther 1510/11 im Auftrag von Staupitz nach Rom39, wobei es um Ordensangelegenheiten ging. Nach der Rückkehr aus Rom nahm er im Mai 1512 mit Staupitz an dem Kapitel seines Ordens in Köln teil40 und wurde im Oktober 1512 in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert. Mit dem Erwerb des Doktorgrades übernahm er von Staupitz die Professur der Bibelwissenschaft in der Wittenberger Theologischen Fakultät. Damit trat der Mönch Martinus, 29 Jahre alt, in das Amt eines Universitätsprofessors der Theologie ein, das er bis zu seinem Tod 1546 behielt. Dieses Amt als Professor blieb das Zentrum seines Wirkens. Die Professur war das Amt, aus dem Luther seine Legitimation bezog. Nach seiner Auffassung bestand seine Aufgabe als Professor der Theologie in der Auslegung der Bibel. Hier zeigt sich die zentrale Bedeutung der Institution Universität für die Reformation in Deutschland, wodurch sie sich von der Reformation in der Schweiz unterschied.

Zwar ist auch von einer seit Oktober 1512 gehaltenen Genesis-Vorlesung die Rede, doch begann Luther „nach allem, was wir wissen“41 seine Lehrtätigkeit als Theologieprofessor im August 1513 mit einer Vorlesung über die Psalmen, die er bis 1515 hielt. 1515 und 1516 las er über den Römerbrief, 1516 und 1517 über den Galaterbrief und 1517 und 1518 über den Hebräerbrief. Von der Psalmen- und der Römerbriefvorlesung sind Luthers Originalmanuskripte, die um 1900 entdeckt wurden, vorhanden. Die Vorlesung über den Hebräerbrief fiel bereits in die Zeit, in der er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablass publik machte. Es ist umstritten, wann der reformatorische Durchbruch42 bei Luther zeitlich anzusetzen ist − mit anderen Worten: bis wann Luther katholisch und ab wann er nicht mehr katholisch war. Traditionell vertreten die meisten evangelischen Kirchenhistoriker die Frühdatierung. Danach hat Luther bereits vor dem Ablassstreit im Kern eine neue Theologie gelehrt, die mehr oder weniger zwangsläufig zum Konflikt mit der alten Kirche führen musste. In dieser Sicht hörte Luther sehr früh auf, katholisch zu sein. So sah Gerhard Ebeling schon in den Randbemerkungen Luthers zu Petrus Lombardus von 1509/10 früheste Anzeichen von Luthers reformatorischer Theologie.43 Katholische Kirchenhistoriker und Allgemeinhistoriker neigen eher der Spätdatierung zu, wonach der Luther von 1517 noch katholisch war.

Die Vertreter der Frühdatierung betonen heute, dass der reformatorische Durchbruch kein einmaliges Ereignis gewesen sei, sondern ein allmählicher Prozess, der wahrscheinlich 1513 − mit der Psalmenvorlesung − eingesetzt habe und Luther noch auf Jahre katholisch bleiben ließ, ihn aber im Laufe der Zeit in einen immer schärferen Gegensatz zur scholastischen Theologie brachte, bis sich mit dem Ablassstreit und vor allem mit dem Ketzerprozess und dem sich seit 1518 verschärfenden Konflikt mit Rom der Bruch mit der alten Kirche vollzogen habe. Auffällig ist, dass der Lutherbiograph Martin Brecht als evangelischer Theologe die Spätdatierung vertritt: Der Luther der Ablassthesen von 1517 sei − so Brecht − „noch nicht evangelisch“44 gewesen. Für Brecht hat erst die Hebräerbriefvorlesung „die Voraussetzung für die reformatorische Entdeckung geschaffen“45, die − „frühestens im Frühjahr und spätestens im Herbst 1518“46 − erfolgt sei, und zwar bei Luthers Arbeit an einer Neufassung der Psalmenvorlesung. Man kann den endgültigen Bruch mit der alten Kirche aber noch später ansetzen: bei der Leipziger Disputation 1519.

Die Entscheidung für die Frühdatierung oder die Spätdatierung hat Konsequenzen für das Verständnis Luthers und der Reformation und die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zum Mittelalter. Die Spätdatierung knüpft nicht an einzelne frühe Spuren späterer Standpunkte in frühen Äußerungen Luthers an, was mit der Gefahr des Rückblicks vom Ergebnis her verbunden ist, sondern nimmt den Konflikt mit der Kirche als entscheidendes Kriterium und impliziert, dass sich das Kernstück der reformatorischen Theologie erst unter den Kampfbedingungen der Auseinandersetzung mit Rom entfaltet habe. In dieser Sicht war Luther noch lange katholisch.

Luther und die Neuzeit

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