Читать книгу Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke - Страница 5

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner

Оглавление

Im Fall von Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, der nicht nur durch sein Äußeres andere Menschen und Pastöre überragte, sondern sich durch kritische Intelligenz und Glaubenseifer seiner fein gegliederten, empfindsamen Persönlichkeit unter einer rauen Schale, die so reißfest nicht war, auszeichnete, muss doch etwas weiter ausgeholt werden. In seinen frühen Pastörenjahren in einer mittleren Bezirksstadt im Kohlerevier gab ihm Luise Agnes ihre Liebe, die ihm Mut machte, eine Familie zu gründen, obwohl bei der Betrachtung seines Anfängergehalts eher ein Abwarten angeraten war. Sie unterstützte ihn in selbstloser Weise durch Zuhören, treue Zugehörigkeit und emsigen Fleiß, ohne dass ihr etwas zuviel wurde oder ein Wort ungefragt dazwischenzureden, bei der Arbeit, was ihm eine große Hilfe im Durchstehen der Anfechtungen, nicht nur im Glauben, sondern auch in den existentiellen Alltagsproblemen war. Seine Begabung lag in der Exegese und hier besonders in der Auslegung des neuen Testaments. Bei der Einführung als Pastor durch seinen Vorgesetzten, den Superintendenten und Konsistorialrat Braunfelder in der spätgotisch errichteten Kirche mit dem spitz aufragenden Glockenturm, der ein Zwillingsturm war, dem der andere Zwillingsbruder allerdings fehlte, als handelte es sich um eine architektonische Fehlgeburt, dem der zweite Zwilling die Geburt des Turmbaus nicht erlebte, war Eckhard Hieronymus Dorfbrunner doch recht aufgeregt. Er hatte sich gründlich auf die Predigt über die Verse 1 bis 13 des 8. Kapitels des 1. Korintherbriefes vorbereitet, zu dem ihn der Konsistorialrat nach einem langen Gespräch in seinem geräumigen Dienstzimmer hinter dem großen Schreibtisch sitzend ermuntert, dann geraten und schließlich anbefohlen hatte, weil er der Meinung war, dass sich dieser Text für die pastorale Jungfernpredigt, das heißt, als pastoraler Einstand in die Gemeinde vorzüglich eigne. Er ließ mit einem ernsten Blick, dann mit einem leichten Schmunzeln, dem die Lippen sogleich nicht folgen wollten, sondern mehr gespannt blieben, als dass sie sich lösten, durchblicken, dass sich an diesem Text der Prediger messen solle, was vor ihm unzählige auch getan haben und bei der Textauslegung große Exegeten hervorgegangen waren, die ihre Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen haben, die von der Sprache und ihrem Denkinhalt unvergessen blieben. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner hatte dem Vorschlag des Konsistorialrates zugestimmt, sich seinem anbefohlenen Rat ergeben und die Herausforderung mit dem 1. Korintherbrief, Kapitel 8 angenommen. Wochen hatte er den Text gelesen, war seinen Hintergründen auf der Spur, versuchte zu fassen, was Paulus zu diesem Brief veranlasste, was er beim Schreiben auf dem Herzen hatte. Beim täglichen Lesen und dem Vergrößerungsversuch mit der Sichtbarmachung des eingewebten roten Fadens, dem Erkennungsversuch, was zwischen, hinter und über den Zeilen und Worten war, beim täglichen Ringen nach dem Geist, das ihn in den Nächten nicht verschonte, bekannte er seiner jungen, liebevoll zuhörenden Frau in einer Nacht, als sie von den Greifversuchen ihres Mannes nach der Wahrheit oder Weisheit, da unterschied sie nicht, selbst ergriffen wurde und nicht einschlafen konnte, dass er beim seinem Studium am Korintherbrief begriffen habe, wie wenig er bisher verstanden habe, und wie gedankenvoll, geistgeladen und sprachgewaltig Paulus war, dem er in seiner Wortgewalt wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht das Wasser reichen könne. Worauf ihm seine liebevoll zuhörende Frau Luise Agnes im Bett aufsitzend sagte, dass er nicht so pessimistisch sein solle, weil ihm die negative Sichtweise den Geist verengen würde. Sie sagte, dass er erst am Anfang seiner Laufbahn stehe und, wenn er im Glauben fest sei und fest bleibe, weiter in den Geist der heiligen Schrift hineinwachsen werde, ohne schon am Anfang den Schaden der Blindheit zu erleiden. Dafür bete sie täglich, dass ihrem Mann beim Einstieg in die Welt des Glaubens nicht die Blindheit schlage oder ein anderes Unglück passiere. Das mit dem Beten für ihren Mann war ihr ein Herzensanliegen, wozu ihr die Eltern sehr eindringlich geraten haben.

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner stand aufrecht im Dämmerschein der Tischlampe aus dem kleinen Nebenraum, der sein Arbeitszimmer war, wo die Tür halb offen stand, vor ihrem Bett. Es war die Stille der Nacht, dass er ihren ruhigen Atem hörte, den herben Jasmingeruch, der ihrer Haut nach dem Nachtbad entströmte, wahrnahm und mit der Zunge, die über seinen Lippen hin und her fuhr, ohne dass es bemerkt werden sollte, zu schmecken versuchte. Er bewunderte seine Frau, die in ihrem Wesen so zart und schön wie eine Blume, so ohnegleichen war; er liebte sie, liebte sie sehr, fühlte sich zu ihr hingezogen, dass ihm die Wallung der körperlichen Versuchung ins Gesicht stieg, er die Hitze des Spontanen im Kopf fühlte, als würde es in ihm kochen. Die aufrecht sitzende Luise Agnes im weißen, vorne hoch geschlossenen Nachtkleid, deren brünettes Haar offen über beide Schultern fiel, konnte die Erregung mit der spontanen Hitzewallung direkt nicht sehen, bemerkte wohl an der Art seines vor dem Bett Stehens, dass ihr Mann der körperlichen Anfechtung ausgesetzt war, gegen die er mühsam ankämpfte. „Sprich mir die ersten Verse“, bat sie ihren Mann, um ihm beim Kampf gegen die körperliche Lust beizustehen und ihn auf den geistigen Weg zum Korintherbrief zurückzubringen, ihn bei den Anfechtungen zu begleiten, die Türme des Begehrens abzubauen, sie zu überwinden, um dort wieder anzukommen, wo der Anfang war, wo er ist mit seinem Gut und Böse. Die Minute des Nichtsprechens, beziehungsweise der Sprachlosigkeit durch das verlorene, abhanden gekommene Wort dauerte etwas länger, während er unverändert aufrecht, fast wie ein Hüne vor ihrem Bett stand, ohne einen Schritt auf sie, die schöne, aufrecht im Bett sitzende junge Frau mit dem herabfließenden Haar zuzugehen. Einige tiefe Atemzüge gingen durch das von der Tischlampe des Nebenraumes dämmrig beleuchtete Schlafzimmer, von denen auf den ersten Zügen die Schwere des Ringens um die Befreiung von der Last der körperlichen Lust, die er als eine unfromme Belästigung empfand, hörbar lastete, so dass den Atemzügen, die noch unterhalb, wenn auch nicht mehr weit von der Schwelle des ringenden Stöhnens lagen, ein Schweben, ein Davonschweben in die richtige Richtung der geistigen Meditation nicht zuerkannt werden konnten. Eckhard Hieronymus rang um die Fassung; er erkämpfte sie mühsam, umgab sie sich wie einen Schutzzylinder, wie eine Tonne ohne Boden, in die er sich stellte, um mit dem Aufsagen der Verse zu beginnen. Luise Agnes saß aufrecht im Bett, hielt den Kopf aufgerichtet, die Augen geschlossen und wartete auf die Rezitation. Auch hielt sie ihre Hände wie zum Gebet gefaltet und bat den Herrn, dass er ihrem Mann die Kraft und Stärke eines Apostel Paulus geben möchte, um die Menschen zur Umkehr im Glauben und durch den Glauben zur Vernunft zu bringen, damit Ordnung in die Welt einkehrt, in der die Zivilisation moralisch am Boden liegt, verroht und willenlos ist, sich aus den Fängen des Teufels zu befreien, der genug Unheil angerichtet hat. Sie hielt die Hände fest gefaltet, öffnete nur etwas die Augen, ein Sehschlitz genügte, um beim Blick auf die ineinander geschlossenen Hände das Leidensgesicht des Herrn mit der eingedrückten Dornenkrone zu erkennen. So bat Luise Agnes dieses Händegesicht, hinter dem sie sich das Kreuz aufgerichtet dachte, um Vergebung der Sünden, ohne die der Mensch im Leben einfach nicht zurecht kommt, und um die Gnade des Herrn, dem das Blut seiner Liebe aus den Nagelwunden tropft, sie im Auge seiner unbegreiflichen Liebe zu halten und ihren Mann beim Ringen um den Glauben über den 1. Korintherbrief an die Hand zu nehmen, die Erleuchtung zu geben und nicht mehr aus der Hand seiner Führung zu lassen. Sie öffnete die Hände und damit das Leidensgesicht, hob und hielt sie vors Gesicht, in die sie in Stille ihre Tränen vergoss, während sie die Taten, die nicht richtig waren, vor dem guten Auge, das mit dem Herzen verbunden ist, von hinten nach vorn ablaufen ließ, dabei erschrak, sich schwach, feige, schwindelig fühlte, dass sie sich nicht den körperlichen Schmerz für die begangenen Sünden selbst zufügte. Für all das bat sie um Vergebung und sah sich winzig klein und hilflos vor dem Kreuz mit dem herabblickenden Leidensgesicht der verschenkten Liebe knien. Der senkrechte, aufstrebende Balken wuchs sich nach oben, weit über den Kopf hinaus. Sie schaute nach oben, durch die Zimmerdecke hindurch, glaubte sich von den sich vorneigenden Armen des Querbalkens berührt. Dann senkte sie die Hände, legte sie auf die Bettdecke über die spitz gebeugten Knie, sah über die Knie hinweg, ohne einen Erdpunkt zu fixieren. Ihre Augen waren feucht, doch sollte das Salz der Tränen antrocknen, denn, so hielt sie es in der Auflösung des Nachgebets, man soll die Trauer nicht sogleich von den Augen wischen; das Gebet soll seine Wirkung tun. Es war ein volles Gebet, dass die Minute des verlängerten Schweigens doch wie eine Sekunde verstrich, und durch Luise Agnes etwas Festes fuhr, das sie in den Körper zurück steckte, wobei sie ihren Oberkörper aufrichtete, der im Gebet rundrückig eingesunken war. Sie hatte die Kommunikationshaltung der gestreckten Wirbelsäule angenommen, die in der Welt von Rede und Antwort angebracht ist, wenn es etwas zu hören, beziehungsweise zu sagen gibt, was von großer Bedeutung ist. Das einfallende Licht vom kleinen Arbeitszimmer nebenan hatte sich zu einem schmalen Spalt verdünnt, so dass es fast dunkel ums Bett der Luise Agnes und um den neben dem Bett stehenden Eckhard Hieronymus Dorfbrunner geworden ist. Die Tür hatte sich zum Schloss hin bewegt, ein sandkörniges Knirschen, dessen Ursache ein Geheimnis blieb, war zweimal zu hören; es wurde von beiden als das Fanal zur Rückkehr in die körperliche Welt mit den Räumlichkeiten des Schlafzimmers, des Bettes und der anderen Dinge verstanden mit dem Grenzübertritt aus den zeitlosen Weiten in die dunkle Enge der Nachtzeit. So begann Eckhard Hieronymus die Verse zu sprechen, als er, wie auch die im Bett aufsitzende Luise Agnes zu Schattenbildern geworden waren, deren Konturen aus den anatomischen Proportionen gerieten, sich verkürzten oder streckten, je nach dem Winkel der Betrachtung, mit dem eine Person die andere sah und zu sehen suchte.

Er sprach langsam, holte jedes Wort wie mit einem Meißel aus der Schale: „Was aber das Götzenopfer anlangt, so haben wir ja alle das Wissen.“ Nun setzte er den Meißel an die Silben: „Das Wissen bläst auf, aber die Liebe baut auf. Wenn sich jemand dünken lässt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie man erkennen soll.“ Als hätte Eckhard Hieronymus nun die Form herausgemeißelt, begann er nun an den Kanten und scharfen Ecken zu feilen, wobei er wie der Künstler ständig sein Werk von allen Seiten betrachtete und aufpasste, dass die markanten Konturen der Ausbuchtungen zu den Höhen und Tiefen nicht verloren gehen, mehr noch, nicht nur erhalten, sondern weiter ausgearbeitet werden. So fuhr er in Betrachtung der bisher ausgewirkten Form mit Hammer und Meißel in den Händen, die Lungen mit festen Zügen durchatmend, fort: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.“ Nach einer kurzen Kadenz von C-Dur nach e-Moll ging es weiter: „Von dem Essen des Götzenopfers aber wissen wir, dass kein Götze in der Welt ist (als läutete die schwere Glocke) und dass kein Gott ist als der eine.“ Dann in anderer Tonart (nach einem Quintensprung): „Und wiewohl solche sind, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn.“ Luise Agnes hielt die Hände gefaltet auf den angewinkelten Knien; sie schaute auf die schattigen Konturen der vor dem Bett stehenden Ehemannes deshalb, weil eine Redepause eintrat, als müsste sich Eckhard Hieronymus neu sammeln, hätte sich seine Kraft verbraucht. Sein Atem ging gleichmäßig und gesetzt, so dass an seiner aufrechten Haltung nicht zu zweifeln war. Luise Agnes sah auf ihre Hände, in der Faltung der Hände das Leidensgesicht des Herrn mit der aufgedrückten Dornenkrone; sie lispelte ein kurzes Amen, das ihr M ann hörte, der im Begriff war, mit dem Aufsagen der Verse fortzufahren. „Es hat aber nicht jedermann das Wissen. „Ja, das stimmt“, bedachte Luise Agnes. Denn etliche, weil sie bisher an die Götzen gewohnt waren, essen es als Götzenopfer; damit wird das Gewissen, weil es schwach ist, befleckt.“ Wieder trat eine Pause ein. Eckhard Hier onymus wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund, dann setzte er die Rezitation in einer anderen Molltonart fort: „Aber Speise wird uns nicht Gott wohlgefällig machen. Essen wir nicht, so werden wir darum nichts weniger sein; essen wir, so werden wir darum nicht besser sein.“ Nun ging er zum Türspalt, damit das schwache Licht der Tischlampe im Nebenraum auf die aufgeschlagene Textseite fiel, um die noch verbliebenen Verse vorzulesen, obwohl er sie auswendig aufsagen konnte, eben nicht inwendig genug, um fürs Aufsagen die nötige Sicherheit zu haben, als würde er erneut von einer Anfechtung heimgesucht, die ihn bis in die Grundfeste des Glaubens erschütterte. Nun sah Luise Agnes den Schweiß auf seinem Gesicht, den er sich mit dem Taschentuch abwischte. Es war der Schweiß des Ringens um den rechten Glauben, das ihm aus den Poren rann, mit dem er das Tuch befeuchtete. Er hielt es in der linken Hand, als er die übrigen Verse vorlas: „Sehet aber zu“, sprach er mit fester Stimme, fast hymnisch, „dass diese eure Freiheit nicht zum Anstoß für die Schwachen gerate! Denn wenn dich, der du das Wissen hast, jemand zu Tische sitzen sähe im Götzenhaus, wird nicht sein Gewissen, da er doch schwach ist, bestärkt, das Götzenopfer zu essen? Und so wird über deinem Wissen der Schwache ins Verderben kommen, der Bruder, um deswegen doch Christus gestorben ist.“ Nun hob Eckhard Hieronymus die Bibel in der rechten Hand höher, näher vors Gesicht, und höher hob er seine Stimme: „Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und ihr schwaches Gewissen verletzt, so sündigt ihr an Christus. Darum, wenn die Speise meinen Bruder zur Sünde verführt, wollte ich das Fleisch nimmermehr essen, auf das ich meinen Bruder nicht verführe.“ Nach Ende der Lesung und einer knappen Schweigeminute, die ihr folgte, sprach er das Amen zur Bekräftigung, dass er die Botschaft der Wahrheit und des Heil empfangen habe, der er nichts hinzuzufügen habe, stattdessen in sein Herzen nehmen und dort weitertragen wolle. Mit einer Sekundenverschiebung sprach Luise Agnes das „Amen“ vor ihm. Dann löste sie die Hände aus der Faltung, hob sie vors Gesicht, drückte das Gesicht in die Hände und setzte in tiefer Stille die Meditation über die vorgetragenen Verse, die auch sie erschütterten, fort.

In der Nachmeditation wurde es für Luise Agnes klar, wie schwer es sein würde, den Worten des Apostels, die so gewaltig waren, dass sie ein Beben in ihrem Herzen auslösten, noch etwas hinzuzufügen. Sie erkannte die Schwere der Herausforderung, den Geist, der aus diesen Versen sprach, in die Gegenwart hinüber, anders gesagt, in die Gegenwart hinein zu interpretieren, in eine Zeit, in der die Menschen dem äußeren Reichtum nachjagten, ihm verfielen und sich für das Wort der Besserung taub stellten, als hätten sie sich die Ohren zugestopft für die Heilsbotschaft, die allen so vonnöten wäre. Während sie im Bett aufrecht saß, die Hände vors Gesicht hielt und sich selbst auf die Glaubensfestigkeit hin prüfte, legte Eckhard Hieronymus die Bibel aufgeschlagen auf den Tisch im kleinen Arbeitszimmer zurück, legte seine Sachen über den Stuhl, löschte das Licht der kleinen Tischlampe, schloss die Tür zum Schlafzimmer, zog sich das zusammengefaltete, knielange Nachthemd über, gab seiner jungen, meditierenden Frau einen Kuss auf die Stirn und legte sich rechts von ihr ins Bett, zog sich die Decke über und wartete darauf, dass sich Luise Agnes zurücklegte, um mit ihr das Nachtgebet zu sprechen, das eine feste Einrichtung der verbindenden Gemeinsamkeit war, seitdem sie Mann und Frau waren. Es dauerte eine Zeit, bis Luise Agnes ihr Gesicht aus der Handschale nahm und ihren Kopf auf das querformatige Kopfkissen legte. „Ich danke dir“, sagte sie, tastete mit der rechten Hand nach seiner linken Hand und hielt sie fest. „Du hast gut gesprochen, es waren starke Worte.“ „Ja, es waren starke Worte“, erwiderte Eckhard Hieronymus, „so stark, dass meine Stimme an ihnen fast zerbrochen wäre.“ „Das habe ich gemerkt“, sagte Luise Agnes, „du hattest in der Mitte des Kapitels einen Kampf auszufechten, der ein schwerer Kampf gewesen sein musste. Was war geschehen?“ „Es war, wie so oft, ein Ringen um den Glauben“, antwortete er, „ich spürte meine Schwäche, fühlte mich für diese starken Wo rte viel zu schwach, ich meine, dass ich noch lange nicht reif im Glauben bin, den großen Geist, den die Worte des Apostels sprechen, über meine Zunge zu bringen. Da hatte ich das Gefühl, dass ich meinen Mund zu voll nehme, meine Zunge überlade, dass sie steckenbleibt, dass sie abbricht. Dem großen Kaliber seiner Sprache bin ich einfach nicht gewachsen. Beim Aussprechen seiner Worte wird mir schwindelig, habe ich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen wegrutscht, dass ich jeden Augenblick stürze, umfalle, wie ein Schwächling am Boden liege.“ Luise Agnes drückte fest seine Hand, um ihm den nötigen Mut zum Glauben und Sprechen aus dem Glauben in seine Hand zu drücken. Sie lagen beide auf dem Rücken und schwiegen Hand in Hand. Dann sagte Luise Agnes, dass er es schaffen werde, wenn er den Kampf um den Glauben durchstehe, wozu er die Begabung habe. „Du darfst nicht verzweifeln, ich weiß, wie schwer es ist; ich stehe dir bei, lass mich mit dir gemeinsam um die Wahrheit ringen!“ „Danke“, sagte Eckhard Hieronymus und drückte das Danke in ihre Hand. „Lass uns das Nachtgebet sprechen“, sagte sie, „wenn du es erlaubst, dann möchte ich es sprechen.“ So sprach Luise Agnes das Gebet, wobei sie seine Hand in ihrer hielt, sie sanft in seine legte. Eckhard Hieronymus hörte ihr mit geschlossenen Augen zu. Es war ein langes Gebet, das ihm das geistige Auge weit öffnete, weil da gesprochen wurde, was ihm einerseits sehr hilfreich war, andererseits viel zu denken gab. Es gab den tiefen Einblick in die Nöte des Menschen, der sich im Morast der Sünde befindet mit seinen körperlichen Schwächen, dem Lustverlangen sich zu vergnügen, ohne rechtzeitig die Bremse zu ziehen, und sich deshalb verirrt, weil er die Kraft zur Umkehr auf den richtigen Weg nicht findet; es der Mensch ist, der an sich denkt und nicht an den andern, zwar schöne Worte redet, das Wort aber nicht hält und deshalb in seinem Tun rücksichtslos ichbezogen und bedenkenlos böse ist. Luise Agnes bat den Herrn um Vergebung ihrer Sünden und um seine Hand, sie auf den richtigen Weg zu führen, in ihr den Glauben zu stärken, den gestärkten Glauben in den Herzen lebendig werden zu lassen, damit das Böse mit der Rücksichtslosigkeit überwunden und das Gute im Tun begonnen werden kann, dass die Menschen zu essen und zu trinken, ein Dach über dem Kopf haben, wenn es draußen stürmt und friert, dass sie ein Bett und genügend Decken haben, um zu schlafen und nicht zu frieren, dass die Eltern es sich gut überlegen sollen, wenn sie ein Kind in die Welt setzen wollen, in der es lieblos zugeht, ja drunter und drüber geht, dass Kinder, die nun einmal da sind, gute Eltern brauchen, die ihnen die ganze Liebe schenken, dass die Menschheit doch zur Vernunft gebracht werden soll, um Schluss mit den Kriegen, den Vergewaltigungen und der Ausbeutung wehrloser Menschen zu machen, die in ihrer Armut versinken und ersticken. Sie bat den Herrn um den Frieden in den Familien, in den Schulen und Dörfern, im Kohlerevier und in der Gesellschaft als ganzem; „stoß uns Menschen mit all den Sünden nicht von deiner Hand, halt uns fest und führe uns, auch dann, wenn wir widerspenstig sind und so tun, als hätten wir das Wissen, das wir nicht haben, aber zu eitel sind, das Nichtwissen vor dir und den Mitmenschen zu bekennen. Gib uns den Glauben und die Kraft, die uns fehlen, damit die Dinge in Ordnung kommen und die Erde ein freundlicher Platz für die Kinder, Witwen, Waisen und Gebrechlichen wird, damit die Alten sich nicht schämen müssen, wenn sie die Augen schließen.“ Ihr Gebet bewegte sein Herz, dessen Schlichtheit sich dem Format des Großen nahte, aus dem der Glaube kommt, der Zweifel nichtig wird und das Leben in der Fülle von Licht und Hoffnung neu zu schöpfen ist. Ihre Worte des Gebets gaben auch ihm neue Zuversicht und Stärke, lösten seine Zweifel an der Standfestigkeit im Glauben auf; er sah das Licht der Hoffnung mit dem violetten Kranz der tätigen Nächstenliebe vor sich, das machte ihm Mut, im Ringen um die Wahrheit und den Glauben nicht nachzulassen, den Anfechtungen und der Arroganz zu widerstehen.

Neu in diesem Nachtgebet war, dass Luise Agnes das Wort „Familie“ häufiger als sonst gebrauchte. Es gab ihm noch mehr zu denken, als sie dieses Wort auf sich und den neben ihr liegenden Mann bezog und dem Kind einen guten Start wünschte, um dessen Beistand sie den Herrn mit einer Innigkeit bat, die ihn hellhörig machte, weil sich in ihr die Mütterlichkeit entfaltete, sich wie eine Knospe öffnete und geöffnet blieb, als Luise Agnes um den Schutz des mütterlichen Leibes bat, um das Kind in ihr durch eine ungestörte Schwangerschaft zu tragen. In ihm, dem Eckhard Hieronymus, zündete das Licht des Neuen, das Licht der Gründung einer Familie ging in ihm auf. Das konnte er so schnell nicht fassen. Er drückte die Hand seiner jungen Frau und Mutter; er hielt sie fest in seiner Hand, sah nach oben gegen die Decke, als schaute er zum Himmel, und schwieg. Nach dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser hob er seinen Kopf über den ihren und küsste sie auf die Stirn. „Davon hast du mir nichts gesagt, meine liebe Luise“, sagte er im Flüsterton. „Du weißt um meine Scheu, wenn es um die Dinge geht, mit denen sich die Frauen abzufinden haben“, antwortete sie im gleichen Ton. „Ich habe ein Baby von dir, da brauche ich die Kraft, um es durch die Monate hindurch zu tragen, damit es ein gesundes Kind ist. Steh mir bei, du weißt, wie empfindlich junge Mütter sind“, sagte sie sanft, doch mit einer Bestimmtheit, die ihm aus ihrem Munde neu war. Sie legte beide Arme um seinen Hals und küsste seinen Mund.


Die Dorfbrunners

Подняться наверх