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Totensonntag

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Draußen herrschte die trübe Stimmung. Drinnen in den Häusern und noch weiter drinnen in den Herzen der Menschen war die Stimmung nicht besser. Das Wetter war regnerisch und kalt. Den Menschen fröstelte es außen in ihrer dürftigen teils zerlumpten Kleidung und innen durch die Ungewissheiten, die der verlorene Krieg mit seinen hereinbrechenden Folgen über sie wie ein großes Unwetter ausschüttete. Die Menschen kamen sich verraten und verloren vor, das sah man den herben Zügen ihrer Gesichter an. Sie kamen sich so sehr verloren vor, dass sie eigentlich gar nicht mehr sprechen wollten, besonders über die Verlorenheit nicht. Selbst beim Grüßen taten sie sich schwer, vom freundlichen Gruß ganz abgesehen, was Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, wenn er durch die Stadt ging oder von der Wagengasse 7 den direkten Weg zur Kirche nahm, oder von der Kirche auf dem Heimweg war, schmerzlich empfand. „Wie wollen die Menschen nur das Gotteswort aufnehmen, wenn sie die Trauer, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit so plagt, sie so steinhart macht, dass alles an ihnen abprallt, egal, ob es ein freundlicher Gruß, ein Wort des Helfenwollens oder ein Gefühl der Mitmenschlichkeit, der Geste menschlicher Zuneigung war“, dachte er, wenn er grüßte, ohne dass der Gruß erwidert wurde. Solche Verhärtungen waren schädlich; sie waren die denkbar schlechteste Voraussetzung, den verkrämten und in sich zusammengerollten Menschen, die sich aus dem Verband der kleinen städtischen Gesellschaft absonderten, weil sie sich ausgestoßen fühlten, und sich mit Händen und Füßen „verteidigen“, sich nach Kräften der Eingliederung ins Leben der Gemeinschaft widersetzten, mit einer Predigt zu kommen. Jeder fühlte sich auf seine Weise verraten und verkauft; das in Bezug auf die einstigen Ideale für das Vaterland mit der Opferbereitschaft und auch auf die gebrachten Opfer mit der Weggabe der Wertsachen, die zum Teil Erbstücke waren. Die große Armut trug zur großen Lähmung beträchtlich bei. Den kinderreichen Familien fehlte das Geld für Nahrung und Heizmaterial in dieser kalten Jahreszeit. Die Folgen waren verheerend. Der Anblick der abgemagerten Kinder in ihrer zerlumpten Kleidung mit dem zerrissenen Schuhwerk, wenn sie ein solches Werk überhaupt trugen, war herzzerreißend. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Verfinsterung war die aufkommende Straßenprostitution, die, das musste zur weiteren Schande beklagt werden, vor den Kindern nicht halt machte, ein Fleck des moralischen Niedergangs. Diese Art der Geldbeschaffung war in der Armutsabwehr oder Armutslinderung nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie hatte die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaften zur Folge, die sich für die Mädchen besonders nachteilig und schmerzhaft auswirkten, die zu familiären Zerrüttungen und insgesamt zum Niedergang einer bislang mehr oder weniger geordneten Gesellschaft führten.

Der Regen wurde stärker, das Wetter trüber, als die Glocke der Elisabethkirche läutete. Diese Glocke war die kleinste von drei Glocken; deren größere und tiefer tönenden Schwestern aus dem gemeinsamen Glockenstuhl im zweiten Kriegsjahr ausgehängt, abtransportiert und eingeschmolzen wurden, um als Eisen nicht dem Herrn und seiner Gemeinde, sondern zur Herstellung von Kanonenrohren zu dienen. Dieser Wechsel in der Glockenfunktion kam auf höchste weltliche Anordnung, der sich die Gemeinde und Kirchenoberen, der Konsistorialrat sei da eingeschlossen, durch Bittbriefe und andere friedliche Vorstellungen nicht widersetzen konnten. Die Frage, die sich viele Menschen stellten, ob sich die Kirchenoberen wirklich um den friedlichen Glockenerhalt bemüht hatten, blieb ein versiegeltes Geheimnis.

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seine junge Frau, Luise Agnes Dorfbrunner, hatten sich bereits vor dem hohen, hohltönernen Bimmelgeläut auf den Weg gemacht, hatten schon vor diesem Sonntagsgeläut die Kirche betreten. Luise Agnes nahm in der zweiten Bankreihe Platz und führte ein langes Gebet im Stehen, in dem sie den Herrn um Vergebung der Sünden und um seine Erleuchtung und Führung bat, ihrem Mann die Kraft eines Apostels zu geben und ihm bei der Predigt die Zunge zu führen. Eckhard Hieronymus hatte sich in der Sakristei den Mantel aus- und den Talar übergezogen, an dem der Küster, ein hagerer Mann der sechziger Jahre mit grauem Haar und vielen Falten im Gesicht, die Halskrause zurechtrückte. Herr Krause war ein aufmerksamer, freundlicher Herr, der dem jungen Pfarrer als Neuling alles Gute zu seinem Einstand wünschte. Er sagte, dass er eine starke Predigt erwarte, denn die Menschen seien durch den verlorenen Krieg alle aus dem Gleichgewicht geraten; sie seien sprachlos und überempfindlich, gerieten aus dem Häuschen, wenn man sie um etwas frage. „Ich werde mich bemühen“, sagte Eckhard Hieronymus zum Küster, „und hoffe, dass mir der Herr den Rücken stärkt und die Zunge lockert.“ Darauf meinte Herr Krause, dass der Herr das schon tun werde, wenn er darum gebeten wird. Das dünne Einglockengeläut war nach einigen unregelmäßigen Nachschlägen, die sich fehl platzierten und dem vorangegangenen Geläut zu widersprechen schienen, zur Ruhe gekommen, war so verstummt, wie es viele Menschen waren, die die Sprache durch die jüngsten Ereignisse verloren hatten. Herr Krause ging kurz hinter den Altar, um sich einen Überblick im Kirchenschiff zu verschaffen. Er kam zurück und sagte, dass die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt sei. Auch der Herr Konsistorialrat sei mit Frau und Tochter erschienen und sitze in der ersten Reihe neben dem Oberstudiendirektor Dr. Hauff des vom Stein’schen Gymnasiums, dem Gutsherrn von Falkenhausen und einigen Sponsoren aus dem Minenkonsortium. Die Tür zur Sakristei stand halb geöffnet, so dass die Stimmung aus dem Kirchenraum gut zu verfolgen war. Es trat Ruhe ein, die nur durch Hustenattacken durchbrochen wurde. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner fragte Herrn Krause, der an der Tür mit Blick in das Kirchenschiff stand, ob er den Kollegen Altmann, den Inhaber der ersten Pfarrstelle gesehen habe. „Der liegt mit einer fiebrigen Grippe im Bett und lässt sich entschuldigen.“ Nachdem sich die Hustenanfälle weitgehend beruhigt hatten, schritt der Küster neben den Altar und blickte zur Empore hoch. Nach einer leichten Nickbewegung begann die Orgel zu rauschen. Der Organist drückte energisch in die Tasten und Pedale, gab ein kurzes, kurvenreiches Vorspiel, das zur Intonation des ersten Liedes, einem Reformationslied, führte. Die Gemeinde sang; fünf Strophen waren ihr zum Singen aufgegeben.

Mit Beginn der dritten Strophe öffnete Herr Krause die Tür zur Sakristei bis hintenhin. Das war das Zeichen für den neuen Pfarrer, den Kirchenraum zu betreten. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, 31 Jahre alt, betrat den großen Raum, nicht ohne Nervosität. Er schritt die beiden Stufen hoch zum Altar, blieb mit dem Rücken zur Gemeinde schlank und gerade vor dem Altar stehen und blickte aufschauend zum Kreuz, dem Zentrum des Glaubens und Wirkens. Da stand er tadellos, fast soldatisch. Es bewegte sich nichts an ihm. Die Gemeinde war in der Mitte der fünften Strophe, als er in lutherischer Weise das Kreuzzeichen mit sparsamer Handbewegung auf seine Brust schlug, sich umdrehte und den ersten offiziellen Blick in die Gemeinde nahm. Er tat es in einer sympathisch bescheidenen Weise, die der Gemeinde zusagte, ihr jedes Vorurteil einer Überheblichkeit augenblicklich wegnahm, es grundlos verfließen ließ. Nun stand Eckhard Hieronymus Dorfbrunner mit dem Gesicht zu den Menschen. Es lag eine feine, nervöse Spannung auf seinem Gesicht, die gepaart war mit der Blässe der Erregung, wenn etwas Neues ins Leben trat, das Zeit brauchte, um sich daran zu gewöhnen. Er selbst betrachtete die Gemeinde als ein Gesicht, ohne die Einzelgesichter zur Kenntnis nehmen zu können. Das wollte er auch nicht, dafür stand mit dem Wort des Apostels und dem, wie er das Apostelwort auslegen wird, zuviel auf dem Spiel. Eckhard Hieronymus stand, er stand wie eine Eins; da wackelte und zitterte nichts; sein gerader Blick ging in Richtung Hauptportal. „Großartig!“, dachte Luise Agnes, die in der zweiten Reihe hinter dem Konsistorialrat, seiner Frau und seiner Tochter sowie den anderen Herren der gehobenen Bedeutung mit ihren Frauen und Kindern saß. Sie bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu sitzen. „Herr, gib ihm die Kraft, dass er so gerade auf der Kanzel steht, wie er jetzt vor der Gemeinde steht. Lass ihn nicht stürzen, weder mit den Beinen noch mit den Worten“; das betete sie lautlos in ihrem Herzen. Die sonore dorfbrunnersche Stimme füllte die Kirche, schlug gegen Fenster und Wände und hallte zurück; sie drang zur Empore hoch, als Eckhard Hieronymus die Ankündigungen für die Woche, die letzte im alten Kirchenjahr, verlas. Die Stimme allein hatte schon etwas Gewaltiges. Wie wunderbar wäre es, wenn dieser kräftigen Stimme die innere Wortgewalt in der Predigt hinzukäme, sinnierte Luise Agnes mit dem Blick in ihr Gesangbuch. Nach dem nächsten Lied, dessen Text Paul Gerhardt abgefasst hatte, kam es zur Verlesung des 6. Psalms, dem Bußgebet Davids: „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken, und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange! Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen! Denn im Tode gedenkt man dein nicht; wer will dir bei den Toten danken?“ Im anschließenden Gebet, zu dem sich die Gemeinde von den Plätzen erhob, wurde der Toten des Krieges gedacht, die ihr Leben für eine Sache hergaben, von der sie glaubten, dass es eine gute und gerechte Sache war. Den Menschen wurden die größten Opfer abverlangt, und sie haben die Opfer gebracht. Nun stehen sie vor dem Scherbenhaufen, dem niedergekämpften deutschen Vaterland. Die Menschen sind erschöpft, sie sind sprach- und fassungslos; sie fürchten sich vor der Zukunft und sind mehr, als jemals zuvor, auf die Hilfe des Herrn angewiesen. „Herr, sieh die Tränen in unseren Augen und die Trauer in unseren Herzen. Wir haben das höchste Gut, unsere Männer, Väter und Söhne verloren und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Mit den Toten in unseren Herzen und den entsetzlich Zugerichteten vor unseren Augen bleibt uns nun das Weinen. Herr, nimm uns die Tränen ab. Sieh das Tränenmeer, das wir geweint haben, in dem wir ertrinken werden, wenn du uns nicht rettest. Wir sind schwach und wissen, dass wir es aus eigener Kraft nicht schaffen, die Bürde des Verlorenen, der Ungewissheit, der Einsamkeit und der Armut zu tragen. So knien wir vor dir in tiefer Demut und Verzweiflung. Schau auf uns herab, gib uns deine Hand und richte uns auf. Tu es um deiner Güte willen. Amen!“ Dann wurde das Glaubensbekenntnis in der lutherschen Fassung gesprochen. Danach setzte sich die Gemeinde auf die Bänke zurück und sang nach einem kurzen Orgelvorspiel das nächste Lied, wobei sich der Organist den Freiheiten tonaler Kurzschnörkel und langgezogener Höhentriller über der tonabwärtsgehenden Basslinie nicht entzog, die immer brummender wurde, je tiefer es mit den Frequenzen in den Keller ging.

Nun stand Eckhard Hieronymus Dorfbrunner auf der Kanzel. Die schmale Wendeltreppe hatte er mit leicht gesenktem Kopf, den Blick zu den Stufen und der kleinen Handbibel in der rechten Hand mit Anstand und Würde genommen, ohne dabei wichtigtuerisch oder anderswie schwer zu wirken. Im Gegenteil, er wirkte körperlich leicht und im Schritt elastisch. Das dorfbrunnersche Gesicht mit den leicht ausgebuchteten Wangenknochen, dem typischen Gesichtsmerkmal der Sorben in der Oberlausitz, schaute von einem langen, hageren Körper mit einem schmalen Hals über den leicht abfallenden Schultern, die in ihrer geringen Breite, die durchaus in der Normbreite lag, einem Intellektuellen und nicht dem Handarbeiter oder Brunnenbauer vom Schlage der alten Dorfbrunners entsprach. Er sah in die Bibel vor sich auf dem kleinen Lesepult, blickte auf, blickte über die Gemeinde und las die 13 Verse aus dem 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Er las ohne Übertreibung und unnötige Akzente zu setzen, wobei die Stimme kräftig und fest war. Die Aussprache war klar und deutlich. Nach der Lesung und einer weniger als halben Schweigeminute der Besinnung, begann er mit der Auslegung des Textes, den persönlichen Worten, an denen er in den vergangenen Tagen mit gtoßer Hingabe gearbeitet hatte:

Liebe Brüder und Schwestern!

Wer war der Apostel Paulus, der zu den Korinthern in so scharfer Weise sprach? Wer waren die Korinther, die sich so etwas sagen ließen? Lassen sie mich mit der zweiten Frage beginnen. Die Korinther waren Kaufleute, die mit ihren Schiffen Handel trieben, der weit in die Ägäis bis nach Kleinasien und über das Ionische Meer bis nach Süditalien, Sizilien und dem heutigen Tunesien reichte. Sie handelten mit Kaffee, Tee, Gewürzen, Tabak, Quarz- und Edelsteinen, mit Teppichen und Tüchern aus Kleinasien, mit Kupfer, Gold, Elfenbein und Edelhölzern, mit Krokodil- und Leopardenfellen, mit Diamanten und dem Papyrus aus Afrika, mit gewirktem Schmuck und handwerklichen Gegenständen vom Peloponnes, mit schmiedeeisernen Stangen, Kugeln, Rädern, Pflugscharen, Messern und Schwertern von Sizilien, mit der roten Tonerde, dem geschliffenen Marmor und mit Tüchern aus Italien. Sie machten es den Karthagern nach. Was war die Folge? Die Korinther häuften einen bis dahin unvorstellbaren Reichtum. Für die schwere Arbeit hielten sie sich Leibeigene, die sie vom Peloponnes oder Sizilien heranschafften. Zudem beschafften sie sich Sklaven aus Kleinasien und Afrika, die wie eine gewöhnliche Handelsware gegen eine andere bezahlt, beziehungsweise getauscht wurden. So gab es in Korinth neben dem blendenden Reichtum eine bittere Armut der vielen Menschen, die rechtlos waren und nach Strich und Faden ausgebeutet wurden. Die Menschen, weil sie völlig mittellos waren, sie hatten weder Schuhe an den Füßen noch ein Hemd am Körper, wurden genommen, gebraucht, verschlissen und verstoßen, so wie es der Obrigkeit gerade passte. Die Schere zwischen Armut und Reichtum klaffte unsäglich weit. Es war die Armut der Entrechteten, die zum Himmel schrie, während die Wohlhabenden sich im Reichtum und im Luxus wälzten. Das waren die Korinther.

Nun zur ersten Frage: wer war der Apostel Paulus? Er war ein Mann mit offenen Augen, dem der Reichtum der einen und das zum Himmel schreiende Elend der andern nicht entging. Er hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, das ihm schon in die Wiege gelegt worden war. Nach der Erscheinung des Herrn auf dem Wege nach Damaskus, als ihm der Herr so hell erschien, dass sein Auge für Tage geblendet war, nahm sein turbulentes Leben eine Wendung um einhundertachtzig Grad. Paulus gab sein Leben und Wirken ganz dem Herrn hin. Er predigte sein Wort, wo er auch war, mit einer Macht, die es so zuvor nicht gegeben hat. Er bezeichnete sich als den Knecht des Herrn und war ein unerschrockener, unbeugsamer Kämpfer für die Sache des Glaubens. So trat er den Korinthern gegenüber, denen er wegen ihres sündigen Verhaltens mit der lieblosen Überheblichkeit, der Ichbezogenheit und Raffgier nach Geld und Reichtum erst einmal die Leviten las. Das tat er im Hinblick auf die Botschaft des Herrn, für die er den Boden bereiten, die Köpfe und Herzen der Korinther entschlacken und säubern musste. Paulus hielt diesen Menschen, die nach Wohlstand und weltlicher Macht in rücksichtloser Gier strebten, den Spiegel vors Gesicht, hielt ihnen die Vernachlässigung in der Fürsorge um die Kinder, Schwachen und Waisen vor, zeigte mit dem Finger auf ihre versteinerten Herzen, rüttelte am Bretterwerk der verkommenen Sitten mit dem Verlust der Tugend und der Ideale, stellte den Fuß bis an den Sumpf ihrer Schlechtigkeiten heran, schlug mit dem Stock der Worte hart darauf, dass der Schmutz in ihre Gesichter und auf die weißen Gewänder spritzte. Nein, Paulus nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er die Ausschweifungen und Irrungen brandmarkte, wenn er auf das Lügen und Betrügen, auf das Verdrängen und Vergessenwollen der bösen Taten zu sprechen kam; da ließ er nicht mit sich reden oder spaßen, weil ihm die Kinder und Armen am Herzen lagen, denen die Unschuld und das Recht auf ein Leben in Anstand und Würde nicht durch die gewissenlose Ausbeutung, durch andere Schweinereien und Machenschaften genommen werden durfte. Paulus sah den Menschen in die Gesichter, sah ihnen die Scheinheiligkeit, die vorgetäuschte Leutseligkeit und verlogene Unbekümmertheit an. Es waren oft die gut gekleideten Herren, die Menschen aus den besseren Kreisen, denen es an Essen und Trinken nicht fehlte; das sah er ihnen an. Ihren Sprüchen trat der Apostel mit erhobener Hand entgegen und ermahnte sie ernsthaft, endlich von den Lügen abzulassen und zur Wahrheit zurückzukehren, auch wenn der Weg zur Wahrheit mit spitzen Steinen, Scherben, Stacheldraht und anderen Hindernissen ausgelegt ist. Es war schon damals so, dass es Menschen gab, die sich im vorgehaltenen Spiegel nicht erkennen oder wiedererkennen wollten. Einige der Gespiegelten drückten das eine oder das andere Auge zu, oder stellten sich auf beiden Augen blind. Da platzte dem Apostel Paulus der Kragen und half mit Worten nach, die messerscharf waren und den Heuchlern, den scheinheiligen Täuschern und den anderen unbekümmerten Falschgesichtern ins verdorbene Fleisch schnitten.

In dieser Weise, der stets die Beispiele der Taten, das Wort ‘Untat’ ist doch nicht eindeutig genug, vorangestellt wurden, tat es der Apostel Paulus mit den Menschen in Korinth. Da gab es viele wohlhabende Menschen, dass es nicht in den Kopf der Güte ging, wenn bei all dem Reichtum, der sich da durch den Handel angehäuft hatte, es Menschen und vor allem Kinder gab, die in jämmerlichen Hütten oder hinter Brettern lebten, die sich in ihrem Leben nicht satt essen konnten, sich zu Tode hungerten, denen die Armut das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerriss, ja vom Leibe gerissen wurde, die, weil sie bettelarm waren, von denen, die genug zum Leben hatten, verachtet, geschlagen und verstoßen wurden. Was waren das für Menschen in Korinth? Diese Frage lässt sich mit voller Berechtigung auch in unserer Zeit stellen. Denn auch bei uns klafft die Schere zwischen Armut und Reichtum auf eine unerträgliche Weise. Die Not der Menschen geht soweit, dass Kinder nicht mehr regelmäßig zu essen bekommen, manchmal den ganzen Tag über hungern, dass Frauen und Mädchen ihren Körper gegen Bezahlung hergeben, um die Familien zu ernähren. Die Gesellschaft ist in Unordnung geraten, wofür der Krieg und sein katastrophales Resultat sicherlich mitgewirkt haben, aber nicht allein für den moralischen Verfall verantwortlich zu machen sind. Die Ideale sind verschlissen; ja die Opfer waren groß, unbeschreiblich groß. Nun müssen wir zur Tugend der Rechtschaffenheit zurückkehren, wenn es weitergehen soll, ohne dass zuvor die Gesellschaft völlig auseinanderbricht, die Familien in der Haltlosigkeit ganz zerfallen. Uns fehlt das Wissen der Erkenntnis. Hätten wir das Wissen, dann könnten wir der Zeit vorausblicken, könnten in die Zukunft blicken. Weil wir das nicht können, sind wir unsicher und halten uns an den äußeren Dingen fest. Wir streben nach dem äußeren Reichtum, weil wir den inneren Reichtum mit der Wahrheit und der Nächstenliebe, der viel umfassender als der äußere Reichtum ist, nicht erkennen. Wir wissen im Grunde genommen nichts. Dazu machen wir den Fehler in der Annahme, dass der äußere Reichtum ausreicht, um die Sicherheit zum Leben zu geben. Da stellt sich die Frage, was wir unter Leben verstehen, das in seiner biologischen Form und Ausgestaltung für den Einzelnen vergänglich und damit zeitlich begrenzt ist.

Liebe Brüder und Schwestern! Die Zeit, in der wir stehen, lehrt uns, dass ein Leben in der äußeren Ausgestaltung sehr kurz sein kann. Große Hoffnungen blieben unerfüllt, weil ihre Träger sie nicht weiter trugen, nicht bis zu Ende, bis zur Erfüllung trugen, weil den Trägern durch ein Unglück der Herzschlag davonjagte und schließlich, doch unwiderruflich, zum Stillstand kam. Es ist daher wichtig, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden und sich für den rechten Weg zu entscheiden, solange noch Zeit zur Entscheidung ist. Der Apostel Paulus spricht von der Liebe, der Nächstenliebe und der Christusliebe, wenn er sagt, dass es die Liebe ist, die aufbaut, während das Wissen aufbläst; eine Blase also, eine Kopf- oder Gelehrtenblase, die das Risiko des Platzens in sich hat, je praller die Blase wird, wo dann, wenn sie platzt, die Luft mit dem Wissen entweicht und nichts Greifbares zurückbleibt. Paulus formuliert es schärfer, wenn er sagt, dass der, der meint etwas zu wissen, nicht weiß, was er erkennen soll. Erst mit der Liebe zum Herrn kommt die Erkenntnis und mit ihr das wahre Wissen, das keine Kopfblase mehr ist, das verlässlich ist, mit dem man bauen und aufbauen kann. Paulus baut am Bekenntnis wie an einem großen Monument. Er beschwört die Menschen, dass es nur den einen Gott gibt, dem man mit dem Götzenopfer nicht kommen kann. Mögen sich Menschen wie Götter tragen, sich vergöttern lassen; sie bleiben Menschen mit all ihren Fehlern und Schwächen, von denen die größte Schwäche die Selbstüberhebung mit dem Hochmut ist. Der Apostel schreitet um das Monument, geht durch das Universum seines Glaubens, hebt mahnend die Hand und ruft uns zu, dass wir den einen Gott haben, den Vater, von dem alle Dinge sind und kommen, so auch unser Herr Jesus Christus, der den Kreuzestod auf sich nahm, um die Menschheit zu retten. Gibt es einen unter uns, der die Tragweite der Entscheidung, den Kreuzestod für die Menschen auf sich zu nehmen, und die Größe der Tat mit dem Leiden und Sterben ermessen kann? Mit dem Kopf kann ich es nicht und mit dem Herzen nur im Glauben an den einen Gott, der alles erschuf und den Menschen nicht fallen lässt, weil er ihn liebt. Ist das nicht Grund genug, unsere Herzen zu öffnen und ihn, dem Vater, mit unserer Liebe zu versichern? Die Erkenntnis um die eine große Wahrheit lässt sich mit dem Verstand weder erringen noch leugnen. Das Wissen babbelt, bläht und sprudelt da nur herum. Die Erkenntnis muss dem Menschen geschenkt werden, und sie wird ihm geschenkt, wenn er im Herzen einfach und sauber und im Glauben fest und unbeugsam ist, so wie es der Apostel Paulus uns vorgelebt und vorgelitten hat. Er drückt es so aus, dass wir schwach sind, solange wir am Götzenopfer festhalten, weil solange unsere Seele von der Sünde befleckt ist, was eben vom Dienst am Mammon mit dem falschen Opfer kommt. Wenn wir uns bessern wollen, dann müssen wir uns von den Übeln des Mammons befreien, müssen zur Demut und zum Bekenntnis unseres Glaubens zurückkehren und das in Wort und Tat. Wir müssen den Geist des einander Helfenwollens in uns spürbar machen und die Gegenseitigkeit der Hilfe zu neuem Leben erwecken. Paulus warnt vor der Überheblichkeit mit dem Wissen, durch das der Schwache ins Verderben kommt, der unser Bruder und unsere Schwester ist, um derentwillen Jesus Christus gestorben ist. Vom hohen Ross der Überheblichkeit sind die meisten runtergestiegen, dafür haben die Ereignisse des Krieges gesorgt; doch einige sitzen noch da oben, das sind die Unbelehrbaren mit dem Götzenopfer, die auf ihre Weise, die rücksichtslos und anachronistisch ist, meinen, besser durchs Leben zu kommen. Wir müssen unsere Hände zum Helfen freihalten und dem entgegenstrecken, der mit dem Leben ringt. Wir müssen wieder lernen, aufeinander zuzugehen und den andern so zu achten wie sich selbst. Um das zu tun, müssen wir uns aus den Ketten der Ichbezogenheit befreien. Es muss wieder das Du geben, wenn die Dinge in unseren Familien und der Gesellschaft in Ordnung kommen sollen. Denn nur durch das Du kann sich das Ich aus den Ketten der Ichbezogenheit befreien, sich läutern, bessern und auf einer moralisch-ethisch höheren Ebene zu sich finden. Mit dem Du im Zentrum des Denkens, Fühlens und Handelns wächst aus dem schwachen das starke Ich heraus, das in der Du-Bezogenheit auch das Wissen hat, die Dinge richtig zu erkennen und durch das bessere Tun richtigzustellen.

Liebe Brüder und Schwestern! Im 11. Vers des 8. Kapitels berührt der Korintherbrief ganz unmittelbar unsere Ängste, Befürchtungen und Sorgen, wenn Paulus vom Bruder spricht, der durch falsches Wissen ins Verderben stürzt, um dessen Willen Jesus Christus den Kreuzestod auf sich genommen hat. Unsere Gedanken gehen zu unseren Brüdern, Vätern und Söhnen, die mit großen Idealen für das Vaterland kämpften. Das Wissen der Obrigkeit stimmte mit der Erkenntnis, um die es Paulus im Korintherbrief geht, nicht überein. Nun haben wir die Folgen zu tragen, die schwer sein werden. Nur der Herr in seiner Güte kann uns die Kraft zum Tragen dieser Folgen geben. Wir kehren zur Demut zurück und bitten den Herrn um seine Gnade. Amen!

Es herrschte eine betroffene Stille, als Eckhard Hieronymus Dorfbrunner die kleine Handbibel zuklappte, sich auf der Kanzel drehte und mit der Bibel in der rechten Hand die schmale Wendeltreppe herabstieg, wobei er den Talar vorne mit der linken Hand anhob, um die Absätze der Stufen zu sehen. Die Orgel intonierte mit einem kräftigen Bass das Lutherlied von der festen Burg, dessen Strophen die Gemeinde stehend mit einer wiedererlangten Inbrunst sang. Im abschließenden Gebet gedachte Eckhard Hieronymus der Toten des Krieges, auf beiden Seiten der Front, weil Jesus Christus nicht nur für die Toten auf deutscher Seite gestorben war. Er gedachte auch der Toten, die eines natürlichen Todes gestorben war. Alle ihre Seelen befahl er der Gnade und Liebe des einen Gottes an, von dem in der Predigt die Rede war. Dann gedachte er der Hinterbliebenen, der Waisen und der Witwen, der Ratlosen und der Verzweifelten, die den Schutz, den Trost und die Führung des Herrn in seiner maßlosen Güte dringend brauchten. „Möge uns der Herr trösten und aus dem Tal des Elends und der Verzweiflung herausführen; möge er in seiner großen Güte und Barmherzigkeit uns in dieser Not beistehen und uns in ihrer Bewältigung seinen Segen geben. Amen!“

Nach dem gemeinsam gesprochenen ‚Vaterunser‘ und dem Segensspruch über die Gemeinde, zu dem die verbliebene kleine Glocke, weil in zu hoher Tonlage, eher beiläufig belanglos als wichtig und kraftvoll läutete, brauste die Orgel auf. Der Organist, ein älterer Herr mit grauem Haarkranz, hatte wohl sämtliche Register gezogen, als unter dem dröhnenden Fortissimo der Posaunen, dass die Trommelfelle zu platzen drohten, die Fenster klapperten und die Wände zitterten, die Gemeinde einstimmte und die letzten beiden Strophen des Lutherliedes sang; womit der Gottesdienst sein Ende nahm. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner trat die beiden Stufen vor dem Altar herab und ging zum Westportal, um die Menschen, die sich von den Bänken erhoben und dem Ausgang zugingen, beim Verlassen der Kirche durch ein freundliches Kopfnicken zu begrüßen, ihnen die Segenswünsche und das, was Paulus im 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes von der Erkenntnis und der Liebe, die aufbaut, gesagt hatte, mit auf den Weg zu geben. Die Menschen mit ihren blassen Gesichtern, in denen bei den Älteren die Sorgenfalten hinzukamen, und bei den ganz Alten mit den Magergesichtern und den nach vorn gekrümmten Rücken, sie alle grüßten freundlich zurück. Einige gaben dem jungen Pfarrer die Hand, einige mit zitternder Hand, nachdem sie den Stock von der rechten in die linke Hand gewechselt hatten. Sie dankten für die Predigt, die ihren Eindruck nicht verfehlte, so die einen, die kraftvoll, so die anderen, oder nachdenkenswert war, so die noch anderen. Der junge Pfarrer dankte für die freundlichen Worte, die er wohl verstand, dass sie nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus den Herzen kamen, wofür er besonders dankbar war. Eine Frau von schneeweißem Haar, die von ihrer Schwiegertochter am Arm geführt wurde, wischte sich bei der Begrüßung mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Sie sagte, dass ihr Sohn gefallen sei und ihre Schwiegertochter als Witwe mit vier kleinen Kindern zurücklasse, die jetzt keinen Vater mehr haben. Das ging dem Pfarrer sehr nah, der darauf so schnell nichts zu sagen wusste. Als er dann doch was sagen wollte, war die alte Frau mit ihrer Schwiegertochter bereits die Stufen vor dem Portal herabgestiegen. Ein Mann im mittleren Alter, der eine Kappe vor dem rechten Augen trug, drückte die Hand des Pfarrers und dankte ihm für die aufrichtigen Worte, als er darauf hinwies, dass das Wissen der Obrigkeit mit der Erkenntnis, wie sie Paulus auslegt, nicht übereinstimmte. „Herr Pfarrer, ich beglückwünsche Sie zu ihrem Mut, das so offen zu sagen; dabei haben Sie so recht. Vielen Dank! Machen Sie weiter so!“ Die Kirche hatte sich geleert. Herr Krause hatte die Sammelbeutel vor dem Ausgang bereits zur Sakristei mitgenommen, wohin nun auch Eckhard Hieronymus Dorfbrunner ging. Dort hatten sich der Konsistorialrat Braunfelder mit Frau und Tochter, der Oberstudiendirektor Dr. Hauff mit Frau, der Gutsherr von Falkenhausen und drei Herren vom Minenkonsortium eingefunden, um den neuen Pfarrer zu begrüßen. Küster Krause strahlte dem eintretenden Eckhard Hieronymus mit den Worten „Das haben Sie gut gemacht!“, ins Gesicht und gab ihm einen väterlichen Klaps auf die linke Schulter. Der Konsistorialrat, der einen schwarzen Anzug mit weißem Stehkragen und schwarzer Weste trug, über der das metallene Kreuz mit dem Gekreuzigten hing, wie es die Superintendenten zu tragen pflegten, vermied eine erste Stellungnahme zur Predigt. Mit dem offiziellen Gesicht eines Geistlichen der höheren Stufe stellte er den Neuling den Herren vom Konsistorium vor, die ihm freundlich die Hand gaben, aber so, wie sie waren in ihren schwarzen Anzügen mit den schwarzen Schlipsen, kein Wort verlauten ließen, wie sie die Predigt aufgenommen hatten. Nur Frau Dr. Hauff, die sich, weil es gang und gäbe war, in der Anrede den akademischen Titel ihres Mannes gefallen ließ, meinte nach einer fast herzlichen Begrüßung, dass ihr die Predigt gut gefallen habe. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner verstand die wohlmeinende Absicht, da sich die Herren einer persönlichen Meinung enthielten, was er als schade, vielleicht sogar als peinlich empfand. Ihr Mann, der den Titel durch eine, wahrscheinlich philologische Dissertation erworben hatte, hörte die Worte seiner Frau, drehte sich vom Konsistorialrat ab und dem jungen Pfarrer zu, wollte als Oberschulmeister offensichtlich seiner Frau nicht nachstehen, und sagte mit einem Gesicht, dem die verfehlte Leutseligkeit nicht abzuleugnen war, dass er für seine Jungfernpredigt einen Text gewählt habe, der ihm, das wurde ihm rasch klar, aufs Herz geschrieben war. „Das ist sehr freundlich von ihnen“, wollte Eckhard Hieronymus das faule Kompliment abwehren, was ihm nur teilweise und deshalb gelang, weil nun der Oberstudiendirektor in einen Monolog verfiel, der das Wissen eines Schulmeisters im Hochformat zum Ausdruck brachte, von dem der Apostel Paulus doch sagte, und der Herr Direktor müsste es gehört haben, dass das Wissen auf- und abblasbar ist, und das mit dem Menschen tut, der sich dieses Wissens bedient und sich damit hervortut. Jedenfalls ließ sich Herr Dr. Hauff nicht bremsen, der auch dann die Notbremse nicht zog, als er geschichtliche Bekanntheiten aus dem Leben des Apostels von sich gab. „Das wissen sie sicher“, setzte der Direktor schulmeisterlich an, „dass Paulus als Sohn jüdischer Eltern zum Stamme Benjamin gehörte und gleichzeitig römischer Bürger war, dass er an der Ermordung des heiligen Stephanus beteiligt war und erst auf seinem Wege nach Damaskus durch die Erscheinung des auferstandenen Christus zum christlichen Glauben bekehrt wurde.“ „Ja, das weiß ich“, bemerkte Eckhard Hieronymus. „Wissen sie auch, dass es Lukas war, der den Namenswechsel vom Saulus zum Paulus vermerkte, dass Paulus im Jahre 58 n.Chr. in Jerusalem festgenommen, bis 60 in Cäsarea gefangengehalten und dann vom Prokurator Festus nach Rom gebracht wurde?“ „Paulus wurde nach Rom gebracht“, fügte Eckhard Hieronymus hinzu, „weil sich Paulus als römischer Bürger für den Prozess, der ihm gemacht werden sollte, auf den Kaiser und das Corpus Iuris Romanum berief.“

„Was sagen sie da?, unterbrach der Konsistorialrat, der sich von den Herren vom Minenkonsortium abgewandt und sich neben den Herrn Oberstudiendirektor gestellt hatte. Eckhard Hieronymus wiederholte seinen Satz, den Konsistorialrat Braunfelder so nicht gelten lassen wollte. „Hat es denn einen Prozess gegeben?“, fragte er. „Aber Herr Rat“, fuhr nun der Oberstudiendirektor dazwischen, als hätte er einen Studienrat vor sich, den es zu belehren galt, „natürlich wurde ihm ein Prozess gemacht, dessen Verfahren allerdings wegen Mangels an Beweisen eingestellt wurde. Das war in den Jahren 61 bis 63. Das Martyrium der Enthauptung erlitt Paulus erst im Jahre 67 nach erneuter Gefangenschaft in Rom.“ Der Konsistorialrat bekam einen roten Kopf und strich über das metallene Brustkreuz, offenbar um sich nach der kleinen Bildungsblöße innerlich zu fangen. Die letzte Frage war, ob Paulus, der um das Jahr 10 n. Chr. In Tarsus geboren wurde, den irdischen Jesus gekannt habe. Da gingen die Meinungen auseinander; der Oberstudiendirektor zuckte mit den Achseln, und der Konsistorialrat tat sich schwer mit seinem ‘Ja’. Eckhard Hieronymus bemerkte zu Paulus, weil ihm das wichtiger war als die geschichtlichen Daten, dass er ein leidenschaftlicher Mensch mit einem Feuerkopf war, der sich dem Ideal des Glaubens ganz hingegeben hatte. Für ihn war Gott alles, dem er mit absoluter Ergebenheit diente. Arbeit, Mühsal, Leiden, Entbehrungen und Todesgefahren begleiteten ihn durchs ganze Leben. Er war ein unbeugsamer und unerschrockener Kämpfer seines Herrn Jesus Christus. Das Ereignis von Damaskus machte ihm die Einzigartigkeit der Erwählung als Apostel bewusst und verlieh Paulus ein gewaltiges Sendungsbewusstsein. Seine Erfolge in der Mission schreibt er allein der göttlichen Gnade zu.

Nun stellten sich die Herren vom Minenkonsortium dazu. Herr von Falkenhausen, der Gutsherr, der als letzter hinzukam, wollte etwas über den Bildungsgrad des Apostels wissen. Da sagte der Oberstudiendirektor, dass Paulus als Semit die griechische Bildung besaß, die er schon als Kind in Tarsus erhielt, die er durch die Berührung mit der griechischen, wie auch der römischen Welt ständig bereicherte. Dieser Einfluss kommt in seiner Sprache und in seinem Stil zum Ausdruck. „Paulus muss die griechische Philosophie um die Weltvernunft gekannt haben mit der Vorstellung vom Aufbruch der menschlichen Seele zur göttlichen Welt“, sagte Herr von Falkenhausen. „Wie meinen sie das?“, fragte der Konsistorialrat. „Sie werden es im 2. Korintherbrief lesen“, antwortete Herr von Falkenhausen, „ich glaube, es ist im 5. Kapitel, wenn Paulus sagt: solange wir im Leibe wohnen, wallen wir ferne vom Herrn, denn im Leibe wandeln wir im Glauben und nicht im Schauen.“ „Das ist ja interessant“, meinte Dr. Hauff; worauf Eckhard Hieronymus aus dem 8. Vers zitierte: „Wir sind getrost und haben Lust, außer dem Leibe zu wandeln und daheim bei dem Herrn zu sein.“ „Großartig, Pfarrer Dorfbrunner, Sie kennen sich ja in der Bibel aus!“, gratulierte ihm der Oberstudiendirektor. Bei dem kurzen Exkurs fühlte sich der Konsistorialrat nicht wohl; er bekam wieder einen roten Kopf und bemühte sich, aus der Zuhörerposition herauszukommen. Eckhard Hieronymus war das Kompliment, auch wenn es gut gemeint sein sollte, im Beisein des Konsistorialrates peinlich, über dessen dürftigen Beitrag, der sich lediglich auf zwei Fragen beschränkte, wunderte; war doch er es, der für die Einstandspredigt den Text des 8. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief vorgeschlagen, ja lehrmeisterlich aufgegeben und hinzugefügt hatte, dass in der Auslegung dieses Textes schon große Prediger ihre Spuren hinterlassen hätten. Er, der Konsistorialrat, wolle das Sendungstalent und die Sprache der Predigt des jungen Pfarrers an diesem Text messen; so hatte er sich doch in einem Redefluss, der nicht aufzuhalten war, ausgedrückt. Warum konnte der Rat nun, als aus dem Leben des Apostels und dem 2. Korintherbrief die Rede war, keinen bedeutenden Beitrag liefern? Auf diese Frage hatte Eckhard Hieronymus keine Antwort, um die zu bekommen, über ein Jahr verstreichen sollte. Andererseits erstaunte der Gutsherr von Falkenhausen, der Paulus die Kenntnis der griechischen Philosophie um die Weltvernunft unterstellte und am Beispiel des 5. Kapitels des 2. Korintherbriefes belegte. Wusste denn das der Konsistorialrat nicht?

Die Männer vom Minenkonsortium schwiegen. Sie verhielten sich bedeckt; was nicht heißen konnte, dass sie über Paulus, sein Denken und Wirken nichts wussten. Vielmehr brachte Eckhard Hieronymus ihr Schweigen mit dem 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes und seiner Predigt zusammen, in der vom Götzenopfer, dem Streben nach äußerem Reichtum und der unsäglichen Armut der Menschen gesprochen wurde, wo die Armut den Rechtlosen das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerreißt; es die Armut ist, dass ihnen dieses letzte Kleid vom Leibe gerissen, diese Menschen in den erbärmlichsten Behausungen mit Verachtung übersehen, geschlagen und verstoßen werden. „Ob sie sich wohl schämen?“ Diesen Gedanken verwarf Eckhard Hieronymus, als er diese abwartend nickenden Herren in den teuren schwarzen Anzügen betrachtete. Wer schämt sich schon seines Wohlstands und übervollen Reichtums wegen? Nein, da schämt sich von diesen Herren keiner! Dass dieser Reichtum durch anderer Hände Arbeit zustande kam, das wird geflissentlich verschwiegen, auch wenn eine gewisse Unruhe im Gesicht mit den leichten Zuckungen in den Augen- und Mundwinkeln bei einigen zu erkennen gibt, dass das Wegschweigen der Wahrheit doch nicht so leicht ist, wenn da noch ein Funken von Gewissen glüht. Über die Armut haben meist die Armen selbst und ihre Verbündeten, ob sie Philosophen, Schriftsteller oder Künstler waren, nachgedacht, geschrieben, gemalt und plastiziert. Der Satz geht durch die Geschichte der Menschheit, dass sich der Arme seiner Armut nicht zu schämen hat, dagegen der Reiche sich schämen sollte, wie er zu seinem Reichtum gekommen ist. Eckhard Hieronymus gingen bei der Betrachtung der Herren vom Minenkonsortium einige Aussprüche in Bezug auf die Armut durch den Kopf: 1) „Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen...“ (Rilke: Von der Armut und vom Tode); 2) „In dieser Armut welche Fülle / In diesem Kerker welche Seligkeit!“ (Goethe: Faust I; Abend. Ein kleines reinliches Zimmer); 3) „Wirklich reich ist nur der Arme!“ (chinesisches Sprichwort).

Einer dieser Herren kam auf den verlorenen Krieg zu sprechen. Er sagte mit ernstem Gesicht, dass man nur hoffen könne, dass die Kriegslast nicht zu schwer wird. Der Konsistorialrat und der Oberstudiendirektor machten große Augen, während sich Herr von Falkenhausen die Nase putzte. Die Ehefrauen in der Sakristei hörten das Wort ‘Krieg’ und stellten sich neben ihre Männer. Der Herr „vom verlorenen Krieg“ fuhr fort und schilderte kurz die Probleme in der Mine, wo es an Männern fehle, dass die Förderquoten nicht mehr gefahren werden konnten. Eckhard Hieronymus fand das Thema eigentlich nicht am Platze und auch nicht hilfreich zur Bewältigung der schrecklichen Vergangenheit. Er sagte dem Herrn, dass der Krieg den Menschen eine Last aufgebürdet hat, die, wenn es menschlich gesehen wird, unglaublich schwer sei. Der Verlust der Väter und Söhne sei nicht wiedergutzumachen. Wenn es noch eine Moral gibt, dann sollte auch der alte Satz des Laotse gelten, der sagt: „der Sieger im Kriege gehört dahin, wo nach der Sitte die Trauernden stehen.“ Dieser Satz fand bei den Frauen seine Zustimmung; die Männer blieben stumm und machten bedrückte Gesichter. Dann nahm Dr. Hauff das Wort, der offensichtlich in der chinesischen Philosophie bewandert war. Er sagte, dass diesem Laotse-Satz ein anderer Satz vorausgeht, und er zitiert: „Der Sieger gibt sich nicht der Freude hin, denn Freude am Siege haben, heißt Freude haben am Menschenmord.“ Der Tiefpunkt war erreicht. Eckhardt Hieronymus spürte das Abgleiten von der Botschaft, die Paulus im 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes gab, als wenig hilfreich, die Probleme, die die Zukunft mit ihren Unwägbarkeiten für die Menschen bereithielt, anzupacken; ja, er empfand das Abgleiten als destruktiv und unangemessen für die Situation, in der sich die Menschen befinden, mit ihren Ängsten, Befürchtungen und Sorgen. So ist es mit dem Wissen; es bläst auf, kann eine Person für eine kurze Zeit wichtig machen, beziehungsweise sich wichtig nehmen lassen. Wenn aber aus dem Wissen die notwendige Konsequenz zur Tat nicht folgt, die Entscheidung nicht getroffen wird, dann ist das Wissen bedeutungslos; die Blase platzt wie eine Seifenblase, wo am Ende nichts übrig bleibt. Das Wissen ohne Umsetzung in die Tat hat keinen Wert. Auch sah sich Eckhard Hieronymus um die Frucht seiner Arbeit gebracht, deren Ziel es war, den Menschen mit den Worten des Apostels das Vertrauen, die Kraft und die Hoffnung wieder greifbar zu machen, die doch in den Ängsten und der Verzweiflung durch die schrecklichen Erfahrungen verloren gegangen waren, die der verlorene Krieg gebracht hatte und weiter bringen würde. Der Blick musste nach vorne gerichtet werden, und diesem Blick mit dem Mut nach vorwärts galt seine Predigt.

Den Frauen war es nun genug. So zog die eine dem Konsistorialrat am Rock und die andere dem Oberstudiendirektor am Ärmel. Letzterer konnte das Blasen mit dem Wissen nicht lassen. So sagte er, dem Ärmelzupfen seiner Frau folgend, dass es ein interessantes Gespräch war, das die Fortsetzung verdiente. Er wolle es mit einem Satz des Konfuzius abschließen: „Wissen ist, wenn man das, was man weiß, als Wissen gelten lässt, so wie man das, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten lässt.“ Eckhard Hieronymus kannte den Satz, weil ihm sein Vater, Georg Wilhelm Dorfbrunner, der als Oberstudienrat und Rektorstellvertreter Geographie und Geschichte in der Oberstufe am Stiftsgymnasium für Knaben in Breslau unterrichtete, diesen Satz in regelmäßigen Abständen ins Hirn hämmerte. Er gebrauchte allerdings eine etwas andere Fassung, nämlich die: „Was man weiß als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.“ In der Fassungsfrage hielt der Sohn es doch mit der Fassung des Vaters. Mit diesem Spruch konnte er als Kind nie etwas anfangen, hatte eigentlich nie einen Sinn darin erkennen können. Auch wenn der Vater ihm diesen Satz als Lehrsatz vorhielt, der Sohn fand ihn sinnlos und banal, hielt diesen Satz nicht für einen Lehrsatz von irgendwelcher Bedeutung, hielt ihn vielmehr für einen bedeutungslosen, inhaltsleeren Satz, kurz Leersatz, der sich noch nicht einmal für einen Zwischensatz eignete. Erst viel später, als er in die letzten Studienjahre gekommen war, erkannte er die Bedeutung dieses Satzes, wenn es Dozenten und Professoren fertig brachten, über eine einfache Sache, die jeder mit einem gesunden Menschenverstand und ein bisschen Schulbildung mit wenigen Sätzen abhandeln konnte und auch abhandelte, einen Monolog mit lateinischen Fremdworten, Konjunktiven und Widersprechungen vom Stapel ließen, dass man nicht mehr wusste, wo vorn und hinten und die Mitte war, weil das Hirn da nicht mehr mitmachte, das sich das feine Gefühl für die Linearität der Logik nicht wegnehmen ließ. Es gab unter den Lehrern, das fing schon am Gymnasium an und wuchs sich an der Universität zu einem Wasserkopf aus, Typen, die Sprechvirtuosen und Vielredner waren, die redeten ohne etwas zu sagen. Es funkte erst in Eckhard Hieronymus, als er das Pauluswort vom Wissen, das aufbläst, las. Von da ab betrachtete er genauer, kritischer, bald aber schmunzelnd mit dem Zusatz des Gähnens und dem schnöden Gefühl des Gelangweiltseins die Leute, die gern und viel reden, mit viel denkerischer Mimik und anderer gesichtiger Wichtigkeit vom unteren Philosophenkaliber, wie sie doch mit einem feuchten Enthusiasmus in der Aussprache und einer ungewöhnlichen, fast grenzenlosen Hingabe um den heißen Brei und dann noch weiter reden, wenn sich der Brei selbst bereits verzogen hat. Er sah bei diesen Monstern von Monologen in seiner Phantasie, wie sich die Redner weiter und weiter aufbliesen, bis der Punkt erreicht war, wo die Blase platzte, dass von der Rede nichts mehr da war, und der Redner als geschrumpelter kleiner Zwerg, oft sogar als Minizwerg, die Beine unter die Arme nahm und die Kurve kratzte. Der Spruch gilt weiter: wer sich aufbläst, der muss sich auch abblasen lassen; wer sich noch mehr aufbläst, läuft Gefahr, dass er platzt und sich gleich mit sofortigem Effekt in Luft auflöst. Da gefiel dem von diesem Gespräch doch enttäuschten jungen Pfarrer nach seinem Einstand mit der ersten Predigt der Kurzsatz des Vaters der griechischen Philosophie in seiner gehaltvollen Kompaktheit begriffsnäher und einleuchtender, der es griechisch sagte, was in der lateinischen Übersetzung lautet: Scio ut nesciam, ich weiß, dass ich nichts weiß. Es war Sokrates, der dem Schüler Theätet auf seine Bemerkung: „es schwindelt mir“, sagte, „dies sei der Anfang der Philosophie.“ Eckhard Hieronymus sagte die Sokratische Weisheit deshalb zu, weil es diesem Philosophen um die Erkenntnis und nicht um das aufgeblasene, aufgeblähte Wissen ging. Das wusste auch Paulus, der offensichtlich die Schriften Plato’s über Sokrates gelesen hatte, wenn er im 2. Vers des 8. Kapitels im 1. Korintherbrief sagt: „Wenn sich jemand dünken lässt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie man erkennen soll.“ Den 3. Vers, in dem Paulus sagt: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt“, dürfte 400 Jahre früher Sokrates so formuliert haben: Wenn aber jemand die Weisheit liebt, der ist von ihr erkannt. Für beide ist es die Liebe, die zur Erkenntnis „aufbaut“.

Die Frau Konsistorialrätin zupfte nun energisch am Rock ihres Mannes, der die Aufforderung zum Aufbruch beim Schopfe packte, einen Schritt zur Mitte der Runde tat und die Sache so zum Abschluss brachte, dass er sagte: „Das möge für heute genügen. Mir ging es eigentlich nur darum, Ihnen, meine Herren vom Konsistorium, den neuen Pfarrer vorzustellen. Ich gehe davon aus, dass Sie genügend Gelegenheit hatten, sich einen ersten Eindruck von Pfarrer Dorfbrunner zu verschaffen. Wir werden in Zukunft noch Gelegenheit haben, Gespräche miteinander zu führen. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit.“ So verabschiedete sich Konsistorialrat Braunfelder und seine Frau mit Handschlag vom Oberstudiendirektor Dr. Hauff und seiner Frau, von Herrn von Falkenhausen und den Herren vom Minenkonsortium. Fast hätte der Konsistorialrat vergessen, und weil er es fast vergaß, vergaß es fast auch seine Frau, sich von Pfarrer Dorfbrunner auf die gleiche Weise zu verabschieden. Auch bei diesem Abschied kam dem Konsistorialrat bezüglich der Predigt kein Wort über die Lippen, und weil ihm die Lippen klemmten, so klemmten sie bei seiner Frau. Anders verhielten sich der Oberstudiendirektor und seine Frau, die bei der Verabschiedung ein lobendes Wort für die Predigt fanden, als beide wie aus einem Munde sagten, dass es die beste Predigt seit Monaten gewesen war. Ähnlich verhielt sich Herr von Falkenhausen, der von einer gehaltvollen Predigt sprach, die auf einer fundierten Bibelkenntnis aufgebaut war. Eckhard Hieronymus enthielt sich einer Stellungnahme, da er nicht wusste, wie wahr diese lobenden Worte gemeint waren. Am ehesten traute er dem Gutsherrn den wahren Wortkern zu, dagegen weniger dem Oberstudiendirektor, der sich im Gespräch mit seinem Wissen doch übergebührlich aufgeblasen hatte. Die Herren vom Minenkonsortium verabschiedeten sich als Letzte; sie hatten in Bezug auf Gottesdienst und Predigt so gut wie nichts zu sagen, wenn auch einer, der in der Außentür der Sakristei stand, während die beiden anderen Herrn draußen warteten, von einem Anfang sprach, der für alle schwer sein wird. „Dafür brauchen wir die Hilfe Gottes; wenn er uns nur erhören möchte!“ Dieser Herr mit dem ‘Gott Erhören möchte’ schloss hinter sich die Tür, dass nun Küster Krause und Pfarrer Eckhard Hieronymus Dorfbrunner unter sich in der Sakristei waren. Die Tür war noch nicht zu, da legte der Küster los: „Das haben Sie großartig gemacht. Die Menschen waren von ihrer Predigt ergriffen. Sie haben ihnen Mut gemacht, ihnen Grund zur Hoffnung und zum Selbstvertrauen gegeben. Herr Pfarrer, Sie haben nicht nur eine kräftige Stimme, die den letzten Winkel in der Kirche füllt; Sie sprechen Worte, aus denen, wenn ich es so sagen darf, die Urkraft kommt, die bis in die tiefsten Winkel der Herzen geht. Es war die beste Predigt, die ich in meiner Amtszeit als Küster, und das sind immerhin siebzehn Jahre, gehört habe. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie jeden Sonntag eine volle Kirche haben. Wie Sie von den Reichen und den Armen gesprochen haben, es ging unter die Haut. Wie sagten Sie doch: es ist die Armut, die den Menschen das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerreißt.“ „Das ist richtig“, sagte Eckhard Hieronymus. Küster Krause setzte seine Lobrede fort: „Dann der Satz von den Menschen aus den besseren Kreisen, die sauber gekleidet sind und genug zu essen haben, die das Gesicht der Leutseligkeit aufsetzen; an anderer Stelle sprechen Sie von der gelogenen Betretenheit, von den scheinheiligen Sprücheklopfern; oder ihre Worte vom großen Hirnareal des Verdrängens und Vergessenwollens, und die Spiegelgeschichte! Es hat mich gepackt.

So klar und deutlich hat hier noch keiner gepredigt; ich will sagen, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, die Balken aus den Augen gezogen.“ „Nun ist es genug, Herr Krause“, unterbrach ihn Eckhard Hieronymus, der an seine wartende Frau dachte. „Ich will auch mit dem Lob aufhören. Aber verstehen Sie mich richtig, meine Worte kommen aus dem Herzen!“ „Vielen Dank!“ „Eines möchte ich aus meiner Erfahrung hinzufügen, Sie werden hier keinen leichten Stand haben, denn es gibt Menschen, die ihren Neid nicht beherrschen.“ Dabei nannte Küster Krause keinen Namen, auch wollte Eckhard Hieronymus Dorfbrunner keinen Namen wissen. Er streifte sich den Talar ab, hing ihn über den Bügel und zog sich die Jacke über den wollenen Pullover. Die handgeschriebenen Blätter mit dem Predigttext faltete er der Länge nach und schob sie in die Brusttasche. Sie verließen die Sakristei. Küster Krause verschloss die Tür und begleitete den Pfarrer über den Kirchplatz, wo Luise Agnes stand und wartete. Herr Krause begrüßte die junge Pfarrersfrau mit Frau Pfarrer und gab noch einmal eine kurze Reprise seines Lobes über die Predigt ihres Mannes. Ihr war kalt, und Eckhard Hieronymus beobachtete ein leichtes Zittern an ihr, das sie durch das lange Warten nicht zurückhalten konnte. Der Küster verabschiedete sich von dem Paar, und der Pfarrer nahm seine junge Frau am Arm. „Das hat ja lange gedauert“, sagte Luise Agnes, „ich hatte mich schon gefragt, ob ich vorausgehen soll. Dann dachte ich, doch zu warten, um den Heimweg nach deiner ersten Amtshandlung gemeinsam zu gehen.“ „Das ist lieb von dir, danke“, sagte Eckhard Hieronymus und drückte ihre Hand. Es war kalt, nicht viel über dem Gefrierpunkt. Der Nieselregen setzte ein, ein typischer Totensonntagsregen. Die Wolkenbank lag schwer über der Stadt, deckte sie mit einem grauen Schleier zu. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen, die meist in ihre Hauseingänge verschwanden, oder aus den Häusern kamen, die Straße überquerten und in andere Häuser der kurzen Entfernung gingen. Das Pfarrerehepaar legte einen Schritt zu, um sich warmzulaufen. „Deine Predigt hat mir gut gefallen“, sagte Luise Agnes schnellen Schrittes, „auch wenn sie anders war als die geschriebene.“ „Ich weiß auch nicht, wie ich dazu gekommen bin, mich nicht an den geschriebenen Text zu halten“, erwiderte Eckhard Hieronymus, „der Paulustext stand hell vor meinen Augen; der aus sich heraus in meinem Kopf gearbeitet hat, was soviel wurde, dass ich es loswerden musste. Ich fühlte den Druck im Kopf und eine ungewöhnliche Wärme im Herzen. Die Notwendigkeit, ja auch das Verlangen, mich an das Manuskript zu halten, waren verflogen, ich bedurfte der geschriebenen Worte nicht. So sprach ich, wie mir der Schnabel gewachsen war, sprach aus dem Bauch heraus. Die Sätze kamen wie aus einem Quell, ohne dass ich nachdenken und die Sätze in eine rhetorische und satzbauliche Ordnung bringen musste. Das alles hatte mein tiefes Bewusstsein, das sich meinem Willen entzog, bereits getan. Ich musste mich nur darauf konzentrieren, und das war nicht einfach, mit dem Fluss, der von innen kam, Schritt zu halten und mit der Zunge nicht zu stolpern, damit es keine Stauung gab.“ „Nein, eine Stauung gab es nicht, deine Rede war frei und fließend, sie sprach in anschaulichen Bildern von den Menschen der Stadt, ihren Ängsten und Sorgen“, entgegnete Luise Agnes. Sie meinte, dass ihr das mit der Scheinheiligkeit, der gelogenen Betroffenheit, den Falschgesichtern und der Gier nach äußerem Reichtum zwar zugesagt habe; sie könne sich jedoch vorstellen, dass es die Menschen falsch verstehen, die es falsch verstehen wollen. Wenn es auch der Wahrheit entspricht, muss mit Reaktionen, besonders der Leute aus den besseren Kreisen, gerechnet werden, die abfällig, gemein und schädlich sein können. „Jetzt sprichst Du so wie Küster Krause, der meinte, dass ich einen schweren Stand bekommen werde, weil es Menschen gibt, die ihren Neid nicht beherrschen“, setzte Eckhard Hieronymus hinzu und fügte an: „Aber warum soll ich mir den Maulkorb umhängen, wenn mein Herz mir sagt, dass ich die Wahrheit sprechen soll und mich ermahnt, die Wahrheit auszusprechen. Paulus hat doch auch kein Blatt vor den Mund genommen, wenn er den Korinthern den Spiegel vor ihre Gesichter hielt, sie auf ihre Gier, Lüste und Sünden hinwies und sie zur Besserung und einem sittlichen Leben ermahnte. Der Apostel schreckte vor nichts, auch nicht vor den ärgsten Feinden und gemeinsten Verfolgern zurück, wenn es um die Wahrheit und die Botschaft des Herrn geht, um die Liebe, die aufbaut und zur Erkenntnis der Wahrheit führt.“ „Ich weiß, ich weiß!“, versuchte Luise Agnes ihren Mann auf dem wolkenüberhängten Heimweg mit dem feinen Trauerregen im Gedenken der Toten zu trösten.

Sie gingen doch nicht gleich nach Hause, sondern kehrten in das Gasthaus, Zum Schlesischen Krug, ein, um dort das Mittagessen einzunehmen. Es war bereits ein Uhr mittags. Die kleine, von der Einschmelzung verschont gebliebene Glocke machte, wie eine hohe Kinderstimme, den Einuhrschlag, als die beiden die Speisekarte mit den aufgeführten drei Gerichten und ihre Preise aufmerksam studierten, die hinter einem verschlossenen Glasdeckel links neben der Gasthaustür ausgehängt war. Von den drei Tischen waren zwei frei, auf dem dritten, einem Fenstertisch, stand aufrecht eine kleine quadratische, in einen dunklen Holzständer eingedrückte Messingplatte mit der schwarz eingelassenen Aufschrift ‘reserviert’. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seine junge Frau wurden vom Wirt mit Bauch und blauer Schürze freundlich begrüßt, obwohl sie das erste Mal in das Gasthaus einkehrten und dem Wirt vorher nicht begegnet waren. Der Wirt mit der feinen Nase, wie sie allen Wirten zugeschrieben wird, wusste, um wen es sich bei den Mittagsgästen handelte, und sprach sie, als Eckhard Hieronymus noch die Außenklinke in der Hand hatte, mit „Guten Tag Herr Pfarrer!, guten Tag gnädige Frau!“ an. Sie setzten sich an den mittleren Tisch, der dem Fenstertisch am nächsten stand. An der alten Holztheke stand ein älterer Mann, an dessen dunklem Anzug der Hauch von Schäbigkeit haftete, und vor sich ein Schnapsglas stehen hatte, das er in regelmäßigen Abständen zum Mund führte und nachfüllen ließ. Die beiden am Tisch verschafften sich die erste Orientierung. Der Wirt, ein Herr in den mittleren Jahren, mit langem Backenbart und großen Ohren, trat an den Tisch. Er lächelte den Gästen ins Gesicht, erst der jungen Frau, dann dem jungen Herrn Pfarrer. Er wollte die Gäste, und noch mehr ihr Kommen, ehren und bot ihnen ein Willkommens-Schnäpschen zum, wie er sagte, Aufwärmen der Gemüter an. Dabei ließ er nicht ungesagt, dass diese Runde ein Geschenk des Hauses sei und auf seine Kosten gehe. Während die beiden sich, ob verblüfft oder erschrocken ansahen, sei dahingestellt, über das Prinzip des alkoholischen Genusses nachzudenken begannen, offerierte der Wirt mit den entsprechenden Erklärungen die verschiedenen Marken und Geschmacksrichtungen, vom Holstenkorn, über den ostpreußischen Bittermann bis zum schlesischen Mandelbitter und Liegnitzer Hirschwasser. „Warum nicht“, meinte Luise Agnes, die sich Hände und Wangen warm rieb, „ich könnte schon einen Aufwärmer gebrauchen“, und mit Blick auf ihren, noch unentschlossenen Mann, „das kommt ja nicht jeden Tag vor.“ „Da darf ich ihnen den Schlesischen Mandelbitter empfehlen; der hat ein erfrischendes Aroma und ist nicht zu stark“, schlug der Wirt vor. „Gut, dann will ich den Mandelbitter probieren“, erwiderte Luise Agnes. „Sehr wohl, gnädige Frau, der wird ihnen gut tun!“ Der Wirt wandte sich dem Herrn zu: „Und ihnen, Herr Pfarrer, wenn ich einen Vorschlag machen darf, würde ich das Liegnitzer Hirschwasser empfehlen, das herb im Geschmack und in der Konzentration nicht zu geistig ist.“ Eckhard Hieronymus schaute seine Frau fragend an, die mit dem Kopf nickte und die Bestellung der Gemütsaufwärmer ohne weitere Verzögerung zu Ende brachte. Der Wirt ging hinter die Theke zurück, als Eckhard Hieronymus seiner Frau die Frage stellte, was wohl die Menschen denken werden, wenn sie den Pfarrer, der hier gerade seinen Dienst begonnen hat, mit dem Schnapsglas in der Hand oder vor dem Munde sehen, und das am Totensonntag. Luise Agnes sah das anders; sie erklärte die Schnapslage als eine wirksame Medizin an einem kalten regnerischen Spätherbsttag, die einer Erkältung mit ihren negativen Folgen vorbeuge. Der Wirt hatte die zwei Schnapsgläser gefüllt, kam und stellte sie auf den Tisch, erst der jungen Frau zur Rechten mit den Worten: „einen Schlesischen Mandelbitter für die gnädige Frau und ein Liegnitzer Hirschwasser für den Herrn Pfarrer.” Dann wünschte der Wirt ein freundliches Prosit. „Können wir die Bestellung aufgeben?“, fragte Luise Agnes. „Selbstverständlich gnädige Frau“, erwiderte der Wirt. Mann und Frau hatten sich bereits abgestimmt, so bestellte Eckhard Hieronymus zweimal Schweinskotelett mit Bratkartoffeln. Die Frage nach dem Gemüse, beantwortete der Wirt mit einem Lächeln, dass es Frischgemüse aus Bohnen, Möhren und Rotkohl sei, überzogen mit einer speziellen Käsesoße nach böhmischer Art. „Wäre es so recht?“, fragte er, um sich zu vergewissern. Luise Agnes nickte mit dem Kopf, der Wirt ging, öffnete die Tür neben der Theke und rief die Bestellung in die Küche, aus der ein aromatischer Fleischgeruch in die Gaststube drang. Eckhard Hieronymus blieb für mehr als eine Minute still. Luise Agnes sah seinem Gesicht und den müden Augen an, dass er in einer anderen Welt war. Sie wollte ihn an den Tisch zurückholen und ermuntern. So fragte sie ihn, ob er zufrieden sei mit dem, was abgelaufen war. „Mit dem Gottesdienst schon, mit dem, was danach kam, weniger“, erwiderte er und rieb sich mit den Zeigefingern über die Augen; worauf Luise Agnes, die sah, dass etwas nicht stimmte, sagte, dass er ihr zu Hause von dem Gespräch in der Sakristei doch berichten möge. Zwei Männer, denen die Haare beim einen ergraut, beim andern ausgefallen waren, betraten die Gaststube und setzten sich an den Fenstertisch. Einer von ihnen schob die kleine Messingplatte mit der schwarzen Aufschrift „reserviert“ mitsamt Ständer zur Seite. Auch sie hatte der Wirt beim Eintreten freundlich begrüßt, aber ein Schnäpschen auf Hauskosten zum Aufwärmen der Gemüter hatte er ihnen nicht angeboten. Es waren Herren, von denen sich Eckhard Hieronymus nur an den glatzköpfigen erinnerte, wie er nach dem Gottesdienst die Kirche verließ, weil er einer der wenigen war, die weder eine Miene zum Gruß verzogen, noch auf seinen Gruß reagierten. Der ältere Mann an der Theke, dessen Jacke vom Regen durchnässt war und der ganze Anzug die Merkmale der ungepflegten Schäbigkeit aufwies, ließ sich von Zeit zu Zeit das Gläschen nachfüllen, schaute unbeirrt auf die halbvollen Regale mit den Getränkeflaschen hinter der Theke und begann, in den Knien weich zu werden, die er mit zunehmender Mühe doch wieder nach hinten durchdrückte und für eine gewisse Zeit durchgedrückt hielt. Der Wirt, mit der feinen Nase, sah das Unglück vorher; er sah es Minuten früher, doch nicht auf die Sekunde genau. Er bot dem Stehgast an der Theke den Stuhl am dritten Tisch an, weil er an den kürzer werdenden Intervallen aus Erfahrung wusste, wann das Einknicken in den Knien komplett und die dazugehörige Person nicht mehr in der Lage sein würde, diese Scharniergelenke aus eigener Kraft nach hinten durchzudrücken. Der Stehgast lehnte das Angebot des Sitzenkönnens mit einer kratzenden Stimme und unberechtigten Empörung ab, blieb stehen und ließ sich das X-te Gläschen füllen. Dem Pfarrer und seiner Frau tat dieser abgleitende Mensch leid, der bereits ein Stadium angetrunken hatte, in dem er sich nicht mehr helfen lassen wollte. Die beiden schauten sich betroffen an, worauf Luise Agnes das Wort „Einsamkeit“ über den Tisch flüsterte und Eckhard Hieronymus sein Mitgefühl an der peinlich bedauernswerten Lage eines kurz vor dem Zusammenbruch Stehenden mit blassem Gesicht über den Tisch zurücknickte. Dann war es soweit. Der Wirt trat aus der Küchentür, strahlte schon den Gästen am Mitteltisch verheißungsvoll entgegen, hielt in beiden Händen die mit Schweinskoteletts, Bratkartoffeln und von einer Käsesoße nach böhmischer Art überzogenem Gemüse gefüllten Teller in Höhe der Bauchvorwölbung, als der Mann vor der Theke die Herrschaft über sich und seine Knie verlor, mit den Händen von der Theke dann wegrutschte, als er im Begriff war, das Schnapsglas, das noch nicht leer getrunken war, auf die Theke zurückzustellen. Das Glas schlug auf den Holzboden und rollte unter den Tischen bis zur Fensterwand. Der knieweich Betrunkene stürzte dem Wirt gegen Bauch und Schürze, dass diesem nach der Heftigkeit des Aufpralls, der ihn in der unvorhergesehenen Sekunde traf, beide Teller aus der Hand fielen und am Boden zerschellten. Der Mann von der Theke rutschte mit dem Kopf am Bauch des Wirtes runter, stürzte krachend zu Boden und röchelte; er lag auf und zwischen den Scherben und den bestellten Gerichten, was sich nun alles im Durcheinander auf dem Boden verteilte. Der Wirt war blass und schien für eine Sekunde die Fassung zu verlieren. Er verlor sie nicht, fasste sich in der zweiten Sekunde, ging mit blassem Gesicht an den mittleren Tisch und entschuldigte sich für den unvorhergesehenen Zwischenfall, der ihn in letzter Sekunde doch unerwartet getroffen hatte. Er versicherte den vollen Ersatz in kürzester Zeit, stieg über den am Boden Liegenden vor der Theke, öffnete die Küchentür und rief mit energischer Stimme: „Noch einmal dasselbe!“, worauf eine dunkelhaarige Frau der mittleren Größe, deren Alter schwer zu schätzen war, mit verschmierter Schürze durch die offene Küchentür in die Gaststube blickte und auf dem Boden die Bescherung mit Mann, Tellerscherben und den verstreuten Gerichten sah. Der Wirt machte sich mit den Männern vom Fenstertisch daran, den Liegenden in einen Nebenraum zu tragen, wo er seinen Rausch ausschlafen sollte. Der Wirt holte noch eine Wolldecke, jene graue Decke mit dem braunen Streifen, wie sie die Soldaten an der Front hatten, um den Stehgast von der Theke, der nun schnarchend im Nebenraum lag, zuzudecken. Nun spendierte der Wirt den Männern vom Fenstertisch, die jetzt an der Theke standen, einen Schnaps auf Kosten des Hauses, für jeden einen Doppelten, den ostpreußischen Bittermann für den Herrn mit der Glatze und für den Herrn mit den wenigen grauen Haaren einen Holstenkorn. Der Wirt hinter der Theke erlaubte sich ebenfalls einen Doppelten, und die drei stießen auf das gemeinsame Wohl an und leerten die Gläser in einem Zug. Die Küchenhilfe, ein Mädchen mit dunklen Haaren von etwa zwanzig, die auch die Tochter des Wirtes hätte sein können, fegte in der Zwischenzeit die Scherben und verschütteten Tellergerichte zusammen und säuberte den Boden mit einem nassen und dann einem ausgewrungenen Scheuerlappen.

Eckhard Hieronymus, dem Luise Agnes eine leichte Nervosität anmerkte, weil er mit seinen Gedanken bei dem Gespräch mit den Leuten vom Konsistorium in der Sakristei war, schaute auf die Taschenuhr, ein Erbstück seines Großvaters, Gotthold Arnim Dorfbrunner, der als preußischer Amtsrat in der Bezirksverwaltung Breslau einen hohen Posten bekleidete und auf unerklärliche Weise, die Menschen sprachen von einem Herzversagen aufgrund der chronischen Überlastung, dann gestorben war, als der Enkelsohn am Schlussexamen angekommen war, aber die letzte Hürde noch nicht genommen hatte. „Es ist schon dreiviertelzwei“, bemerkte er leise und schaute durch die Gaststube, las auf einem kleinen Wandanschlag über der Tür zur Küche „Hansabier, das mögen wir“, fand aber keinen Punkt, wo er seinen Blick hätte aufhängen können. „Jetzt müssen wir Geduld haben“, sagte Luise Agnes. Der Satz tat seine Wirkung, denn nun hielt der Wirt wieder zwei Teller in den Händen, als er aus der Küche kam. Er schritt auf den Mitteltisch zu und stellte die Teller, auf denen die Bratkartoffeln noch dampften, zwischen die bereits ausgelegten Bestecke mit der Gabel auf der dreieckig gefalteten Papierserviette links und dem Messer rechts. „Ich wünsche ihnen einen guten Appetit.“ Der Wirt erkundigte sich nach den Getränkewünschen zum Essen und brachte zwei volle Gläser mit vom Fass gezapftem Hansabier nach. Es war ihre Sitte, vor dem Essen zu beten. Nun taten es der Pfarrer und seine Frau, ohne ein Wort zu sprechen, jeder für sich. Als wären sie eineiige Zwillinge, was sie nicht sein konnten, legte jeder seine rechte Hand über seine linke. Luise Agnes schloss für die kurze Andacht ihre Augen, doch Eckhard Hieronymus hielt sie offen, der hatte seine Augen am Vormittag des Totensonntags schon genug geschlossen, als er die Gebete in der Kirche sprach. Es schmeckte beiden, denn beide hatten einen großen Appetit. Das Hansabier vom Fass, auch das schmeckte zum Essen. Nun entspannten sich die Gesichtszüge des jungen Pfarrers, und die Nervosität wich der Zufriedenheit eines sich füllenden Magens. Denn auch in der Geistlichkeit spielen die Gaumendinge und Zustände des Magens eine so kleine Rolle nicht. „Sieh doch“, sagte Luise Agnes erregt, als sie über den Fenstertisch durchs Fenster auf die Straße blickte, „da geht doch Herr Braunfelder in Damenbegleitung.“ Eckhard Hieronymus drehte den Kopf zum Fenster und sah nur noch von hinten einen untersetzten Mann in schwarzem Mantel mit schwarzem Schirm auf der Straße gehen. Rechts von ihm ging eine Frau, die um einen halben Kopf größer war als er, und links ein Mädchen, das ihm über die Schulter gewachsen war. „Bist du sicher, dass es der Konsistorialrat war?“, fragte er. „Ich bin mir sicher, dass er es war“, erwiderte Luise Agnes, „doch wer die Frau und das Mädchen waren, das weiß ich nicht; ich kann mich nicht erinnern, diese Gesichter schon gesehen zu haben.“ Eckhard Hieronymus sagte seiner Frau, dass Herr Braunfelder mit Frau und Tochter zur Kirche und nach dem Gottesdienst anlässlich der Vorstellung mit seiner Frau in die Sakristei gekommen sei. Im Stillen war er froh, dass der Konsistorialrat mit Familie nicht in das Gasthaus einkehrte. Ihm wurde schnell klar, dass dieses Gasthaus in seiner bescheidenen Aufmachung den gehobenen Ansprüchen des Konsistorialrates nicht entsprach; es lag unter seinem Niveau. „Kannst Du dir vorstellen“, fragte er Luise Agnes, „was für Gesichter der Rat und seine Frau gemacht hätten, wenn sie den Sturz des Mannes neben der Theke und die Tellerstürze gesehen hätten.“ Sie schmunzelte und sagte, dass sie sich das sehr gut vorstellen könne. Beide Gesichter wären fahl geworden; sie hätten sich die Nase geschnäuzt, hätten einander das Glück zugesprochen, dass sie nicht vor Schreck von ihren Stühlen gekippt und auf dem Boden gelandet seien. „Sie hätten die angegessenen Teller stehengelassen und das Gasthaus fluchtartig verlassen, da bin ich mir sicher“, fügte Eckhard Hieronymus hinzu. Er gab seiner Erleichterung Ausdruck und sagte, dass er froh sei, mit seiner Frau das Mittagessen ungestört und in Ruhe einzunehmen. Was er nicht sagte aber dachte, war, dass er den Seelenfrieden beim Essen dem bisschen Mehr als bloß dem Hauch alternder Schäbigkeit eines gewöhnlichen Gasthauses zu verdanken habe.

Luise Agnes bemerkte den Stimmungswechsel an ihrem Mann. Sie sagte, dass es wohl kein so gutes Gespräch in der Sakristei gewesen war. Eckhard Hieronymus gab dem Wirt ein Zeichen und zahlte für das Essen und die beiden Biere. Der Wirt wechselte das Geld und gab einige Münzen zurück, die ihm der Pfarrer als ein bescheidenes Trinkgeld überließ. Sie standen auf, zogen ihre Mäntel über, wobei Eckhard Hieronymus seiner Frau in den Mantel half, und verließen das Gasthaus. Der Wirt öffnete ihnen die Tür, bedankte sich fürs Kommen, Essen und Trinken, entschuldigte sich nochmals für den peinlichen Vorfall und wünschte dem Herrn Pfarrer und seiner Frau noch einen ruhigen Sonntag. Draußen hatte sich der Nieselregen gelegt, der sich schon früher gelegt haben musste, weil der Konsistorialrat mit Frau und Tochter ohne aufgespanntem Schirm die Straße entlang gegangen waren. Die Menschen waren zu dieser Zeit, es war der frühe Nachmittag, von der Straße so gut wie verschwunden. Eine dicke Wolkendecke hing tief über der Stadt. Von Sonne war keine Spur. So zeigte sich der Spätherbst von seiner trüben Seite, die zum Totensonntag durchaus passte. Der frühe Einfall der vorwinterlichen Kälte, es war so kalt, dass in vielen Häusern die Kachelöfen angeworfen wurden, trug klimatisch zur erhöhten Empfindlichkeit der Menschen bei. Von den unfreundlichen, ja trübseligen Launen des Wetters her war es verständlich, dass sich die Menschen von den Straßen verzogen und sich um die wärmenden Öfen versammelten. Würde der Rauch nicht aus den Schornsteinen aufsteigen, es wäre das Bild der verlassenen Geisterstadt gewesen. Sie kamen an ihrem Haus in der Wagengasse 7 an. Luise Agnes schloss die Eingangstür auf. Im Flur stand eine feuchtkalte Luft, die den stillen Empfang im Heim mit der ersehnten Wärme und erhofften Ausstrahlung des Heimischen für beide Gemüter nicht brachte. Sie vermissten das Besondere der stillen Wärme, die in ihrer ehelichen Beziehung von so großer Bedeutung war.

In Kenntnis des nur halben Monatsgehalt für einen Pfarrer auf Probe, die für ein Jahr offiziell angesetzt war, bestand die dringende Notwendigkeit zum erhöhten Sparen, weshalb sie den kleinen Kachelofen im kleinen Wohnzimmer noch nicht angeworfen hatten. Beide zogen ihre Mäntel aus, hängten sie über Bügel an die Haken im schmalen Flur, zogen die Schuhe aus und die Hausschuhe an, denn die Füße mit den kalten Zehen verlangten nach Wärme. Nach Wärme sehnten sich auch die Herzen; das war den Blicken anzusehen, die sich die beiden zuwarfen. In der Schmalheit des Flures umarmten sich Eckhard Hieronymus und Luise Agnes; umarmt blieben sie eine Weile stehen, Körper an Körper. Mit dem Kopf auf seiner Schulter strich er ihr über das weiche Haar. Er spürte die Wärme, die von ihren weichen Brüsten herüberkam. Er liebte sie, liebte das Weiche ihres schwangeren Körpers, die Zartheit im Fühlen ihrer Hände und die Zartheit ihres Herzens. Er bewunderte seine Frau, weil sie mit dem Kind in ihrem Leibe der Erbauer der jungen dorfbrunnerschen Familie war, was sie mit liebevoller, geduldiger, aber auch erwartungsvoller Hingabe tat. Doch auch sie liebte ihren Mann mit all ihren Gefühlen und Gedanken. Trotz des Tragens der Schwangerschaft war Luise Agnes bereit, den beruflichen Werdegang ihres Mannes mitzutragen, ihm in schwierigen Situationen beizustehen, zu helfen, ihn körperlich und seelisch zu stärken, wo immer es notwendig war. So war sie fürwahr eine liebenswerte Frau; sie war Mittler und Katalysator, wenn Hindernisse zu nehmen, Probleme abzubauen und zu lösen waren. In der Umarmung flüsterte sie in sein Ohr: „Ich freue mich so auf unser Kind.“ Wie sollte Eckhard Hieronymus auf diesen wunderschönen Ausspruch reagieren? Aus ihm leuchtete das Glück mit der Liebe so stark, dass es die aufgehende Sonne mit dem Lichtstreifen über dem Horizont nicht stärker konnte. Nach einer langen „Sekunde“ von Aufnahme bis Reaktion sagte er: „Ich liebe dich mit dem Kind noch mehr, als ich dich ohne das Kind schon geliebt habe.“ „Übertreibst du jetzt nicht? Du liebtest mich doch schon vorher ganz.“ Darauf sagte er mit einem Kuss aufs Ohr, dass die Liebe stärker, voller und heller wird, weil sie das größte Geschenk Gottes ist, das keine irdischen Grenzen kennt.

„Jetzt mach ich uns einen heißen Tee; und dann erzählst du mir von dem Gespräch in der Sakristei.“ Sie lösten sich nach einigen Küssen aus der Umarmung und gingen in die Küche. Luise Agnes füllte den Kessel mit Wasser, zündete die Gasflamme am Herd an, setzte den Kessel über die Flamme, holte Teebüchse, Teesieb und Tassen von verschiedenen Regalen und setzte sich zu ihrem Mann an den kleinen Küchentisch, während die Flamme sich anstrengte, das Wasser zum Kochen zu bringen. „Ja, das Gespräch“, setzte Eckhard Hieronymus mit einem tiefen Atemzug an: „Ich kam vom Hauptportal zurück, wo ich die Menschen beim Verlassen der Kirche kopfnickend, bei einigen mit Handschlag, verabschiedete. Das tat ich, um den Menschen Mut zuzusprechen, den dunklen Weg der Sünde zu verlassen und den hellen Weg der Wahrheit zu gehen, so wie ihn Paulus den Korinthern gepredigt hat. Als sich die Kirche geleert hatte, ging ich zur Sakristei. Küster Krause kam mir mit den Worten „Das haben sie gut gemacht!“, entgegen und klopfte mir beim Eintreten in die Sakristei väterlich auf die Schulter. Drinnen hatten sich der Konsistorialrat mit seiner Frau, Oberstudiendirektor Dr. Hauff und seine Frau, der Gutsherr von Falkenhausen und drei Herren vom Minenkonsortium eingefunden. Konsistorialrat Braunfelder stellte mich den Damen und Herren vor. Dann wurden mir die Hände zur persönlichen Begrüßung gereicht. Bei dieser Begrüßung mit Handschlag war es nur Frau Dr. Hauff, die sich in der Anrede den akademischen Titel ihres Mannes gefallen ließ und ein lobendes Wort fand. Die andern blieben zugeknöpft, der Konsistorialrat und seine Frau bis zum Ende. Da gab es sonst keine Äußerungen oder Anmerkungen, weder zum Pauluswort im Korintherbrief noch zur Predigt. Dann kam der Oberstudiendirektor hinzu, der mit dem Gesicht der Leutseligkeit sagte, dass er es rasch gemerkt hätte, dass der Apostel mir die Worte ins Herz geschrieben hat. Ich hatte meine Zweifel in Bezug auf die Ehrlichkeit, deshalb wollte ich auf diese Bemerkung nicht weiter eingehen.“ „Vielleicht meinte er es wirklich gut“, unterbrach ihn Luise Agnes. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Eckhard Hieronymus, „ich habe da meine Zweifel. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass er mich weich machen wollte, denn dann legte er in einer schulmeisterlichen Weise los und packet sein Wissen aus: ob ich wüsste, dass Paulus als Sohn jüdischer Eltern vom Stamme der Benjamin die römischen Bürgerrechte besaß, dass wir durch Lukas vom Namenswechsel Saulus zu Paulus erfahren. Der Oberstudiendirektor blähte sein Wissen auf, als er von der Gefangennahme des Paulus in Jerusalem sprach, die Jahreszahl hinzufügte, den Prokurator Festus erwähnte, der ihn als Gefangenen nach Rom brachte, wo ihm der Prozess nach römischem Recht, worauf sich Paulus als römischer Staatsbürger berief, gemacht werden sollte und auch gemacht wurde.“

„Das ist ja Geschichte“, unterbrach Luise Agnes das zweite Mal, „wie hat sich dazu der Konsistorialrat verhalten?“ „Der handelte sich die erste Belehrung vom Oberstudiendirektor ein“, setzte Eckhard Hieronymus den Bericht fort, „weil der die Frage stellte, ob denn Paulus in Rom der Prozess gemacht wurde. Da rutschte dem Dr. Hauff der Oberstudiendirektor in höchst belehrender Weise heraus, als er sagte: ‘Aber Herr Rat, natürlich wurde ihm der Prozess gemacht, der allerdings mangels an Beweisen eingestellt wurde.’ Da bekam der Rat einen roten Kopf und strich mit zittrigen Fingern über das metallene Brustkreuz. Die Bloßlegung der kleinen Bildungslücke, die die Geschichte doch längst überholt hat, schien ihn massiv zu ärgern. Bei der Frage, ob Paulus physisch Jesus begegnete, gingen die Meinungen auseinander; Dr. Hauff zuckte die Schultern, und der Konsistorialrat rang sich ein schwaches Ja ab.“ „Wichtiger als all die geschichtlichen Dinge um die Person ist doch das Werk des Apostels“, warf Luise Agnes ein. „Das habe ich auch gedacht“, sagte Eckhard Hieronymus. „Ich sagte, dass das Ereignis von Damaskus Paulus so stark traf, dass er die Mühsal, Leiden, Entbehrungen und Gefahren auf sich nahm und ein unerschrockener und unbeugsamer Kämpfer für seinen Herrn wurde und bis zu seinem Martyrium in Rom geblieben ist. Nun stellten sich der Gutsherr von Falkenhausen und die Herren vom Minenkonsortium hinzu. Herr von Falkenhausen stellte die Frage nach dem Bildungsstand des Apostels. Da brillierte der Oberstudiendirektor erneut mit seinem Wissen; er sprach von einer hohen Bildung des Apostels durch seine frühe Berührung mit der griechischen und römischen Welt, deren Einfluss in Sprache und Stil zum Ausdruck käme. Herr von Falkenhausen brachte da einen interessanten Gesichtspunkt; er sagte, dass Paulus die griechische Philosophie um die Weltvernunft vom Aufbruch der menschlichen Seele zur göttlichen Welt gekannt haben muss. Als Beleg zitierte er den 6. und 7. Vers im 5. Kapitel des 2. Korintherbriefes: „Solange wir im Leibe wohnen, wallen wir fern vom Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.“ Ich fand diese Feststellung bemerkenswert. Es war offensichtlich, dass der Gutsherr die Bibel außergewöhnlich gut kannte.“ „Konnte Herr Braunfelder hierzu etwas sagen?“, fragte Luise Agnes. „Nein“, erwiderte Eckhard Hieronymus, „der Konsistorialrat schwieg sich mit rotem Kopf aus, denn er fragte den Herrn von Falkenhausen, wie er das meine, dass Paulus Kenntnis von der griechischen Philosophie hatte, worauf der Gutsherr aus dem 2. Korintherbrief zitierte. Der Rat mit dem großen metallnen Kreuz auf der Brust gab ein dürftiges Bild ab; der brachte eigentlich gar keinen Beitrag.“ „Schade!“, rutschte es Luise Agnes aus dem Mund.“ Eckhard Hieronymus sagte, dass auch die Männer vom Minenkonsortium schwiegen, und meinte, dass er ihr Schweigen mit der Paulusbotschaft und der Predigt erklärte, wenn von den Reichen und Armen gesprochen wurde, dass es die Armut ist, die den Rechtlosen das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerreißt, die in den erbärmlichen Hütten und hinter Brettern hausen und, weil sie arm sind, verachtet, geschlagen und verstoßen werden. „Ich kann mir vorstellen, dass das diesen Herren bitter auf der Zunge lag.“ „Meinst du, die hätten sich geschämt?“, fragte Luise Agnes. „Von Scham kann hier die Rede nicht sein“, so Eckhard Hieronymus, „wer schämt sich schon seines Reichtums wegen? Nein, auch diese Herren schämten sich des Reichtums nicht. Im Gegenteil, sie machten sich Sorgen um die Förderquoten, weil es an Menschen fehle. So kam einer dieser Herren auf den verlorenen Krieg zu sprechen. Er sagte mit ernstem Gesicht, dass man nur hoffen könne, dass die Kriegslast nicht zu schwer wird. Daraufhin machten der Oberstudiendirektor und der Konsistorialrat große Augen, und Herr von Falkenhausen putzte sich die Nase. Die Frauen hörten das Wort ‘Krieg’ und stellten sich neben ihre Männer. Der Herr „vom verlorenen Krieg“ schilderte die Probleme in der Mine, wo die geforderten Förderquoten aufgrund der fehlenden Arbeitskräfte nicht mehr gebracht werden können. Ich fand diese Bemerkung in der Sakristei fehl am Platz“, fuhr Eckhard Hieronymus fort. „Dr. Hauff, der sich auch in der chinesischen Philosophie auszukennen schien, brachte den Satz des Laotse: „Der Sieger gibt sich nicht der Freude hin, denn Freude am Siege haben, heißt Freude haben am Menschenmord.“ Was immer der Oberstudiendirektor mit dem Spruch meinte, ich hielt auch ihn für unpassend nach dem Gottesdienst mit der Botschaft von der Liebe.“ „Es war wirklich kein gutes Gespräch“, sagte Luise Agnes, „als hätten die Menschen die Botschaft nicht verstanden. Warum ist dann der Konsistorialrat nicht energisch dazwischengefahren?“ „Ich weiß es nicht.“ „Oder hat der die Botschaft auch nicht verstanden?; das wäre ja fürchterlich“, fügte Luise Agnes hinzu.

„Den Frauen war es genug. Sie zupften ihren Männern immer energischer an Ärmel und Rock, die sich an den Wissensblasen gefielen, war es aktiv oder passiv. Der Oberstudiendirektor brachte den Satz des Konfuzius von der Geltung des Wissens und Nichtwissens im Wissen. Du weißt, dass Vater mir diesen Satz in seiner Version: „Was man weiß als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß als Nichtwissen gelten lassen, das ist Wissen.“ in regelmäßigen Abständen vorgehalten hat, besonders dann, wenn eine Klassenarbeit bevorstand. Ich habe den Ausspruch nie richtig verstanden, hielt ihn für banal und leer. Erst viel später an der Universität mit den schwadronierenden Dozenten und Professoren, als wüssten sie alles, ist mir die Bedeutung des Satzes aufgegangen. Paulus sagt es doch im 1. Korintherbrief: „Wenn sich jemand dünken lässt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie man erkennen soll.“ Durch das wiederholte Zupfen ihrer Frauen erinnert, verabschiedeten sich endlich die Herren mit ihren Frauen. Der Konsistorialrat und seine Frau hätten fast vergessen, mir die Hand zu geben.“ Da machte Luise Agnes doch ein ernstes Gesicht. „Dem Rat kam bezüglich der Predigt kein Wort über die Lippen. Nur Dr. Hauff und seine Frau sagten zum Abschied, dass ihnen die Predigt gefallen habe; sie sei die beste gewesen, die sie seit Monaten gehört hätten. Ähnlich verhielt sich der Gutsherr, der von einer gehaltvollen Predigt sprach. Wie gesagt, beim Oberstudiendirektor, der sein Wissen zu sehr aufgeblasen hatte und mit der Blase imponierte, hatte ich meine Bedenken in Bezug auf seine Ehrlichkeit. Schließlich waren die Leute vom Konsistorium gegangen, und ich blieb mit Küster Krause in der Sakristei zurück. Die Tür war noch nicht zu, da legte der Küster mit einer Lobestirade los, die nur schwer zu stoppen war. Wie sagte er doch; die Menschen seien von der Predigt ergriffen gewesen, ich hätte ihnen Mut gemacht, ihnen Grund zur Hoffnung und zum Selbstvertrauen gegeben; ich hätte kraftvolle Worte gesprochen, die in die Herzen gingen. Er sagte, es sei die beste Predigt gewesen, die er in seiner siebzehnjährigen Dienstzeit gehört habe. Wenn ich so weitermache, hätte ich jeden Sonntag eine volle Kirche.“ Luise Agnes schmunzelte. „Herr Krause übertrieb, als er sagte, ich hätte mit der Predigt den Nagel auf den Kopf getroffen, die Balken aus den Augen gezogen. Ich musste heftig werden, damit er ein Ende fand. schließlich sagte er, ich würde mit meiner Sprache einen schweren Stand haben, weil es hier Leute gibt, die ihren Neid nicht unter Kontrolle bringen. Er nannte keinen Namen, und ich wollte auch keinen Namen wissen.“

Luise Agnes machte ein betroffenes Gesicht. Sie holte die Kanne mit dem aufgebrühten Tee aus der Küche, füllte die Tassen und rührte den Zucker ein. „Das hört sich ja nicht sehr willkommen an“, sagte sie und legte den Teelöffel auf die Untertasse, „ich hatte mir das alles doch freundlicher vorgestellt. Vor allem das Verhalten des Konsistorialrates schockiert mich. Ich hatte ihn anders eingeschätzt, dass er ein Herr von Format sei, das ich seinem Alter und seiner Funktion als Geistlicher mit langer Erfahrung zugetraut habe.“ „Das hatte ich auch erwartet von einem, der sich die Seelsorge zum Beruf gemacht hat, sei es als Geistlicher, als Psychologe oder als Arzt in der Psychiatrie“, erwiderte Eckhard Hieronymus. „Ich glaube, dass man zur Seelsorge geboren sein muss; die Sorge um die Seele muss dem Menschen von Geburt an mitgegeben werden, muss ihm im Blut liegen“, sagte Luise Agnes. „Da hast du völlig recht“, bemerkte Eckhard Hieronymus, „zur Seelsorge muss man berufen sein, dann klappt es auch mit dem Beruf.“ „Vielleicht ist diese Berufung beim Konsistorialrat zu kurz gekommen, waren die genetischen Weichen nicht richtig gestellt, war die Berufung zur Seelsorge den Blutzellen zu dünn aufgedrückt oder nicht tief genug in den Zellkern eindrückt worden, weil das entsprechende Chromosom von Anfang an zu schwach ausgebildet war oder Schaden erlitten hatte“, gab Luise Agnes zu bedenken. „Ich weiß es wirklich nicht“, sagte Eckhard Hieronymus nachdenklich, „etwas scheint bei dem Rat nicht zu stimmen, er war mehr mit sich beschäftigt, als dass er sich den andern Menschen in der Sakristei zugewandt hätte. Seine Erregung mit dem roten Kopf irritierte mich, nur weil ihm eine kleine Wissenslücke bloßgelegt wurde. Er musste doch den Bildungsstand erreicht haben, dass es nicht auf das Wissen als solches, sondern auf das Wissen in der Erkenntnis ankommt, auf das so viele Bibelstellen hinweisen.“ „Kann es sein“, fragte Luise Agnes, „dass dem Konsistorialrat die Verwaltungsarbeit über den Kopf gewachsen ist, die ihn so sehr überfordert, dass er zum Bibellesen nicht mehr genügend Zeit hat. Obwohl es schon ungewöhnlich im Beruf eines Geistlichen ist, wenn er sich die Zeit zum Bibellesen nicht mehr nimmt.“ „Wie gesagt, ich weiß es nicht“, entgegnete Eckhard Hieronymus, „aber ein Geistlicher, ungeachtet seines Höhenstandes in der Hierarchie der Kirche, kann sich eigentlich nicht Geistlicher nennen, wenn er der Bibel nicht die höchste Priorität in seinem Beruf gibt. Gerade das ständige Lesen der Bibel mit der Meditation über das Wort der göttlichen Botschaft unterscheidet ihn von einem normalen Verwaltungsmann, dem es um die Ordnung der äußeren Dinge geht, und der zufrieden ist, wenn diese Dinge stimmen.“ Luise Agnes goss Tee nach und rührte den Zucker in beide Tassen ein. „Welcher Zukunft können wir nun entgegensehen?“, fragte sie, ohne sich die Sorge anmerken zu lassen, die sie berechtigterweise um ihren Mann und die kommende Familie hat. Sie wusste, dass durch das ohnehin bescheidene Gehalt eines Pfarrers, das im vom Konsistorialrat angesetzte Probejahr auch noch halbiert wird, die Haushaltsführung unter striktester Sparsamkeit zu erfolgen hat. Dazu war sie willens und bereit.Sich selbst wollte Luise Agnes jeglichen Luxus versagen. Sie wollte die Kinderkleidung selbst nähen, wozu sie eine Nähmaschine brauchte, die sie von irgendjemand, den sie allerdings noch nicht kannte, ausleihen musste. Ihr Mann brauchte dringend einen dunklen Anzug, wenn er seine Besuche bei den Mitgliedern der Gemeinde macht. Für den Anzug hatte sie das Geld angespart und beim Herrenschneider Stein einen Termin zum Maßnehmen für ihren Mann vereinbart, der für die folgende Woche anberaumt war. Nun hoffte sie, dass der Schneider, der schon nicht der teuerste war, noch genug böhmischen Stoff hatte und die Preise durch die kriegsbedingte Geldentwertung bis dahin nicht auf das X-fache gestiegen waren; denn dann würde das Gesparte auch nicht mehr reichen. Während Luise Agnes mit all diesen Dingen im Kopfe zugange war, meinte Eckhard Hieronymus auf ihre Frage nach der Zukunft, dass er sich bemühen werde, ein guter Pfarrer für die Gemeinde und ein ehrlicher Seelsorger für die Menschen zu sein. „Sag mir“, sprach er mit weit geöffneten Augen zu seiner jungen Frau, „was ich noch tun soll, um unser Leben in eine Bahn zu bringen, die trotz der Unbilden der Zeit uns etwas Sicherheit gibt. Ich könnte Nachhilfestunden in Latein und Griechisch, vielleicht noch in Mathematik geben, wenn uns die Not dazu zwingen sollte.“ Luise Agnes sah ihrem Mann tief ins Gesicht. „Wir müssen abwarten, was uns die Zeit bringt und wie sich die Dinge entwickeln. Ich wäre auch gewillt, am Einkommen mitzuwirken, entweder durch Schreibarbeiten oder andere Gelegenheitsarbeiten. Zum Musikunterricht fehlt uns das Klavier, für Näharbeiten die Nähmaschine. Bei den hohen Preisen, und keiner weiß, wie weit sie noch steigen werden, sind diese Anschaffungen für uns vorerst unerschwinglich.“ „Vergiss nicht, dass du ein Baby bekommst. Da solltest du dich mehr schonen!“


Die Dorfbrunners

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