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Die Nacht der Apokalypse

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Es war eine ungewöhnliche Nacht. Hatte doch Luise Agnes ihrem Mann zum ersten Mal anvertraut, dass sie schwanger war. Eckhard Hieronymus hätte es am Gesicht seiner Frau ahnen, ja ablesen können, an den Augen und den noch weicheren Zügen um den Mund. Nun wusste er es, dass der Nachwuchs unterwegs war. Da gingen ihm viele Fragen durch den Kopf, so die Frage, wie Luise Agnes die Schwangerschaft verkraften würde, denn sie führte den Haushalt allein, da für eine Hilfe das Geld fehlte. Dann kreisten seine Gedanken um die Frage, ob die kleine Dreizimmerwohnung für die Familie groß genug sei, ob er mit dem kleinen Salär die Familie unterhalten könne, ob er zur Aufbesserung des Gehalts wieder Nachhilfestunden geben solle, wie er es während des Studiums in Breslau getan hatte, um die Zimmermiete zu bezahlen und sich einen bescheidenen Aufstrich aufs Brot zu leisten. All diese Fragen, die auf eine Antwort warteten, hielten ihn vom Schlaf ab. Eckhard Hieronymus lag auf dem Rücken, die Hände über dem Brustkorb gefaltet, die Augen weit offen mit dem Blick gegen die Decke, an der ein matter Lichtstreifen stand, der von der Straße durchs Fenster einfiel. Die Zukunft hat begonnen. Die Frage war, wie die Anforderungen, von denen neue hinzukamen, zu bewältigen waren. Die Nachtgedanken verließen den familiären Bereich, genauer, sie kehrten zur Familie zurück, kreisten über ihr, fanden keine Auflösung der Fragen, schwirrten davon, durch die Zimmerdecke hindurch, oder beim Blick nach dem einfallenden Licht durchs Fenster irgendwo in den Himmel hinaus, bis sie dann doch wieder aus dem Weltall zurückkehrten und ihre Kreise über der Familie, beziehungsweise dem Schlafzimmer, genauer dem Bett mit der schlafenden Luise Agnes und dem schlaflosen Ehemann zogen. Eckhard Hieronymus hörte das ruhige Atmen seiner Frau, die in Frieden und der Verheißung eines Kindes in ihrem Mutterleib schlief; er bewunderte sie in ihrer Ausgeglichenheit und Ästhetik, wie sie lag und atmete, und erfreute sich an ihrem frischen Hautgeruch. Er liebte seine Frau und war im Grunde seines Herzens glücklich, dass er vor der Gründungspforte der Familie angekommen war.

Dann wandte er sich auf dem Rücken liegend, die Hände über der Brust gefaltet, dem Beruf des Pastors zu. Ihm war die Prüfung wichtig, ob der Beruf voll identisch mit der Berufung war, wenn nicht, welches Ausmaß die Berufung in seinem Beruf hatte. Er strebte nach der Kongruenz der beiden. Doch wurde er von Anfechtungen befallen, die an ihm nagten, die ihn verunsicherten, so dass er sich die Kongruenzfrage täglich stellte und sie mit dem, wie er sich sah, mit der Identität seiner Person in Beziehung setzte. Ständig gab es so etwas wie eine innere oder Identitätskrise, etwas, was nicht stimmig war zwischen Beruf und Berufung, oder schlichtweg nicht stimmte, wenn er sich für glaubensfest hielt, obwohl alles im Glauben wackelte, durcheinander geriet mit der Wahrheit von Wollen und Tun. So lag Eckhard Hieronymus Dorfbrunner in der Nacht, als ihm seine Frau von ihrer Schwangerschaft, übrigens ihrer ersten, berichtete, im Bett und konnte nicht einschlafen. Er hatte die Oberlider über die Augen geschoben, weil ihn das lästige Reiben beim Lidschlag störte, von dem er sich befreien wollte. Es war nach Mitternacht, ein frischer Herbstwind zog durch das halb geöffnete Fenster, als er sich die Frage stellte, ob er den richtigen Beruf ergriffen hatte, mit anderen Worten die Frage nach der Liebe zum Beruf. Dabei tastete er seine kritischen oder Schwachstellen ab, denn in punkto Selbstkritik ging er hart gegen sich vor. Da wollte er sich nichts vormachen, was nicht war. Er erinnerte sich an bestimmte Vorlesungen und Übungen im Studienverlauf, so an das Thema: „Der Römerbrief und seine Bedeutung als Botschaft an den Menschen der Gegenwart“. Es war das Thema einer Hausarbeit im dritten Studienjahr, das ihm bei der Ausarbeitung Kopfzerbrechen und bei Rückgabe mit der unbefriedigenden Note, vollgespickten Randnotizen kritischer Art und einer niederschmetternden Beurteilung einen länger anhaltenden Kopfschmerz bereitet hatte. Ein anderes, allgemein gehaltenes Thema: „Ist der Mensch zum Glauben noch fähig?“, das für eine Klausurarbeit im vierten Studienjahr gestellt wurde, brachte ihm dagegen die Note „Vorzüglich“. So konnte die Bandbreite der Benotung nicht größer sein, in der Eckhard Hieronymus hin und her schwankte, im Ringen um die Wahrheit des Glaubens hin und her taumelte. Dieses weitgrätschige Taumeln war eigentlich nie mehr zur Ruhe gekommen, die Bewegung im kritischen Überdenken blieb heftig, teils zermürbend heftig, die Sache mit dem Zweifel hatte sich nie wieder gelegt, der Bammelfaden hatte sich nie ausgebaumelt. Er erinnerte sich an solche Fäden, an denen unten etwas angehängt war, sei es ein Kringel mit einem Tier oder Tierkopf, oder eine Glocke oder eine Weihnachtskugel, in der, wenn der Abstand stimmte, er als Kind mit der kindlichen Neugier sein Gesicht zur Grimasse verzerrte, es zum Lachen oder traurig fand, je nachdem wie groß Nase und Mund hervortraten und von dem einen oder anderen, seitlich und nach oben weggerutschten Auge mit dem lang gezogenen Mongolenschlitz entfernt waren. Auch gab es Fäden mit der elastischen Ziehstrippe, die nach unten gezogen wurden und beim Loslassen von allein nach oben zurückschnellten, Fäden, die, wenn unten keine Klingel dran war, um die Küchenfee zum Wechseln der Teller oder zum Abräumen des Tisches zu rufen, vielfache Verwendung bei Puppenspielen oder ernsterem Theater mit Puppen Verwendung fanden, weil man das Strippeziehen mit dem automatischen Zurückschnellen beim Loslassen mit richtigen Menschen nicht machen kann.

Der Versuch, doch noch etwas Schlaf zu finden, wurde zur Versuchung mit einer Berg- und Talfahrt, dem Rauf und Runter mit dem Riesenrad, dem schaukelnden Hin und Her auf der Achterbahn. Die Versuchung kam auf, nachdem er sich so gut wie sicher war, dass er seinen Beruf liebte, er den richtigen Beruf gewählt hatte, er nicht nur ganz, sondern auch fest im Glauben stehe und als Pastor dem Herrn dienen, die Heilsbotschaft weitergeben und den Menschen einen guten Dienst erweisen werde. Er sehe ihre Irrwege und versuche mit aller Kraft, sie vor dem Absturz zu bewahren und auf den richtigen Weg zurückzurufen, die Schwächsten, die Blinden, Tauben und sonstwie Sprachgestörten, die Witwen und Waisen, die Verkrüppelten und was es sonst noch an Behinderten gab und alle, die sich verloren glauben und feststeckten, dabei unter die Arme zu greifen und sie, wenn es sein muss, auf den Wagen des Heilsbotschaft zu heben und den vollen Wagen zu schieben oder zu ziehen, bis sie das Licht sehen und im Licht die gute Botschaft erkennen. Die erste Frage, die ihm in der Versuchung gestellt wurde, war die, ob er denn kräftig genug sei, um so viele Menschen von den Irrwegen zurückzuholen und auf den richtigen Weg zu führen, kräftig genug, so viele Menschen auf den Wagen zu heben und sie vor dem Abgrund zu bewahren, indem er den vollgeladenen Wagen vom kritischen Spalt wegschiebt oder wegzieht, was um so schwerer sein würde, wenn die Räder bereits im Morast stecken. Die zweite Frage war die mit der Freiheit des Menschen, ob der Mensch denn nicht für sich selbst entscheiden könne, welchen Weg er gehen wolle, der beim Treffen der Entscheidung nicht bevormundet werden will. Diesbezüglich sei schon genug Unheil angerichtet worden, wenn um Glaubensdinge Dekrete erlassen, Kriege geführt und Millionen gutgläubiger Menschen enthauptet, verbrannt oder anderswie auf bestialische Weise getötet wurden. Schließlich habe die Menschheit, zumindest auf der westlichen Halbkugel, dem Okzident, die Schwelle der Aufklärung überschritten, beschäftige sich bereits eingehend mit der Materie, treibt eine fortgeschrittene Mathematik und Physik, denkt existenzphilosophische Exkursionen durch und hat es zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gebracht, die atemberaubend sind und bis vor kurzer Zeit undenkbar waren. Die dritte Frage ging um die Beweisführung, dass der christliche Glaube der richtige sei, obwohl er doch über der Vernunft throne, unantastbar für jegliche Kritik und dem Verständnis trotz Zuwendung der hoch entwickelten Intelligenz enthoben ist.

Mit den Versen des 8. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief im Kopf, um dessen zeitgemäße Auslegung sich Eckhard Hieronymus für seine Jungfernpredigt am bevorstehenden Sonntag bemühte, ja um sie rang, weil er an diesem Text vom Superintendenten und Konsistorialrat Braunfelder gemessen würde, wie sich der Herr Konsistorialrat ausdrückte, kam nun außer der Mitteilung, dass er, wenn alles gut verläuft, in einigen Monaten Vater werden würde, die erneute Versuchung mit den drei Fragen hinzu, die jede für sich einem Gebirge gleichkam, an dem man hangeln und klettern, den Gipfel besteigen und abstürzen konnte. Es waren gewaltige Massive von großen Höhen, die nicht zu übersehen, geschweige denn wegzuschieben oder einzuebnen waren. Die Fragen zusammengenommen waren Ausdruck hoher Intelligenz mit der dialektisch schillernden Freude an der wissenschaftlichen Analyse, waren gleichzeitig aber auch Beleg für die rasante spirituelle Vereinsamung und Verarmung mit der Bodenlosigkeit bei der Glaubensverwälzung, wo der Glaube als kindlich naiv, unzeitgemäß, reaktionär bezeichnet, abgetan, über den nächstbesten Hang weggeschoben, weggerollt, der Gläubige in seinem Bekenntnis als Dummkopf oder als nichtintellektueller Schwachkopf verlacht und verspottet wird. Es ging an die Substanz, denn wieder musste hart gerungen werden. Dazu kam die Falle mit der Freiheit, die der moderne Mensch für sich in Anspruch nimmt, als wäre sie sein persönliches Eigentum, der sich selbst für seinen Weg entscheidet, was immer er unter Entscheidung versteht. So stand der hohe „intellektuelle“ Weizen den verfaulten „spirituellen“ Kartoffeln gegenüber. Es war das Babylon der Neuzeit, und Eckhard Hieronymus hörte den Engel sagen: „Komm, ich will dir das Gericht über die große Hure zeigen, die an vielen Wassern sitzt, mit der die Könige auf Erden ihre Unzucht treiben. Die, die auf Erden mächtig sind, trinken vom Wein ihrer Unzucht.“ Der Engel trug ihn in die Wüste, wo er die Hure auf einem scharlachroten Tier sitzen sah, das viele lasterhafte Namen, sieben Häupter und zehn Hörner hatte. Es war eine schöne, verführerische Frau, deren seidene Kleider mit Purpur und Scharlach bestickt und übergoldet waren, dazu mit Perlen und Edelsteinen besetzt. Sie hielt den goldenen Becher in der Hand, der voll Gräuel und Hurenflat war. Auf ihrer Stirn trug sie den Namen Babylon, und sie war die Mutter der Hurerei und aller Gräuel. Eckhard Hieronymus erschrak, als er sah, dass diese Hurenmutter vom Blut der Heiligen, der Zeugen des Herrn Jesus Christus, trank. Da sprach der Engel zu ihm: „Verwundere dich nicht, ich will dir das Geheimnis des Weibes und des Tieres verraten. Das Tier, das du gesehen hast, wird aus dem Abgrund emporsteigen und in die Verdammnis fahren. Es wird die Mächtigen und alle die mitnehmen, deren Namen nicht im Buch des Lebens stehen. Das ist der Sinn, zu dem die Weisheit gehört! Die sieben Häupter sind die sieben Berge, auf denen die Hure sitzt, und die zehn Hörner sind die zehn Könige, die ihr Reich nicht empfangen, aber die Macht empfangen für eine Stunde mit dem Tier. Diese Könige sind schlecht, weil sie sich dem Tier überlassen, aus dem sie ihre Kraft und Macht nehmen. Sie werden gegen das Lamm streiten, doch das Lamm wird sie überwinden, weil das Lamm der Herr ist, der über allen Königen steht. Und die, die sich zum Lamm bekennen, sind die Auserwählten dieses Herrn.“ Eckhard Hieronymus drückte die Hände fest ineinander; ihn überkam die große Furcht vor dem Herrn, weil er sich vor der Macht des Tieres fürchtete, das nur das Lamm bezwingen und zähmen kann. Angstschweiß stand ihm im Gesicht. Dann sagte die Stimme: „Die Wasser, an denen die Hure sitzt, das sind die Völker mit den vielen Sprachen, und die zehn Hörner und das Tier werden die Hure hassen, ihr Fleisch essen und den Rest von ihr verbrennen. So hat es Gott in ihre Herzen gegeben, das zu tun, was er beschlossen hat, auch das Reich dem Tier solange zu geben, bis sein Wort erfüllt ist. So ist die Hure, die du siehst, die große Stadt Babylon, die über die anderen Könige herrscht.“

Eckhard Hieronymus hatte die Augen weit geöffnet, sah den Lichtstreifen, der durch das halb geöffnete Fenster fiel, an der Schlafzimmerdecke, kehrte aus dem fürchterlichen Babylon zurück und in den Korintherbrief ein. E r lispelte die Worte vor sich hin, um Luise Agnes nicht aus dem Schlaf zu holen, an der er die Ausgeglichenheit und Ästhetik des ruhigen, gleichmäßigen Atmens noch mehr bewunderte als die Stunden zuvor, bevor er im Halbtraum das Babylon mit seinem Sündenpfuhl durchlebte. Er sprach das 8. Kapitel in sich hinein, wobei das Stufenprinzip: zwei Stufen hoch, eine Stufe runter; drei Stufen hoch, zwei Stufen runter, und so weiter, zur Anwendung kam. So wurden die vorangehenden Verse mit jedem weiteren Vers von Beginn an wiederholt. Eckhard Hieronymus hielt beim Aufsagen das Rauf- und Runterprinzip mit der einstufigen Versetzung deshalb ein, weil er an dem Satz im ersten Vers: „Das Wissen bläst auf; aber die Liebe baut auf.“ hängenblieb und staunte. Es war ein gewaltiger Satz, der als Rammbock gegen die verriegelten Tore der Wissenschaften gebraucht werden konnte, um sich den Zugang zu den Arbeitsräumen mit den Menschen des kritischen Verstandes zu verschaffen. Denn die Zeit war reif, dass die Türen mit Gewalt geöffnet werden mussten, wenn es darum ging, nach den Vermissten zu suchen und nach den Lebenden zu sehen, um sie von den Toten zu trennen, die das Leben nicht mehr brauchen. Er dachte, was so verkehrt nicht war, dass er durch ständige Wiederholung den Satz mit dem Hammerschlag besser verstehen lernte. Er hatte sich nur zum Teil getäuscht, weil er nach der Lispelrezitation und noch im Bett liegend mit der Meditation begann, indem er den Einleitungssatz vom Wissen und von der Liebe gedanklich nach allen Himmelsrichtungen hin rezitierte und dabei das Verfahren des fahrenden Aufzugs ohne Tür, dem Paternoster, für eine lange Zeit einhielt, dass er die Frage, die er sich am Morgen selbst stellte, nämlich die Frage nach der Zeitdauer, die er im Paternoster verbracht hatte, nicht beantworten, ja nicht einmal abschätzen konnte. Der Begriff der Liebe war der Kern. Die Liebe will begriffen und getan werden, dann baut sie den Menschen auf. Dagegen ist das Wissen klein, das weniger getan als vorwiegend verstanden und geredet wird. Wieder stand vor ihm das Bild des hohen „intellektuellen“ Weizens und der verfaulten „spirituellen“ Kartoffeln, ein Landschaftsbild, das nicht nur allerorts gesichtet werden konnte, sondern das die Gesichter selbst waren, in die man sah, wenn sie durch die Felder und Dörfer, durch die Straßen der Städte gingen.

Die Falle mit der Freiheit des Menschen, die in der zweiten Frage steckte, hatte Eckhard Hieronymus früh genug aufgespürt, als dass sie ihm den Hals abgedrückt hätte. Es ist ganz natürlich, dass der Mensch für sich selbst entscheiden will, welchen Weg er gehen will, beim Treffen der Entscheidung nicht bevormundet oder sonstwie gedrängt werden will. Das tut der Glaube auch nicht, davon war er fest überzeugt. Doch ist die feste Burg des Glaubens das sicherste Fundament für die richtige Entscheidung. Wenn die Kartoffel faul ist, dann stimmt es mit dem Boden auch nicht. Dagegen stimmt es mit dem Boden, wenn die Kartoffel groß und hart ist. Glaubenskriege sind das Armutszeugnis der Menschheit. Wenn die Sprache versiegt, das Wort zum Gespräch nicht mehr gesucht wird, die Gewalt über Glauben und Leben entscheidet, dann ist der Abgrund der Verwerfung erreicht, weil da geprügelt und getötet wird. So ist dieses Zeugnis, von dem es so viele gibt, Ausdruck der Arroganz statt der Sanftmut, der Verstocktheit statt der redlichen Zuwendung mit dem versöhnenden Wort, der Intoleranz mit der Ignoranz und dem Bildungsmangel statt des Bemühens um mehr Wissen und Erweiterung des Denkhorizonts. Wenn des Glaubens wegen erschlagen wird, dann vertaubt auch das Ohr, wenn der eine den andern nicht mehr verstehen will, dann verstockt das Wort und mit ihm das Herz. „Sehet aber zu, dass diese eure Freiheit nicht zum Anstoß für die Schwachen werde! Denn, wer das Wissen hat, weiß, dass der, der am Tisch im Götzenhaus sitzt, in seinem Gewissen (der Gewissenlosigkeit) bestärkt wird, das Fleisch des Götzenopfers zu essen. Und so wird über deinem Wissen der Schwache ins Verderben kommen, der Bruder, um deswillen doch Christus gestorben ist.“ Das Babylon reicht bis in die Neuzeit, sinnierte Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, der aus dem halb geöffneten Fenster in die erste Morgendämmerung sah. Ein frischer Wind wehte ins Schlafzimmer und bauchte in auf- und abgehenden Wellen den vorgezogenen Vorhang. Er hörte im Geiste den Schrei mit der gewaltigen Stimme, die spricht: „Sie ist gefallen, Babylon, die große; sie ist zum Haus des Teufels geworden, zum Gefängnis der unreinen Geister und verhassten Vögel. Babylon, die Hure ist gefallen, von deren Wein die Völker getrunken, die Mächtigen mit ihr die Unzucht getrieben haben, die Kaufleute von ihrer Üppigkeit reich geworden sind.“ Sein Blick wandte sich vom Fenster und streifte die Zimmerdecke in unregelmäßigen Bahnen ab, als er eine andere, weniger harte Stimme sagen hörte: „Geh von ihr, mein Volk, dass du nicht an ihren Sünden teilhast, damit dich ihre Plagen nicht befallen, denn ihre Sünden reichen bis an den Himmel, und Gott erinnert sich all ihrer Frevel. Wie sich Babylon herrlich gemacht und es im Übermut getrieben hat, so viel Qual und Leid wird sie nun selbst aus dem Kelch trinken, mit dem sie ihren Wein verteilte.“

Draußen begannen die Vögel zu zwitschern, und Luise Agnes öffnete die Augen und griff mit ihrer rechten nach seiner linken Hand. Eckhard Hieronymus saß noch mit der dritten Frage fest, ob der christliche Glaube der richtige sei. Da brach es aus ihm heraus, als er laut sagte: „der Glaube, den uns unser Herr lehrt, ist der richtige; da gibt es nichts zu argumentieren oder wissenschaftlich rumzumeckern.“ „Was sprichst du da, Eckhard?“, fragte Luise Agnes, die seinen Schweiß roch und an der Hand fühlte. „Du bist ja ganz nass und fühlst dich heiß an. Was ist passiert?“, begann sie, in ihn einzudringen und drehte ihren Körper seinem zu. Eckhard Hieronymus brach seine nächtliche Reise ab, die eine Reise der schweren Prüfung war, drehte seinen Kopf nach links und schaute mit geröteten Augen seiner jungen Frau ins Gesicht. „Ich bin mal wieder heimgesucht worden“, sagte er mit heiserer Stimme und räusperte sich, obwohl am Abend die Stimme noch ganz klar war. Er wischte sich den Schweiß mit der Decke vom Gesicht und anstatt ihr von seiner nächtlichen Exkursion zu erzählen, fragte er Luise Agnes, ob sie glaube, dass er stark genug für den Beruf des Pfarrers sei, der ein Seelsorger zu sein habe, der den Menschen in ihrer Not beisteht und hilft. „Natürlich bist du stark genug, ein guter Pfarrer zu sein, wenn du nur fest genug im Glauben stehst und dich nicht gleich vom ersten Windstoß umwerfen lässt“, sagte sie mit ganzer Überzeugung. „Warum stellst du diese Frage?“ „Weil ich mir nicht so sicher bin“, antwortete Eckhard Hieronymus und fuhr fort: „Warum werde ich so oft von Gedanken heimgesucht, die am Fundament des Glaubens rütteln? Das verstehe ich nicht, zumal ich mich bemühe, ein guter Christ zu sein, dem Herrn treu und mit meinem ganzen Herzen zu dienen.“ „Dann hast du wieder einen Glaubenskampf gekämpft“, setzte Luise Agnes hinzu, „und so, wie du mich anschaust und dich anfühlst, muss es ein schwerer Kampf gewesen sein.“ „J a, es war ein Ringen auf Leben und Tod. Mir wurden drei Hindernisse in den Weg gestellt, die ich zu überwinden hatte. Es waren beachtliche Brocken, die ich so einfach nicht wegschieben konnte. Bei der letzten Hürde um die Beweisführung, dass der christliche Glaube der richtige sei, war ich angekommen. Als dann ein kräftiger Windstoß über mein Gesicht strich, den Vorhang weit ins Zimmer drückte, riss er die letzte Hürde weg und zog sie mit einem kräftigen Sog aus dem Fenster nach draußen. Ich blickte zum Vorhang, der sich ans Fenster schmiegte und durch die Öffnung bauchte, blickte nach draußen, wo der Morgen dämmerte und die Vögel die ersten Morgenlieder sangen. Plötzlich war der Druck von meinem Herzen gewichen. Die Spannung fiel wie eine Decke von mir, und ich war soweit, mich dem Schlaf zu übergeben. Das war, als du deine Hand in meine legtest.“ Luise Agnes hielt seine Hand, sah ihrem Mann weiter ins Gesicht, versuchte die Nachtgeschichte aus seinen geröteten Augen zu lesen, die den Zustand der Erschöpfung ausdrückten, den sie so krass noch nicht an ihm gesehen hatte, und roch den sauren Schweiß seiner Haut. Sie sagte kein Wort, versetzte sich mit ihren Gedanken in seine nächtliche Wanderung, die ihrem Empfinden nach eine Odyssee der besonders harten Anfechtungen gewesen sein musste. Ihr Empfinden trog sie nicht, sie traf den Nagel auf den Kopf, der nun Zeit und Ruhe brauchte, um ins Gleichgewicht zurückzufinden. Luise Agnes löste ihre Hand aus der ihres Mannes, der die Augen geschlossen hatte, küsste seine verschwitzte Stirn, stieg aus dem Bett, schloss das Fenster, zog den Vorhang wieder zu und verschwand im Badezimmer.

Draußen regnete es. Es war Herbst, und ein kühler Wind drückte die Tropfen hart gegen die Scheiben, an denen sich Wasserstraßen bildeten, die vom Windstoß in unterschiedliche Richtungen gedrückt wurden. War der Stoß besonders heftig, dann wackelte das Fenster im Schloss, dessen abgegriffener Schließer sich aus der Rahmenhalterung lockerte, und das anschlagende Wasser aus der dunklen, tiefhängenden Wolke drückte sich in Schichten quer über die Scheibe. Es war Donnerstag, der Tag an dem der Postmann mit der dicken Posttasche an der Lenkstange des Fahrrads gewöhnlich die Post brachte. Luise Agnes hatte den Frühstückstisch gedeckt und sich die weiße Strickjacke über die violettfarbene Bluse übergezogen. Sie stand an der kleinen Anrichte in der Küche und brühte den Kaffee auf, dessen Bohnen brasilianischer Herkunft und in einer Bremener Großrösterei verarbeitet und verpackt sie in der Kaffeemühle aus Großmutters Zeiten mit dem Kurvenschwengel und dem Drehknopf gemahlen hatte. Sie hatte die Eier fürs Rührei schon geschlagen und wartete auf das Erwachen ihres Mannes, um das Frühstück mit ihm gemeinsam zu nehmen, dem, wie an jedem Morgen, eine Bibellesung vorausging und die Auslegung des gelesenen Textes durch ihren Mann folgte. An diesem Morgen ließ das Erwachen auf sich warten, und Luise Agnes hatte volles Verständnis dafür. Sie nahm ihren Platz am Frühstückstisch ein, schob den Teller und das Besteck zur Seite und setzte ihre Häkelarbeit an einer weißen wollenen Decke mit der Hingabe der werdenden Mutter fort, die sie dem gewünschten und hoffentlich gesund ankommenden Nachwuchs als schützenden Wärmemantel widmete. Je weiter die Arbeit an der Decke fortschritt, desto öfter sah sie ihr Kind schon darin eingewickelt. Sie freute sich, Mutter zu werden und konnte seine Ankunft nicht abwarten, obwohl noch sieben Monate vor ihr lagen, in denen sich der Prinz oder die Prinzessin in der mütterlichen Sänfte tragen ließ.

Sie war mit ihrer Arbeit beschäftigt, hörte dem Klatschen des Regens an der Scheibe zu, wechselte mit ihren Gedanken vom Kind zum Ehemann und werdenden Vater und wieder zum Kind, dass sie Eckhard Hieronymus Dorfbrunner erst dann wahrnahm, als er schon neben ihr stand. Er hatte sich den dunkelblauen Morgenmantel übergezogen und die Füße ohne Socken in seine Lieblingschlappen gesteckt, an denen sich die dünne Ledersohle unter beiden Filzkappen zu lösen begann. Er küsste seine Frau auf die Stirn, als er den Morgengruß mit „meine liebe Frau, ich wünsche dir einen wunderschönen guten Morgen“, nicht fertig ausgesprochen, sondern beim Wort „wunderschönen“ abgebrochen hatte. Beide maßen der Morgenbegrüßung mit dem Aufeinanderzugehen die elementare Bedeutung der äußeren wie inneren Zusammengehörigkeit bei, und diese Begrüßung hielten sie auf eine herzlich schöne Weise ein. Beide wussten, wie wichtig der Zusammenhalt und das Aussprechen des Wunderbaren in der Zusammengehörigkeit ist, das bedurfte der täglichen Erneuerung und gegenseitigen Versicherung, zumal in außergewöhnlichen Zeiten wie dieser mit der Schwangerschaft und dem beruflichen Ringen. Luise Agnes legte die Häkelsachen auf den Nebenstuhl, die begonnene Kinderdecke auf ihren Schoss, griff nach seiner Hand und strich ihm zärtlich mit dem Daumen über den Handrücken. Dann sah sie zu ihm auf und sagte, dass er nun etwas erholt aussähe, wenn auch die Rötung aus seinen Augen noch nicht gewichen war. Es war gegen zehn Uhr morgens, der Regen klatschte unverändert heftig gegen die Scheiben, und die Windböen säuselten vor ihnen auf und ab. Auf den Fensterbänken waren zusammengerollte Handtücher ausgelegt, damit das eindringende Wasser nicht die Wände runterlief. „Ich habe uns einen starken Kaffee gemacht“, zog die Kaffeemütze von der Kanne und schenkte den Kaffee ein, wobei sie mit der Tasse ihres Mannes begann, der sich auf seinen Stuhl ihr gegenüber an den kleinen Tisch setzte, die Handbibel schon in der Hand hielt und darin zu blättern begann, während Luise Agnes etwas Milch und einen Teelöffel Zucker in seine Tasse tat und im Kaffee verrührte. Sie wunderte sich nicht, dass Eckhard Hieronymus am 1. Korintherbrief festhielt und aus dem 9. Kapitel las: „Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht unsern Herrn Jesus gesehen? Seid nicht ihr mein Werk im Herrn? Bin ich andern nicht ein Apostel, so bin ich doch euer Apostel; denn das Siegel meines Apostelamts seid ihr in dem Herrn.“ Er sah auf, blickte über den kleinen Tisch, streifte den Augenblick seiner jungen Frau, die ihm mit dem Lächeln der Unschuld entgegensah, und las dann die letzten Verse vor: „Alles tue ich um des Evangeliums willen, auf dass ich seiner teilhaftig werde. Wisset ihr nicht, dass von denen, die in der Kampfbahn laufen, nur einer den Siegespreis erhält? Darum laufet so, dass ihr den Preis erlangt! Jeder, der da kämpft, enthält sich aller Dinge, damit er einen vergänglichen Kranz empfängt, wir aber einen unvergänglichen. Ich laufe nicht aufs Ungewisse, fechte nicht wie der, der in die Luft schlägt. Ich züchtige meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den andern predige und selbst verwerflich werde.“ Eckhard Hieronymus klappte die Bibel zu, fasste die Hände seiner Frau, die ihm Luise Agnes über den Tisch reichte, und sprach ein kurzes Morgengebet, in dem er den Herrn um den Beistand im Leben beider dankte, ihn um Schutz und Führung der Familie, um eine komplikationslose Schwangerschaft und um den Frieden in der Welt bat, dass er die Geißel des Hungers und der Gewalt von den Menschen nehme.

Sie nahmen das Frühstück ein und sprachen über alltägliche Dinge. Dabei erwähnte Luise Agnes, dass er nun dringend einen schwarzen Anzug brauche. Sie habe das Geld für den Schneider zusammengespart und mit ihm einen Termin zum Maßnehmen ausgemacht. Er sagte, dass es ihm in zwei Wochen passe, weil er dann seine Bestellungen aufgearbeitet und wieder Luft habe, sich zudem leere Seiten im Kundenbuch für besondere Anlässe reserviert habe. Eckhard Hieronymus setzte die Kaffeetasse ab und stellte die existentielle Frage, ob denn ein neuer Anzug wirklich nötig sei. Er verwies auf die Notwendigkeit einiger Möbelstücke, die erneuert werden mussten, wie zum Beispiel den alten Tisch und die Stühle im Wohnzimmer, die noch aus der Studienzeit stammten, an denen sich die Lehnen an drei der vier Stühle lockerten und einige Stuhlbeine aus der Leimung gingen. Das sei eine Anschaffung, die erforderlich sei, wenn Gäste oder Menschen aus der Gemeinde kämen, die man auf die Wackelstühle nicht setzen könne. Und für beides reiche das G eld nicht aus. Er machte ein ernstes Gesicht, und Luise Agnes sah seine Betroffenheit, wie sie immer aufkam, wenn es um geldliche Dinge ging, um die Bezahlung größerer Vorhaben, wie sie ein neuer schwarzer Anzug und ein Tisch mit vier Stühlen waren. „Wichtiger ist der Anzug“, meinte sie, „wenn du deine Vorstellungsbesuche machst, musst du ordentlich gekleidet sein. Mit dem jetzigen Anzug kannst du dich nicht mehr sehen lassen, die Jacke ist zu eng, die Hosenbeine sind zu kurz, und über dem Gesäß ist ein Flicken aufgenäht. Damit kannst du nicht mehr gehen.“ Eckhard Hieronymus aß die Marmeladenschnitte zu Ende, putzte sich den Mund ab, leerte die Kaffeetasse, faltete die Serviette zusammen und schob sie in den Serviettenring. In der anschließenden Textbetrachtung des verkürzt gelesenen 9. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief, ging Eckhard Hieronymus Dorfbrunner auf das Damaskuserlebnis der Erleuchtung des Apostels Paulus ein, wo ihm der Herr auf dem Wege erschien, das Licht seine Augen blendeten, dass er für Tage nicht sehen konnte. Am neuen Glauben, den ihm der heilige Geist tief ins Herz pflanzte, hielt Paulus unerschütterlich bis an sein Lebensende fest. Er war der wortgewaltige Verkünder des neuen Testaments, ein unerschrockener Kämpfer gegen das babylonische Treiben der Menschen nach Lust und äußerem Reichtum und ihren Anfälligkeiten, Sünden jeglicher Art zu begehen. Er war der weit vorausschauende Apostel mit der Einsicht in die Tiefe des gesellschaftlichen Durcheinanders und ihre Folgen, war kompromisslos in der Klarstellung des Wortes, wenn er es vom Ballast der Falschheit, jeder Art von Entstellung und selbstsüchtigen Verdrehung säuberte. Paulus befand sich zeitlebens in der Kampfbahn und schonte sich als Kämpfer nicht. Er war ein mutiger Fechter, der mit dem Degen nicht in der Luft herumschlug, sondern die Spitze des Degens auf das Herz der Menschen gerichtet hielt, wenn er sie zur Besserung ermahnte. In diesem Kampf blieb er unermüdlich, denn es ging ihm um den unvergänglichen Siegeskranz des Glaubens. Eckhard Hieronymus drückte die Bewunderung vor diesem entschlossenen und furchtlosen Kämpfer aus; er sagte, dass er den Apostel Paulus in seiner Glaubensfestigkeit und seinem Eifer, das Wort des Herrn zu predigen, sich als Vorbild nehme, wissend, dass er wohl kaum an seine Wortgewalt herankommen werde. Doch wolle er ihm nacheifern, sich nach Kräften bemühen, ein guter Pfarrer für die Gemeinde zu sein. Er sei entschlossen, das Wort und die Wahrheit des Herrn zu verkünden, die Gemeinde auf die Folgen der Sünden und auf das Liebesangebot des Herrn hinzuweisen, der die Sünden vergibt, wenn der Mensch sie bereut und bereit ist, Babylon den Rücken zu kehren, und sich bemüht, auf den Weg der Wahrheit, der mit harten Steinen gepflastert ist, zurückzukommen.

Der Regen klatschte gegen das Fenster. Luise Agnes räumte den Tisch ab, sah nach den eingerollten Handtüchern auf den Fensterbänken, wrang einige über dem Eimer aus und legte sie auf die Bänke zurück. Dann setzte sie sich an den Tisch zurück und nahm die Häkelarbeit an der Wolldecke wieder auf. Sie hatte es zu jener Fingerfertigkeit mit der Häkelnadel gebracht, dass sie mit ihren Gedanken abschweifen und wandern konnte, was sie auch tat, als sie sich ihren Mann am kommenden Sonntag auf der Kanzel vorstellte, um seine Jungfernpredigt an die Gemeinde zu halten, wenn in der vordersten Reihe der Superintendent und Konsistorialrat Braunfelder sitzt, sich die Predigt anhört und ein Urteil über Inhalt und Aufbau, über Sprache, Aussprache und Stil bilden wird. Luise Agnes hatte diesen gewichtigen Rat persönlich nicht kennengelernt, hatte aber von Eckhard Hieronymus gehört, dass er ein untersetzter Herr um die sechzig mit ergrautem Haar und Stirnglatze war, der einen strengen Eindruck machte, dem ihr Mann bei seinem Vorstellungsgespräch kein Lächeln abgewinnen konnte, der sich vielmehr seiner gehobenen Position bewusst war, die er den andern aus niederer Position rasch spüren ließ, wenn er, nicht ohne Rechthaberei mit wichtiger Gebärde in die Redeweise eines Studienrates in den letzten Berufsjahren verfiel und sich beim Reden mehr gefiel als beim Zuhören. Eckhard Hieronymus drückte es so aus, dass er bei diesem Rat weder ins Hirn noch ins Herz sehen konnte, dass er sich vielmehr wie ein unbeholfener Junge vorgekommen sei, als er ihm am Schreibtisch gegenübersaß und eigentlich gar nicht alles sagen konnte, was er sagen wollte, weil er einfach nicht zu Wort kam und ihn der Konsistorialrat mit einem Redeschwall über die Grundlagen der Auslegung von Bibeltexten zugedeckt hatte, wobei er die Bemerkung mit dem Gemessenwerden am Text unzählige Male fallen ließ, als käme es ihm auf das Messen vor allem anderen an. Luise Agnes merkte ihrem Mann nach der Begegnung mit dem Konsistorialrat Braunfelder die Nervosität an, die zunahm, je näher der Sonntag der ersten offiziellen Predigt kam. Das Bammelgefühl an ihm war nicht zu leugnen. Er tat ihr leid, dass er die Bürde des Neuen allein zu tragen hatte, die statt leichter nach dem Gespräch mit dem Kirchenrat schwerer geworden war. Doch traute sie ihrem Mann mit der dorfbrunnerschen Dickköpfigkeit auch das nötige Durchstehvermögen und die Kraft zu, den ersten Gang auf die Kirchenkanzel heil und mit Würde zu gehen und beim Besteigen der Wendeltreppe nicht abzustürzen.

Luise Agnes dachte an den schwarzen Anzug und den Termin beim Herrenschneider Stein, einem kurzgewachsenen Herrn im mittleren Alter, dem die Haare vorzeitig ausfielen, als zöge er sich die Haare mutwillig aus, und in den Randpartien ergrauten, während sie über dem Hinterkopf die dunkelbraune Farbe behielten. Die Koteletten aus dunklen Mischfarben zogen bis vor die großen Ohrläppchen der abstehenden Ohren herunter; das rechte Ohr hatte die Größe einer ovalen Suppenkelle und stand mehr ab als das kleinere linke Ohr. Vor beiden Gehörgängen kräuselten sich dichte braune Haarbüschel. Anders als im weißen Hemd und dunkler Krawatte mit geschlossenen Ärmeln und runden Manschettenknöpfen mit je einem dicken dunkelgrünen Smaragd kannte ihn Luise Agnes nicht. Schneider Stein, mit vollem Namen Jakob Stein, der einer polnischen Familie entstammte und ursprünglich Isak Jakob Stansky hieß, hatte sich im Namen dann verdeutscht, als er, noch jung an Jahren, eine Anstellung als Schneidergeselle bei einem alt eingesessenen Schneidermeister in der Stadt der drei Fördertürme fand. Seit einigen Jahren hatte er eine eigene Schneiderei am Stadtrand, genauer im so genannten Steigerviertel, unweit der Fördertürme, also nicht im besten Stadtbezirk. Dennoch nahm seine Kundschaft zu, weil er, wenn auch nicht die beste, so doch eine gute Arbeit zu erschwinglichen Preisen lieferte. Die Stoffe bezog er aus Böhmen und gab sich mit den teuren englischen Tuchwaren erst gar nicht ab. Jakob Stein hatte funkelnde dunkelbraune Augen und eine überproportional große Nase mit einem breiten Nasensteg, der die Knollennase nicht mehr weit entfernt war, in einem freundlichen Rundgesicht mit leicht aufgeworfenen fleischigen Lippen, das stets zu einem Späßchen aufgelegt war. Er hatte einen Bauch von beachtlichem Umfang und atmete beim Maßnehmen lauter als gewöhnlich; noch ungewöhnlicher war sein Keuchen, als kämpfte er sich durch einen asthmatischen Anfall, wenn er sich aus der gebückten Stellung aufrichtete oder von den Knien erhob und mit rotem Kopf oben ankam. Er trug eine dunkle Hose mit weitem Bund, die aus Gründen der größeren Bequemlichkeit an einem braunen Hosenträger mit weißem Mittelstreifen festgemacht war, der breitbändig und kurz über die Schultern zog. Luise Agnes hatte Schneider Stein auch einmal angetroffen, als ihm beim Maßnehmen von unten nach oben ein Hemdzipfel aus der Hose rutschte und wie ein verlorenes Fähnchen herumhing, ohne dass er es merkte.

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner hatte sich nach dem Bad in sein kleines Arbeitszimmer zurückgezogen, um an seiner Predigt zu arbeiten. Der Regen hatte aufgehört, und die ersten Sonnenstrahlen, es war zwischen elf und zwölf Uhr, brachen durch die Spalten der sich verziehenden Wolkendecke. Luise Agnes wrang die nassen Handtücher über dem Eimer aus und nahm sie von den Fensterbänken. Sie öffnete das Schlafzimmerfenster und erquickte sich an der würzig frischen Luft, die ins Zimmer strömte, als sie die Kopfkissen durchwalkte, um die Feder zu lockern, und die Decken zurückschlug, um die Betten zu lüften. Sie schaute durch den Türspalt ins Arbeitszimmer ihres Mannes, sah, wie er mit dem Schreiben beschäftigt war, und ging in die Küche, um Geschirr und Bestecke, die vom Frühstückstisch abgeräumt waren, zu spülen und dann mit dem Kartoffelschälen und Kochen zu beginnen.


Die Dorfbrunners

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