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Anfang März 2016 - Alessia: Tahsin - Die große Kluft

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„Komm‘ schon“, lachte Tahsin, weil er Megans Beunruhigung spürte, „ich machte dir doch wohl keine Angst?“, fuhr er herausfordernd fort. Sie standen noch immer am Rand des Pools, im Garten von Rayans Anwesen.

„Ach was“, beeilte sich die Britin schnell zu versichern. Trotzdem hatte ihr die gerade gewonnene Erkenntnis mehr als deutlich vor Augen geführt, dass jeder weitere Vergleich mit den Jungen aus ihrer Klasse hinfällig sein würde. Als sie bemerkte, dass sich ihr Pulsschlag erhöht hatte, erforschte sie ihre Gefühle. Tahsin hatte sie gefragt, ob sie Angst habe. War das so? Zu ihrer eigenen Überraschung bemerkte sie, dass sie die Frage nicht eindeutig beantworten konnte. Eine gewisse Unsicherheit konnte sie kaum leugnen. Aber der Gedanke, er könne sie ohne zu fragen an sich reißen, sie an Stellen berühren, die sie bisher niemanden hatte anfassen lassen, dieser Gedanke erregte sie. Megan spürte, dass diese Herausforderung der Gefahr sie anmachte.

Die Britin zuckte zusammen, als Tahsin sie aus ihren Fantasien riss, indem er ihre Hand in die seine nahm. „Komm‘“, sagte er lächelnd. „Ich zeige dir die Gärten“, fuhr er in höflichem Tonfall fort. Megan war noch immer ein wenig überwältigt von den sündigen Gedanken, die sie gerade für einen Augenblick vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte. Bisher hatte sie für Jungen nicht viel übrig gehabt. Der eine oder andere Urlaubsflirt hier und da, aber meist hatte ihr Vater jeden Interessenten mühelos vertrieben, lange bevor eine Beziehung überhaupt hatte entstehen können.

Die Berührung von Tahsins Fingern holte sie in die Gegenwart zurück. Nachdem sie ihre Verlegenheit abgelegt hatte, stellte sie fest, dass sie den Kontakt genoss. Der sanfte Druck mit dem er sie galant in die jeweilige Richtung dirigierte ließ ihr Herz noch schneller schlagen. Nur zu gerne folgte sie ihrem attraktiven Begleiter und lauschte seiner Stimme, mit der er ihr die Besonderheiten des Gartens erklärte. Er sprach über Pflanzen, aber auch über die Fliesenmuster der Brunnen. „Er könnte mir auch das Telefonbuch vorlesen“, kicherte sie heimlich in sich hinein, „ich würde ihm trotzdem zuhören.“ Sie merkte nicht, dass Zach ihnen in weitem Abstand folgte, dafür lauschte sie ihrem Begleiter viel zu gebannt. Aber Megan war nicht nur von Tahsin fasziniert, sie war auch ehrlich von der Schönheit der Natur um sie herum beeindruckt. Denn tatsächlich war der Rundgang sehenswert: kunstvoll angelegte, schattige Wege, aber vor allem auch verschlungene Pfade, die sie an diversen Stellen zu liebevoll platzierten Brunnen führten, von denen sich kleine Wasserläufe wegschlängelten. Zwischen dem saftigen Grün fanden sich immer wieder bunte Blumen. Insgesamt war der Garten ein Anblick, der ihren, von den vielen Tagen in der ihrer Ansicht nach tristen Wüste, müden Augen ein Fest bereitete.

Nach einigen Minuten umrundeten sie die Gebäude. Dort standen in einer Koppel mehrere Pferde, die unter Schatten spendenden Bäumen Schutz vor der Sonne suchten. Obwohl die Tiere aufgrund der Temperaturen lediglich träge herumstanden, sah sie auf einen Blick, dass es sich um perfekt gebaute, reinrassige Tiere handelte. „Wow sind die schön!“, entfuhr es ihr.

Tahsin lachte zufrieden. Auf diese Reaktion hatte er gehofft, denn wie sein Vater war auch er stolz auf ihre edle Zucht. „Das ist nur ein kleiner Teil“, erklärte er selbstbewusst. „Du solltest einmal die Herde in meiner Heimat Zarifa sehen“, fuhr er fort. Er sagte es fast ein wenig wehmütig und stellte überrascht fest, dass er sich nach dem großen Tal sehnte. Dabei war er gerade einmal drei Tage von dort weg. Wer hätte das gedacht? Damals im Internat in London, war es ihm wie der langweiligste Ort auf der ganzen Welt erschienen, an den er am besten nie mehr zurückkehren sollte. Mit Erschrecken kamen ihm die aktuellen Ereignisse dort zu Bewusstsein. Ob es allen gut ging? Er fühlte einen Stich seines schlechten Gewissens: er flirtete hier mit einem schönen Mädchen, während die Bedrohung seiner Landsleute weiterhin real war. Schnell verdrängte er diese Besorgnis erregenden Gedanken - schließlich war er in offiziellem Auftrag hierher gesendet worden.

Tahsin widmete sich wieder Megan und führte sie weiter auf dem Weg, der halbkreisförmig zu dem Ausgangspunkt ihrer kleinen Rundtour zurückführte. So sehr er ihre Nähe genoss, er hatte Pflichten, die er nicht vernachlässigen durfte. Seine anderen Gäste warteten auf ihn.

Die Britin riss sich nur ungern von dem faszinierenden Anblick der Pferde los – wie gerne wäre sie auf einem geritten. Sie hatte keine Ahnung, dass sie für dieses Erlebnis eine spezielle Genehmigung benötigen würde. Doch Tahsin wies sie bewusst nicht auf ihre Regel hin, die jedem Fremden verbot, auf den edlen Tieren zu reiten. Sollte jemand es wagen, eigenmächtig gegen dieses Gesetz zu verstoßen, so stand darauf sogar der Tod. Ihm war klar, dass Megan nicht in der Lage wäre, diese harte Tradition zu verstehen. Sie war zu jung für Politik und erst recht für Entscheidungen über das Leben anderer. Zum ersten Mal wurde dem jungen Scheich die große Kluft bewusst, die sie trennte. Er hatte trotz seines jungen Alters bereits harte Entscheidungen treffen müssen und Menschen sterben sehen. Aber genau das war es, was ihn an Megan reizte: Sie holte ihn in die Welt seiner Altersstufe zurück. Sollte er sich nicht eigentlich mit Pop-Charts und Konzerten befassen? Auch die Tatsache, dass das Mädchen aus England kam, rief in ihm Erinnerungen an seine Zeit in der Nähe von London wach. Nicht, dass er das Internat vermisste, eher war es die Unbeschwertheit - ja sogar die Leichtsinnigkeit - nach der er dort gelebt hatte. Energisch rief er sich zur Ordnung. Das war nicht seine Welt und wenn er ehrlich war, hatte er nie dorthin gehört. „Leider müssen wir nun zurück“, mahnte Tahsin seine Begleiterin. „Und es gibt auch noch mehr zu sehen“, fügte er lächelnd hinzu. Er erhielt als Antwort ein begeistertes „es ist so wunderschön hier“, das von einem so strahlenden Lächeln begleitet war, dass der junge Scheich sich nur allzu gerne entschied, dass seine anderen Gäste noch ein wenig länger warten konnten. Tahsin hatte nicht zu viel versprochen: Ein Stück weiter gab es Kamele und besonders ein nur wenige Tage altes Jungtier hatte es Megan angetan.

Mehrere Male trafen sie auf Bedienstete, die entweder im Garten beschäftigt waren, oder sich um die Tiere kümmerten. Jedes Mal hielt die Person inne, um sich tief vor ihrem Herrn zu verneigen. Auch Tahsin grüßte die Menschen, in dem er kurz seine Hand auf seine Brust legte oder leicht mit dem Kopf nickte. Es kam Megan seltsam vor, auf so viel Aufmerksamkeit zu stoßen, denn auch ihr schenkte man jedes Mal ein freundliches Lächeln.

Erstaunt bemerkte Megan, dass sie wieder am Pool angekommen waren, als Tahsin mit deutlich erkennbarem Bedauern sagte: „Leider muss ich dich jetzt alleine lassen. Es wäre unhöflich, deinen Vater und die anderen Mitglieder seines Teams noch weiter warten zu lassen. Wenn du möchtest, kannst du gerne noch weiter herumlaufen. Du bist mein Gast, das wissen die Bediensteten, du darfst dich also frei bewegen“. Anstatt sie loszulassen, nahm er nun auch noch ihre zweite Hand in die seinen. Er stand frontal vor ihr. Sie sah zu ihm hinauf und verlor sich in seinem Blick. Das tiefe Blau erschien ihr wie ein Magnet. Vergessen war alle Verlegenheit. Megan rann ein wohliger Schauer über den Rücken, sie spürte, wie ihre Knie aufgrund der Intensität seiner Anwesenheit weich wurden. Erst als er noch einen Schritt nach vorne trat, sodass er sie fast berührte, versteifte sie sich. Sie ahnte, dass er sie küssen wollte und fühlte sich überfallen. Das ging alles zu schnell! Hatte sie sich vorhin noch über das Alter dieses Tahsin Gedanken gemacht? Was für ein Unsinn! Der Junge war in seiner ganzen Entwicklung und seinem Verhalten so viel weiter, als alle ihrer Klassenkameraden zusammen. „Ich werde in zwei Monaten sechzehn - damit bin ich offiziell ein Mann!“, hatte er gesagt. Megan erkannte, wie wahr diese Aussage war.

Tahsin spürte ihre Verunsicherung und auch, dass sie sich verkrampft hatte. Also ließ er sich seine Enttäuschung nicht anmerken, trat einen Schritt zurück und ließ Megan los.

„Ich muss nun gehen“, sagte er.

Die Britin konnte keinen klaren Gedanken fassen. Auf der einen Seite war sie erleichtert, dass er sie nicht weiter bedrängt hatte, auf der anderen Seite war sie enttäuscht. Und verärgert! Sie war wütend auf sich selbst, dass sie so prüde reagiert hatte. „Was ist bloß los mit dir?“, schimpfte sie sich selbst. Sie hatte bereits andere Jungen geküsst, sogar ausgemachte Knutscharien in der hintersten Reihe des Kinos hatte sie veranstaltet. Was war nun also anders? Die Antwort lag auf der Hand: Bei ihren bisherigen Freunden hatte sie den Takt angegeben. Die armen Bürschchen waren ihr so sehr verfallen gewesen, dass sie vermutlich auch Männchen gemacht hätten, hätte sie es von ihnen verlangt. Außerdem waren diese Jungen genauso unerfahren wie sie. Nur einmal war so etwas wie Verliebtheit dabei gewesen, die anderen Abende könnte man eher unter „Neugier“ und „gegenseitiges Ausprobieren“ kategorisieren. Doch mit Tahsin war es anders. Ihr Instinkt warnte sie, dass er keine Spielchen dulden würde und es ihm ernst war. Zudem erschien ihr sein Verhalten alles andere als unerfahren. Das machte ihr Angst und erregte sie zugleich. Was sollte sie nun tun? Panik ergriff sie, bei dem Gedanken, dass ihre Zurückhaltung ihn beleidigt haben könnte. Prüfend sah sie ihm wieder in die Augen und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass er sie beruhigend anlächelte.

„Ich würde dich gerne wiedersehen“, sagte Tahsin mit samtweicher Stimme, die ihr eine Gänsehaut bescherte. Ohne auf ihre Reaktion zu warten, fuhr er fort: „Ich hole dich morgen früh ab, kurz nach Sonnenaufgang“, mit diesen Worten legte er seinen Zeigefinger einmal neckisch auf ihre Nasenspitze. Das brachte Megan zum Lachen und der Schatten ihrer Verunsicherung war verschwunden. Beschwingt sah sie ihm nach, wie er hochaufgerichtet mit stolzen Schritten den Weg zurück zum Haus nahm und es, ohne sich noch einmal umzusehen, betrat.

Erst da fiel ihr auf, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie ihn auch wiedersehen wollte. Der morgige Termin war eine Tatsache gewesen. Selbstverständlich hatte er vorausgesetzt, dass sie einwilligen würde. Was sie ja auch getan hatte. „Dumme Gans!“, schimpfte sie sich. „Er muss ja jetzt glauben, dass ich allem zustimme, was er anordnet“, dachte sie weiter. Da kam ihr ein ganz anderer - viel erschreckenderer - Gedanke: Wie sollte sie ihren Vater davon überzeugen, sie mit Tahsin gehen zu lassen? Die beiden hatten alles andere als einen guten Start gehabt. Vor allem: Was, wenn der Termin heute nicht gut verlief? Der junge Scheich hatte gesagt, er werde seine Entscheidung verkünden. Megans innere Stimme sagte ihr, dass ihrem Vater genau dies nicht gefallen würde.


Rayan - Im Licht der Rache

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