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Die belgischen Behörden und Kollaborationsbewegungen

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Im Vordergrund der Besatzungspolitik stand die ökonomische Ausbeutung des Landes für die deutsche Kriegswirtschaft. Hierbei und bei der Aufrechterhaltung ihrer militärischen Sicherheit waren die Deutschen auf die einheimische Verwaltung angewiesen. Die Leitlinie der Militärverwaltung, die belgische Administration weitmöglichst dazu heranzuziehen, das Land gemäß der deutschen Weisungen zu verwalten, und ihr insbesondere die Anordnung bzw. die Durchführung unpopulärer Maßnahmen zu übertragen, traf sich auf belgischer Seite mit dem Interesse, die Kontrolle nicht vollständig der Besatzungsmacht zu überlassen und zu diesem Zweck eine pragmatische Kooperation mit den deutschen Machthabern einzugehen, für die der Begriff „Politik des geringeren Übels“ geprägt werden sollte.

Hintergrund waren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, und die vorrangigen Interessen betrafen – ebenso wie auf deutscher Seite – den Wirtschaftssektor. Die Ernährung der belgischen Bevölkerung war zu einem erheblichen Teil von Nahrungsmittelimporten abhängig21, die Erwerbslosenrate lag im Sommer 1940 bei über 25 Prozent, und aus Sicht der belgischen Eliten sollte die Indienststellung der Wirtschaft für die deutsche Kriegsökonomie vor allem verhindern, dass die Besatzer wie im Ersten Weltkrieg Industrieanlagen aus Belgien nach Deutschland transferierten und zu Massendeportationen belgischer Arbeiter schritten. Hinzu kam das Bestreben, einer Herrschaft der belgischen Kollaborationsbewegungen zuvorzukommen, die eine faschistische Gesellschaftsordnung nach deutschem Vorbild bzw. den Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland durchsetzen wollten – zumal die deutsche „Flamenpolitik“ während des Ersten Weltkriegs eine Radikalisierung des flämischen Nationalismus bewirkt und die Ausrufung eines autonomen Flanderns nach sich gezogen hatte.

Im Zweiten Weltkrieg verfolgte die Militärverwaltung ausdrücklich einen anderen Kurs. Hitlers Weisung lautete, die Flamen zu bevorzugen, jedoch einer Entscheidung über die politische Zukunft Belgiens nicht vorzugreifen. Reeder begriff die vorläufige (!) Fortexistenz des belgischen Staates und die Mitwirkung der frankophonen Eliten sowie des großen Teils der flämischen Bevölkerung, der den Kollaborationsbewegungen nicht angehörte, als Voraussetzung der wirtschaftlichen Ausplünderung des Landes. Aus diesem Grund kam es zum Konflikt mit Himmler und insbesondere mit Gottlob Berger, der Flandern baldmöglichst dem Reich angliedern wollte.

Wenngleich die Militärverwaltung auch die Einsetzung ideologischer Kollaborateure in administrative Funktionen für zwiespältig hielt, weil sie sich darüber im Klaren war, dass diese keine Massenbasis hatten und von der Mehrheit der belgischen Bevölkerung nicht akzeptiert wurden, sollte sie bei der massenhaften Auswechselung von Funktionsträgern in der belgischen Verwaltung ab Ende 1940 zunehmend auf Angehörige der beiden Kollaborationsbewegungen „ VNV“ (Vlaams Nationaal Verbond) und „Rex“ zurückgreifen22. Dies waren die wichtigsten, von der Militärverwaltung geförderten Organisationen der „Neuen Ordnung“, wobei Rex unter Léon Degrelle, dessen Anhänger sich aus dem französischsprachigen Bevölkerungsteil Brüssels und der Wallonie rekrutierten, eine wesentlich kleinere Größenordnung aufwies als der flämische VNV, der zunächst Staf De Clercq, ab Herbst 1942 Hendrik Elias unterstand.

Ihre Konkurrenz bildete die von Gottlob Berger protegierte und unter seiner Präsidentschaft Mitte 1941 in die SS integrierte DeFlag (Deutsch-Flämische Arbeitsgemeinschaft/Duitsch-Vlaamsche Arbeidsgemeenschap). Im Gegensatz zu dem VNV, der einen flämischen bzw. großniederländischen Staat anstrebte, propagierte die DeFlag den Anschluss Flanderns an das Deutsche Reich. Beide Organisationen waren antisemitisch ausgerichtet. Allerdings kam dem – aus der NS-Ideologie übernommenen – radikalen Antisemitismus in der politischen Kultur des VNV und des Rex lediglich ein untergeordneter Stellenwert zu 23. Noch im Sommer 1942 meldete der BdS nach Berlin: „In der Tagespresse ist ein größeres Interesse an der Judenfrage auch heute noch ebenso wenig wie bei den politischen Erneuerungsbewegungen festzustellen.“24

Unter den übrigen, von der Mitgliederzahl her unbedeutenden, Kollaborationsorganisationen gab es zwei, die bei der Judenverfolgung eine wichtige Rolle spielten, auch wenn ihre Angehörigen nicht in den belgischen Behördenapparat gelangten, sondern mit der Sipo-SD zusammenarbeiteten:

Die Allgemeine SS-Flandern – 1942 in Germanische SS-Flandern umbenannt und ab 1943 faktisch mit der DeFlag identisch – stand ebenfalls in Konkurrenz zu dem von der Militärverwaltung favorisierten und geförderten VNV und repräsentierte Himmlers Machtansprüche und seine Volkstumspolitik. Außerdem stellte sie freiwillige flämische Polizeikräfte, die insbesondere in Antwerpen, aber auch in Brüssel bei der Verhaftung von Juden mitwirken sollten.

Die Antwerpener Gruppierung Volksverwering (Défense du Peuple), 1937 von dem Anwalt René Lambrichts als eine der ersten antisemitischen Organisationen Belgiens gegründet, betrieb antijüdische Hetzpropaganda und rief zur Denunziation von Juden auf25. Die Sipo-SD holte sie 1941 in die belgische Hauptstadt. Alfred Thomas, Leiter der Abteilung II, zu der das Judenreferat gehörte, bis es Anfang 1943 der Gestapo unterstellt wurde, wollte Lambrichts offenbar zum Chef einer belgischen Behörde machen, die dem französischen „Generalkommissariat für Judenfragen“ gleichen sollte. Als aus deren Einrichtung nichts wurde, gründete das Judenreferat mit Hilfe von Volksverwering ein von der offiziellen Verwaltung unabhängiges Büro unter dem Namen Centrale Anti-Juive pour la Flandre et la Wallonie, dessen hauptamtliche Mitarbeiter von deutscher Seite besoldet wurden26. Diese „Antijüdische Zentrale“ baute die „Judenkartei“ der Sipo-SD auf. Ihr Leiter Pierre Beeckmans, einer der Köpfe der Volksverwering, war überdies ab 1943 für die rassenkundlichen Expertisen zuständig, die darüber entschieden, ob den Anträgen von verfolgten Personen, die sich selbst als Nicht-Juden im Sinne der deutschen Definition bezeichneten, stattgegeben wurde oder ob die Antragsteller deportiert wurden. Darüber hinaus fahndete die Zentrale bereits ab 1941 nach Juden, die die deutschen Verordnungen unterliefen und unterhielt zu diesem Zweck zumindest in Antwerpen einen eigenen Kontroll- und Streifendienst.

Zwar hatten antisemitische bzw. xenophobe, gegen die jüdischen Flüchtlinge gerichtete, Ressentiments in der Metropole Antwerpen bereits vor der deutschen Besatzung in verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Milieus Platz gegriffen. Gleichwohl gingen die Sipo-SD wie die Militärverwaltung davon aus, dass der Antisemitismus in Belgien nur von einer kleinen Minderheit befürwortet wurde, und diese Tatsache bewog den Militärverwaltungschef dazu, die Verfolgung und Deportation der Juden möglichst unauffällig durchzuführen, um Rückwirkungen auf seine Besatzungspolitik zu vermeiden. Reeder suchte diese Taktik auch in Berlin begreiflich zu machen:

„Da der Belgier, teils weil er den Juden nicht kennt [sic], für die Berechtigung der Judenmaßnahmen kein Verständnis aufbringt und darüber hinaus durch die jahrelange Hetze gegen das Dritte Reich in diesem Punkt besonders empfindlich ist, würden großaufgezogene Judenaktionen verfehlt sein. Die Militärverwaltung wird fortfahren, den jüdischen Einfluss ohne laute Aktionen aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben auszuschließen.“27.

Die Grundlagen der Zusammenarbeit von deutschen und einheimischen Behörden waren in Belgien wesentlich fragiler und komplizierter als in Frankreich. Da die Regierung sich im Exil in London befand und Hitler dem kriegsgefangenen König Léopold jede politische Tätigkeit untersagte, gab es in Belgien keinen Souverän. Es kam daher nicht wie in Frankreich zu einer „Staatskollaboration“ (Stanley Hoffmann28), die – etwas verkürzt ausgedrückt – dazu führte, die von deutscher Seite gewünschten Maßnahmen in vorauseilender Weise selbst einzuleiten, um so die eigene Souveränität unter Beweis zu stellen. Allerdings hatte die belgische Regierung mit Blick auf die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg am Tag des deutschen Überfalls ein Gesetz erlassen, das die Beamten dazu ermächtigte, in dringenden Fällen die Amtsbefugnisse ihrer verhinderten Vorgesetzten auszuüben. Die belgischen Generalsekretäre – den deutschen Staatssekretären vergleichbar – und ihr Kollegium, das Comité des Secrétaires généraux, bildeten die oberste belgische Verwaltungsinstanz während der Besatzungszeit. Auf Drängen Reeders unterzeichneten die Generalsekretäre Mitte Juni 1940 ein Protokoll, in dem sie sich dazu bereit erklärten, (1) die deutschen Verordnungen, sofern sie den Rahmen der Haager Landskriegsordnung respektierten, ebenso wie die belgischen Gesetze auszuführen, (2) selbst Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, sofern es sich nicht um politische Angelegenheiten handelte, und (3) diese vor Erlass vom Militärverwaltungschef genehmigen zu lassen.

Mit dieser weiten Auslegung der Kompetenzen der Generalsekretäre schien die Militärverwaltung ihr Ziel erreicht zu haben, die Umsetzung der von deutscher Seite gewünschten Maßnahmen großenteils der belgischen Verwaltung übertragen zu können. In der Praxis sollte sich jedoch zeigen, dass sie hierbei immer wieder auf beträchtliche Widerstände traf, obwohl sie Tausende von Beamten austauschte und in nicht unerheblichem Maße in die Verwaltungsstrukturen eingriff. Diese Widerstände resultierten in Belgien, wo die Justiz traditionell eine herausragende Stellung genoss, aus der Beachtung rechtstaatlicher Normen. Für die Besatzer stellte dies ein erhebliches Hindernis dar. Zum einen ging es um die Frage, wie weit die unter Punkt 2 genannte Rechtsetzungskompetenz der Generalsekretäre reichte und inwieweit die Häupter der belgischen Administration tatsächlich dazu bereit waren, die deutschen Vorgaben in eigene Gesetzesverordnungen zu übersetzen. Zum anderen beriefen sich die Generalsekretäre und andere belgische Funktionsträger, wenn sie die Ausführung deutscher Vorgaben verweigerten, immer wieder auf deren Unvereinbarkeit mit der belgischen Verfassung, und dabei beharrten sie auf Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung (HLKO), der – außer im Falle eines zwingenden Hindernisses – die Einhaltung der landeseigenen Gesetze durch den Besatzer verlangte. Beides war für die Judenverfolgung relevant, wie sich schon im Herbst 1940 erweisen sollte.

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