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„Der Judenstern war der Auftakt der eigentlichen Verfolgung“

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Ende Mai 1942 führten von Falkenhausen und Reeder auf Drängen des Reichssicherheitshauptamts den sogenannten „Judenstern“ in Belgien ein – zeitgleich mit einem entsprechenden Erlass im besetzten Frankreich37. Die Unterwerfung der Juden unter den Kennzeichnungszwang wurde zwischen den deutschen Dienststellen in Westeuropa koordiniert. Dabei kam der Sipo-SD Frankreich eine maßgebliche Rolle zu. Bereits Ende Februar 1942 sandten der stellvertretende Befehlshaber Lischka und Judenreferent Dannecker ein Schreiben an den BdS in Brüssel, in dem sie behaupteten, dass in Frankreich in Kürze eine Kennzeichnungsverordnung erlassen werde, und in dem sie zugleich „im Interesse einer einheitlichen Handhabung in den besetzten Westgebieten“ darauf drängten, den Brüsseler Militärbefehlshaber zur Herausgabe einer entsprechenden Verordnung zu bewegen38. Der nächste Schritt erfolgte am 4. März anlässlich einer im Gefolge der Wannseekonferenz angesetzten Tagung der Judenreferenten bei Eichmann in Berlin, bei der die gleichzeitige Einführung des „Judensterns“ in den Niederlanden, Belgien und Frankreich geplant wurde39. Als Eichmanns Vertreter in Brüssel war zu dieser Zeit Kurt Asche tätig. Am 14. März trafen Dannecker und Asche zu einer Besprechung über die Kennzeichnung der westeuropäischen Juden in Paris zusammen, wobei sie insbesondere skizzierten, wie die von den Militärbefehlshabern bzw. dem Reichskommissar zu erlassenden Verordnungen aussehen sollten. Zentrale Bedeutung kam den Strafbestimmungen zu, die bei Zuwiderhandlung die Einweisung von Juden in Konzentrationslager vorsahen40. Die Verordnungen von Stülpnagels und von Falkenhausens entsprachen dieser Vorgabe41.

Bis zu ihrer Herausgabe sollten allerdings noch mehr als zwei Monate vergehen, während der „Judenstern“ bereits Ende April 1942 in den besetzten Niederlanden eingeführt wurde. In Belgien äußerte Militärverwaltungschef Reeder Bedenken, eine Verordnung zur Kennzeichnung der Juden zu erlassen, da er negative Rückwirkungen auf seine Besatzungspolitik befürchtete. Er sah voraus, dass die Einführung von Kennzeichen – im Gegensatz zu den bis dahin erlassenen antijüdischen Verordnungen – die nichtjüdische belgische Bevölkerung mobilisieren würde bzw. „dass hierdurch zugunsten der Juden eine Mitleidsbewegung entsteht, der die bisher uninteressierte Bevölkerung fernstand“42. Kaum hatte er von Reeders Standpunkt erfahren, wurde der Befehlshaber der Sipo-SD Paris (!) bei Eichmann vorstellig, um eine Einflussnahme des RSHA auf den Brüsseler Militärverwaltungschef herbeizuführen43. Ob Himmler sich daraufhin an Reeder gewandt hat, lässt sich nicht ermitteln. Fest steht, dass von Falkenhausen am 27. Mai 1942 eine entsprechende Verordnung erließ. Eine am selben Tag ergangene Durchführungsverordnung des Militärverwaltungschefs Reeder sah vor, dass die belgischen Kommunen die Ausgabe der Kennzeichen übernahmen; sie machte jedoch die Juden selbst für deren rechtzeitige Beschaffung verantwortlich44. Kurz darauf teilte die Militärverwaltung sowohl den belgischen Behörden als auch der vom Militärbefehlshaber eingesetzten Zwangsvereinigung der Juden mit, dass der Verstoß gegen die Verordnung mit der Einweisung in das Konzentrationslager Breendonk beantwortet würde45.

Der Plan der Militärverwaltung, die belgischen Kommunen mit dem Verkauf der „Gelben Sterne“ zu beauftragen, ließ sich in Antwerpen verwirklichen. In der belgischen Hauptstadt kam es jedoch zu entschiedenem Widerstand. Die Brüsseler Bürgermeisterkonferenz, die alle 19 Kommunen des Großraums Brüssel repräsentierte, lehnte eine Mitwirkung kategorisch ab. Ihr Sprecher Jules Coelst, Bürgermeister der Stadt Brüssel, scheute sich nicht, den Deutschen unmissverständlich mitzuteilen, dass Reeders Verordnung eine unmittelbare Verletzung der allgemeinen Menschenwürde darstellte:

„Es kommt uns nicht zu, die Opportunität der gegen die Juden getroffenen Maßnahme mit Ihnen zu erörtern. Aber wir sind verpflichtet Ihnen mitzuteilen, dass Sie nicht von uns verlangen können, bei ihrer Ausführung mitzuwirken. Viele Juden sind Belgier, und wir können uns nicht dazu entschließen, uns an einer Anordnung zu beteiligen, die so offen gegen die Würde jedes Menschen verstößt, wer er auch immer sei.“46

Diese Weigerung gilt als Wendepunkt in der Haltung der Brüsseler Bürgermeister, die sich an der Ausführung der bis dahin ergangenen antijüdischen Verordnungen durchaus beteiligt hatten. Die Aufkündigung ihrer Kooperationsbereitschaft dürfte wesentlich dem Inhalt der neuen Verordnung zuzuschreiben sein, die die Juden im Unterschied zu den früheren antijüdischen Maßregeln öffentlich und alltäglich sichtbar zu Menschen zweiter Klasse abstempeln sollte.

Dass eine große Bevölkerungsgruppe zum Tragen eines stigmatisierenden Abzeichens gezwungen würde, hätte im Westeuropa des 20. Jahrhunderts vor der NS-Herrschaft wohl kaum jemand für denkbar gehalten und musste die Nicht-Juden beschämen. Daher löste die Einführung der Kennzeichnungspflicht auch in Belgien einen Schock aus47. Dass damit eine neue Qualität der antijüdischen Politik erreicht war, hat niemand besser auf den Punkt gebracht als der nach Portugal geflohene frühere Verwaltungschef der jüdischen Zwangsvereinigung, Maurice Benedictus, der 1943 in einem Bericht für die belgische Exilregierung schrieb: „Die Verordnung zur Einführung des Judensterns bildete den Auftakt der eigentlichen Verfolgung. Von nun an hatten die Juden in Belgien keine ruhige Minute mehr.“48

In der jüngeren belgischen Forschung wird dagegen die These vertreten, dass ein schwerwiegender politischer Vorfall, der nicht mit der Judenverfolgung in Zusammenhang stand – am 5. Juni 1942 zog die Feldgendarmerie unter dem Vorwand einer Routinekontrolle 60 Brüsseler Polizisten zur Verhaftung ehemaliger belgischer Militärs als Geiseln heran – die Brüsseler Bürgermeister dazu bewogen habe, die Ausgabe der Kennzeichen zu verweigern49. Diese Annahme erübrigt sich, wenn man berücksichtigt, dass der Entwurf des oben zitierten Schreibens an die Oberfeldkommandantur vom 4. Juni datiert50. Doch wie man die Motive der Brüsseler Bürgermeister auch immer beurteilen mag, entscheidend bleibt ihre Handlungsweise. Sie lehnten die Ausgabe der Kennzeichen ab. Bemerkenswerterweise differenzierten sie dabei keineswegs zwischen ausländischen und belgischen Juden. Es kann daher keine Rede davon sein, dass der von belgischer Seite gegen die deutsche Judenverfolgung erhobene Einspruch sich stets auf die belgischen Staatsangehörigen beschränkt habe51.

Auch die Zwangsvereinigung der Juden sprach sich gegen eine Mitwirkung aus, vermied jedoch eine Weigerung, für die sie die Verantwortung kaum übernehmen konnte, da Reeders Verordnung die Juden selbst für die Beschaffung der Kennzeichen verantwortlich machte und seine Mitarbeiter angekündigt hatten, dass ein Verstoß mit der Einweisung in das Konzentrationslager Breendonk beantwortet würde52. Daraufhin gab die Oberfeldkommandantur Brüssel die Kennzeichen selbst an ihrem Dienstsitz aus53. Sie setzte dafür lediglich zwei Tage an. Dieser Zeitraum war wesentlich zu knapp bemessen, um an den betroffenen Personenkreis im Großraum Brüssel Kennzeichen verteilen zu können; zudem war der Vorrat der Besatzungsmacht bereits am zweiten Tag erschöpft. Unter diesen Umständen gelang es ihr, die AJB zur Fortsetzung der Ausgabe zu bewegen. Die Zwangsvereinigung musste darum fürchten, dass Juden im Konzentrationslager Breendonk interniert wurden, weil sie noch kein Kennzeichen erhalten konnten. Sie wurde wiederholt bei verschiedenen Repräsentanten der Militärverwaltung vorstellig, um dies zu verhindern, und handelte unter dem Damoklesschwert der drakonischen Strafandrohung.

Dass die Bürgermeister in Antwerpen und Brüssel unterschiedliche Entscheidungen treffen konnten, hatte seine Ursache in der dezentralisierten Organisation des belgischen Staates und den traditionell ausgeprägten Selbstverwaltungskompetenzen der belgischen Kommunen, die dem nazistischen Führerprinzip extrem zuwiderliefen und die die Militärverwaltung mit lediglich begrenztem Erfolg zu beschneiden versuchte. Das weitreichendste Reformprojekt, das die Besatzungsmacht ab 1941 mit Hilfe von Gerard Romsée vorantrieb, war die Bildung von Großgemeinden anstelle der herkömmlichen Agglomerationen der sieben Großstädte Belgiens54. Entsprechende Pläne waren in Belgien durchaus nicht neu, jedoch sehr umstritten. Die 19 Bürgermeister der Stadt Brüssel und der Brüsseler Agglomeration, die in der Brüsseler Bürgermeisterkonferenz zusammengeschlossen waren, leisteten erheblichen Widerstand gegen die Bildung Groß-Brüssels und verweigerten im Februar 1942 ihre Mitwirkung bei dem Projekt. Dies war nicht zuletzt für die Judenverfolgung relevant. Denn die Bürgermeister beratschlagten jeweils, wie sie sich gegenüber deutschen Anforderungen verhalten sollten55. Dabei konnte eine kritische Stimme viel Gewicht erhalten. So soll die Entscheidung, die Ausgabe der Kennzeichen zu verweigern, auf Betreiben des Vorort-Bürgermeisters Jean Herinckx zurückgegangen sein, den der AJB-Verwaltungschef Maurice Benedictus „als Seele des Widerstands in der Brüsseler Bürgermeisterkonferenz“ bezeichnete und der posthum als Gerechter unter den Völkern geehrt werden sollte56. Erst im September 1942 setzten die Deutschen die Eingemeindungsreform in Brüssel durch. Die Errichtung von „Groß-Antwerpen“ hatte die Militärverwaltung dagegen bereits im September 1941 erreichen können. In der flämischen Metropole war die Kollaborationsbereitschaft der einheimischen Behörden eindeutig stärker ausgeprägt als in Brüssel. Die Ausgabe der Kennzeichen ist dafür ein Beispiel.

Es ist auch belegt, dass das Antwerpener Standesamt (Bureel van den Burgerlijken Stand), die kommunale Polizei und die örtliche Gendarmeriebrigade zumindest in Einzelfällen Juden anzeigten, die sich der Kennzeichnungspflicht widersetzten57. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass die belgische Polizei oder Gendarmerie – und dies gilt sowohl für Brüssel als auch für Antwerpen – Juden ohne „Gelben Stern“ verhaftet hätte. Dokumentiert ist indessen, dass die Brüsseler Kommunalpolizei gegen die Drangsalierung von Juden vorging, die die Kennzeichnungsverordnung nach sich zog. So nahm sie Mitte Juni 1942 zwei flämische SS-Männer fest, die durch ein von jüdischen Immigranten bewohntes Viertel zogen, um die angetroffenen Juden zu schlagen oder zum Niederknien zu zwingen58.

Die Shoah in Belgien

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