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1.1.2 Biblical Performance Criticism

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Weit verbreitet in der neutestamentlichen Wissenschaft ist das Postulat, dass in der Antike grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ gelesen wurde. Teilweise wird es sogar in der extremen Form der Ausschließlichkeit vorgetragen1 und a) dahingehend erweitert, dass Texte in der Antike (u. a. wegen des geringen LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität) „normalerweise durch VorleserVorleser und in Gruppen“2 rezipiert wurden, sowie häufig b) mit der These einer primär durch OralitätMündlichkeit geprägten Kultur verbunden, in der die neutestamentlichen Schriften entstanden seien.3 Sowohl das Lesen4 als auch der Prozess der TextproduktionTextproduktion5 seien primär mündlich konzeptualisiertMündlichkeit konzeptuell gewesen.6 Dies wiederum führt zu der verbreiteten Sicht, dass antike Texte, insbesondere die neutestamentlichen, nichts anderes seien als das gesprochene Wort transformiert in ein anderes Medium.7 In Analogie zu modernen Aufnahmemedien wird daher die Schrift gerne als Speichermedium für das Wort verstanden bzw. werden antike SchriftsystemeSchrift-system in Analogie zu NotationssystemenNoten in der MusikMusik beschrieben und analysiert.8 Die Rezeptionssituation sei daher umgekehrt zu verstehen als „restoration of the book to its pristine moment of oral origin.”9

Aufbauend auf diesem Theoriegebäude, das ich hier nur in wenigen Pinselstrichen angedeutet habe und das beeinflusst ist durch das Paradigma, die antike Welt und Literatur primär unter der Kategorie „OralitätMündlichkeit“ zu beobachten,10 sowie im größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang des sog. performative turns in den Kulturwissenschaften zu sehenSehen ist,11 hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten v. a. in der anglophonen Forschung eine zunehmend mehr Anhänger findende Sichtweise auf die neutestamentlichen Texte im frühen ChristentumChristentum entwickelt. Diese Sichtweise geht vom Folgenden aus: Die neutestamentlichen Texte wurden im Rahmen ihrer Erst- und frühen Folgerezeption nicht einfach gelesen bzw. vorgelesen, sondern performed. Darunter verstehen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Sichtweise eine Vortragspraxis, die in Analogie zu antiken Dramenaufführungen und zur Vortragsweise von RedenRede aufzufassen sei. Der Fokus liegt dabei auf dem Versuch, z.B. die genaue Vortragsweise und Stimmführung im Hinblick auf den Klang der Rede/die RhetorikRhetorik, die stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung von einzelnen RollenRolle (scroll), die Mimik und Gestik und v. a. die möglichen Reaktionen des Publikums zu untersuchen. In mehreren programmatischen Artikeln wurde dieser Ansatz von D. M. Rhoads als neue Methode der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism12 (Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism) vorgeschlagen.13 Mittlerweile verkündet er den Ansatz sogar als Paradigmenwechsel, mit dem ein aus dem Druckzeitalter stammendes Paradigma (AutorAutor/Verfasser – geschriebener Text – individueller „leiser“ LeserLeser) abgelöst würde.14 Der Ansatz wurde ferner auch in der judaistischen Forschung adaptiert.15 Seit 2008 existiert auch eine eigene Reihe (BPCS), in der das Ziel des Ansatzes programmatisch folgendermaßen zusammengefasst wird:

„to reframe the biblical materials in the context of traditional oralMündlichkeit cultures, construct [imaginative]16 scenarios of ancient performances, learn from contemporary performances of these materials, and reinterpret biblical writings accordingly.“

Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism nehmen an, die neutestamentlichen Texte seien nicht auf der Grundlage eines Schriftmediums vorgelesen, sondern auswendigAuswendiglernen vorgetragen worden. Damit wird die Existenz von Lesen im frühen ChristentumChristentum im eigentlichen Sinne negiert – abgesehen von der Nutzung von Manuskripten zum Auswendiglernen durch das „lauteLautstärkelaut“ Sich-selbst-VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt. P. J. J. Botha geht sogar so weit, nicht nur das „leiseLautstärkeleise“ Lesen für die gesamte Antike in Frage zu stellen, sondern auch alle Formen von lesenden Zugriffen auf SchriftmedienLese-medium, die einen Text nicht linear „oralMündlichkeit“ re-realisieren17 – also z.B. einen nachschlagenden, selektivenUmfangselektiv Zugriff, das Überspringen von Passagen usw. Die vielfältigen denkbaren Möglichkeiten werden im Rahmen dieser Studie v. a. unter 3 und 6 thematisiert und an den Quellen untersucht werden. Das Memorieren hätte die Funktion gehabt, einen Text entweder vor einer Gruppe zu „performen“ oder für eine nachfolgende durch rein mentale Verarbeitung entstehende KompositionKomposition zu nutzen, die dann wiederum „oral“ (d. h. in Form eines Diktats) zu PapyrusPapyrus gebracht worden wäre.18 Hier zeigt sich der Einfluss aus der Oralitätsforschung (s. o.): In überlieferungskritischer Hinsicht (und bei faktischer Negierung der Literarkritik, da Komposition auf der Grundlage schriftlicher Quellen mit diesem extremen Ansatz faktisch ausgeschlossen wird) wird postuliert, dass etwa das MkEvMk (in einem zeitlich ausgedehnten Prozess) in performance komponiert und geschriebenSchriftGeschriebenes worden sei.19 Überhaupt wird vielfach negiert, dass es in der Antike so etwas wie vom AutorAutor/Verfasser verbindlich herausgegebene EditionenEdition gegeben habe und Botha sieht darin den entscheidenden Grund für die Entstehung von Textvarianten in der hss. Überlieferung antiker Texte.20 PublikationPublikation/Veröffentlichung sei in der Antike und im frühen Christentum nichts anderes gewesen als der Akt des performativen Vortrags in einer Gruppe. Schriftliche Kopien seien lediglich mehr oder weniger zufällig durch Mitschriften oder das Herausgeben von Kopien an Freunde in Umlauf gekommen.21

Die Grundannahmen und die historische Rekonstruktion antiker und frühchristlicher LesepraxisLese-praxis im Rahmen der sog. PerformanzkritikBiblical Performance Criticism und die zuweilen zu findende Überbetonung von oralityMündlichkeit/aurality in Bezug auf die Produktion und Rezeption frühchristlicher Literatur hat L. Hurtado in einem wegweisenden Artikel zu Recht und mit überzeugenden – zuweilen allerdings angesichts des begrenzten Raumes nur angerissenen – Argumenten kritisch diskutiert und weitestgehend als crucial claims, highly dubious inferences und historical oversimplifications zurückgewiesen.22 (Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ähnliche Thesen in Bezug auf die hellenistische Poesie in der klassischen Philologie kritisch gesehen werden.)23 Wissenschaftstheoretisch ist dies als notwendige Gegenbewegung zu verstehen, die auf die durch das neue Paradigma des sog. performative turns entstandenen blinden Flecken aufmerksam macht, die maßgeblich durch ein weitgehendes Zurückdrängen von philologischen Detailfragestellungen und eine, dem Durchsetzen von Paradigmenwechseln häufig inhärenten, zunächst einseitige HeuristikHeuristik bedingt sind. Prägnant formuliert Hurtado bezüglich des weit verbreiteten Grundnarrativs (und die nachfolgende Untersuchung wird dies auf einer viel breiteren Quellenbasis bestätigen): „[I]t is simply misinformed to assert that texts [in the Roman era] were only (or even dominantly) read aloud and in groups, and were, thus, merely appendages to ‚orality‘.“24 Er verweist zudem u. a. darauf, dass die Rolle des Diktierens im Prozess der Entstehung insb. literarischer Texte nicht überschätzt werden darf25 und weist entschieden die These zurück, das MkEvMk oder irgendein anderer Text sei in performance komponiert worden.26

Der entscheidende Einwand gegen die sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Rekonstruktion der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist aber ein methodologischer, den auch Hurtado andeutet: Die Quellen, die der Rekonstruktion performativer Präsentationen der neutestamentlichen Texte sowie der Reaktionen des Publikums zugrunde liegenHaltungliegen, stammen fast ausnahmslos aus dem Bereich der (meist narrativen, z. T. theoretischen) Reflexion antiker Dramenaufführungen und der RhetorikRhetorik bzw. sind ikonographischeLese-ikonographie Darstellung von Dramenaufführungen oder Rednern.27 Schauspieler und RednerRedner sollten aber nicht mit den Vorlesenden von Texten verwechselt werden, wie Hurtado es formuliert.28 Oder anders gesagt: Es fehlt eine historische Begründung, die m. E. auch nur schwer möglich ist, inwiefern die Quellen, die sich auf das TheaterTheater und die RedeRede beziehen, für die Rekonstruktion von diversen Vorlesesituationen herangezogen werden könnten. Es kommt hinzu, dass es sich bei der vielfach belegten recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung), auf die sich nicht nur die Vertreterinnen und Vertreter der Performanzkritik beziehen,29 um eine Institution handelt, die fest mit der Präsenz des Autors verknüpft ist und zeitlich vor der eigentlichen PublikationPublikation/Veröffentlichung eines Werkes angesiedelt ist.30 Die recitatio ist daher kein beliebig verallgemeinerbarer Rahmen für die Rezeption literarischer und poetischer Werke.31 „Going to a recitationrecitatio was not a substitute for reading. It was a (sometimes tedious and socially obligatory) prelude to reading.“32

Insgesamt ist zu kritisieren, dass durch die extreme Fokussierung auf den Aspekt der MündlichkeitMündlichkeit der Quellenbefund nur selektivUmfangselektiv wahrgenommen wird und viele, in dieser Studie zu besprechende, Facetten antiker LesepraxisLese-praxis unbeobachtet bleiben. Bei aller Kritik insbesondere an der sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rekonstruktion antiker Lesepraxis im Rahmen der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist schon hier zu betonen, dass damit nicht in Frage gestellt wird, die RhetorikRhetorik neutestamentlicher Texte zu untersuchen.33

Zuletzt schlussfolgert aber auch Hurtado aus dem handschriftlichen Befund (v. a. aus den sog. readers’ oder reading aidsLese-hilfe (reading aid)) wie aus dem NT (insb. Mk 13,14Mk 13,14 parMk 13,14 par; Lk 4,16Lk 4,16–21Lk 4,16–21; Act 13,15Act 13,15; 15,21Act 15,21; 17,10 fAct 17,10 f; 1Thess 5,271Thess 5,27; Kol 4,16Kol 4,16; Apc 1,3Apc 1,3), dass im frühen ChristentumChristentum Texte „most often in group-settings“34 gelesen, d. h. vorgelesen worden wären.35 Damit setzt er gegen die These besonderer performativer Lesungen, die ohne Textmedium ausgekommen wären, eine andere (allerdings nicht mehr weiter entfaltete) monosituative Verortung frühchristlicher LesekulturLese-kultur, an denen sich auch die Monographien von D. Nässeqvists (2016 erschienen) und B. J. Wrights (2017 erschienen) orientieren.

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