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1.1.3 Public Reading/Communal Reading

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D. Nässelqvists Studie setzt sich zwar insofern von der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ab, als er die Kritik Hurtados aufnimmt, die einseitige These der Performanz auswendiggelernterAuswendiglernen Texte problematisiert und die Materialgebundenheit frühchristlicher LesepraxisLese-praxis betont.1 Sein Erkenntnisinteresse liegt aber zuletzt auch darin, oralMündlichkeit delivery im Rahmen von public readingpublic reading events zu rekonstruieren.2 Dazu untersucht er zunächst die materiellenMaterialität Überreste antiker und frühchristlicher Lesepraxis in Relation zur PragmatikPragmatik des Lesens (Kap. 2), betont die Wichtigkeit von auf das Lesen spezialisierter Lektoren im Rahmen der antiken und frühchristlichen Lesepraxis (Kap. 3) und führt im Anschluss an M. E. Lees und B. B. Scotts Sound Mapping und zusätzlich gestützt auf Aussagen der antiken Rhetoriktheorie eine Methode zur Analyse des Klangs griechischer Texte ein (Kap. 4), die er dann exemplarisch an Joh 1–4Joh 1–4 vorführt (Kap. 5–8).

Ganz ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt B. J. Wright das Thema Lesen im frühen ChristentumChristentum in seiner 2017 erschienenen Studie „Communal Reading in the Time of JesusJesus“. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die m. E. sehr richtige Feststellung, dass Lesen insbesondere durch den starken Fokus der Forschung auf Oralitätsfragen weitestgehend vernachlässigt worden ist. Demgegenüber fordert er mit communal readingcommunal reading events eine neue control category und schreibt sich damit in einen Diskurs bezüglich bestimmter „‚quality controls‘ that must have been in place […] in order to account for the transmission of the earliest Jesus movement“ ein.3 Sein Erkenntnisinteresse liegt also vor allem darin, communal reading events als einen wichtigen Faktor in der Formierung und (textlichen) Überlieferung der Jesus-TraditionTradition zu plausibilisieren, wobei er jedoch betont, dass das Ziel seiner Studie zunächst darin liegt, zu belegen, dass communal reading events ein weit verbreitetes Phänomen im ersten Jh. n. Chr. gewesen seien.4 Weiterführende (und die eigentlich spannenden) Fragen, wie genau communal reading events die Transmission christlicher Traditionen im 1. Jh. steuerten u. ä., könnten dann erst auf der Grundlage der Beantwortung dieser Frage bearbeitet werden.5 Die Untersuchung selbst besteht dann aus einem Teil (Kap. 3f), in dem er die politischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Bedingungen von communal reading events auswertet und auf einige sehr wichtige Punkte hinweist, die, insbesondere in der anglophonen neutestamentlichen Forschung, ein primär an „OralitätMündlichkeit“ ausgerichtetes Paradigma verfolgt, zuweilen nicht beachtet werden.6 Darauf folgt ein umfangreicher Teil, in dem er Quellen zu communal reading events in der paganen, jüdischenJudentum und christlichen Literatur, die er in das erste Jh. datiert, zusammenträgt (Kap. 5f). Am Ende resümiert er: „Overall, the findings show that communal reading events were more common and widespread geographically in the first century CE than the current academic consensus assumes.“7

Das zentrale methodische Problem der beiden Studien besteht darin, dass sie durch ihren Fokus auf communal readingcommunal reading events ihre HeuristikHeuristik enorm einschränken und ihre Thesen weitestgehend nur auf solchen Quellen basieren, die auf Vorleseszenen verweisen. Evidenzen für LesepraktikenLese-praxis jenseits von communal reading events bleiben hingegen völlig (bei Nässelqvist größtenteils) ausgeblendet. Schwierig ist außerdem, wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird, Nässelqvists These einer ubiquitären Verbreitung (und gleichsamen Notwendigkeit) sog. Lektoren, die für das Lesen bzw. die performativen Lesungen zuständig gewesen wären.8 Auch seine Thesen zum Zusammenhang zwischen dem hss. Befund und der Lesepraxis werden im Rahmen dieser Arbeit zu problematisieren sein. Zudem wird zu fragen sein, ob die von ihm untersuchten „phonologischenPhonologie“ Strukturen eines Textes zwingend in ausschließlicher Relation zu public readingpublic reading events stehen müssen. Bei der Arbeit von Wright kommt hinzu, dass er sämtliche Quellen, auch solche, in denen sehr unspezifisch von Lesen die Rede ist, konsequent seiner Kontrollkategorie zuordnet. Dabei missachtet er z. T. argumentative oder literarische Kontexte; zudem fehlt eine methodologische Reflexion der Schwierigkeiten, von literarischen Darstellungen von Lesepraktiken auf die sozial-historische Wirklichkeit zu schließen. So belegen einige Quellen, die er anführt, wahrscheinlich bzw. sicher keine communal reading events:

P. Oxy. 31 2592 ist keine Einladung zu einem communal readingcommunal reading event, wie Wright suggeriert,9 sondern zu einem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl im Serapeion. Ob dort gelesen wurde, geht aus dem PapyrusPapyrus nicht hervor. Wenn in Prop. Properz2,24,1f geschriebenSchriftGeschriebenes steht, Properz’ Schrift Cynthia werde überall auf dem ForumForum gelesen (toto Cynthia lectalego foro), ist hier kein communal reading event und keine RezitationRezitation gemeint, sondern viele individuell Lesende, wie u. a. Prop. 3,3,19f zeigt.10 Diog. 12,1 ist nicht nur wegen der Diskussion um den sekundären Charakter der letzten beiden Kapitel des Diognetbriefes (communis opinio), schwierig; auch geht aus der Formulierung (selbst wenn man die literarische Einheit annehmen würde) keinesfalls hervor (s. u. Anm. 392, S. 468), dass ein communal reading event vorauszusetzen wäre.11 Inwiefern Pap 2[!],3 (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,39,8) ein communal reading event belegen sollte, bleibt mir völlig schleierhaft.12 Der dort in ungenauer englischer Übersetzung angegebene Text, der allem Anschein nach nicht im Griechischen geprüft wurde, gehört zudem zum einleitenden Rahmen Eusebs und nicht zum Wortlaut von PapiasPapias, sodass eine Datierung ins 1./2. Jh. falsch ist. Diese Kritik gilt auch für das als Fragment 7 aus dem Ebionäerevangelium angegebene ZitatZitat, das aus dem einleitenden Rahmen bei Epiphanius stammt (Epiph.Epiphanius von Salamis panar. 30,22,4) und das definitiv nicht auf gemeinschaftliches Lesen verweist.13 Auch seine Interpretation von Ps.-Apollod.Apollodor von Athen bibl. 3,5,8 (52) als Beleg für ein communal reading event14 basiert auf der ungenauen englischen Übersetzung durch J. G. FRAZER. Die auf S. 215 zitierte Stelle aus den Oracula Sibyllina belegt definitiv kein communal reading event (s. u. Anm. 75, S. 126) und ist auch nicht ins 2 Jh. v.–1. Jh. n. Chr. zu datieren. Der zitierte Satz stammt aus dem (eindeutig christlichen) redaktionellenRedaktion/redaktionell PrologProlog (Sib. prol.), der nicht vor dem 6. Jh. n. Chr. entstanden ist.15 Wenn FrontoFronto, Marcus Cornelius in einem seiner Briefe an Antoninus Pius schreibt, dieser würde im TheaterTheater oder beim BankettSymposion (convivium) wiederholt lesen (lectitolectito; Front. ep. 4,12), so ist hier vermutlich eher gemeint, dass er für sich selbst liest.16 Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Konkret wird seine enge HeuristikHeuristik etwa daran deutlich, dass er einerseits sowohl ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω als auch ἐντυγχάνωἐντυγχάνω als „common markers of communal readingcommunal reading events“ versteht.17 Hier zeigt sich als Desiderat das Fehlen einer eingängigen lexikologischen und semantischen Analyse der griechischen und lateinischen Leseterminologie. Zahlreiche andere Termini, die Lesen bzw. die Rezeption von Texten anzeigen, werden andererseits überhaupt nicht berücksichtigt. Wie schon bei den zuvor diskutierten Ansätzen handelt es sich daher bei Nässelqvists und Wrights Ansatz ebenfalls um eine monosituative Verortung des Lesens im frühen ChristentumChristentum, wobei die Kategorie WortgottesdienstGottesdienstWort-/liturgische Lesung o. ä. durch das public/communal reading event ersetzt, dabei aber freilich breiter in der griechisch-römischen Welt kontextualisiert wird. Den meisten der skizzierten Forschungsbeiträge, die das Lesen im frühen Christentum monosituativ verorten, ist gemein, dass sie im Rahmen eines breiteren Diskurses in den altertumswissenschaftlichen Fächern stehen und davon beeinflusst sind. Dieser Diskurs und dessen problematische Implikationen sind im Folgenden zu beleuchten.

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