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1. Warum musste Alex sterben?

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Arnfinn tritt ans Fenster seiner Fabrik-Etagenwohnung. Zum wiederholten Male geniesst er den Spree-Blick. Die Spree ist Grenzgebiet, ihr Zugang vom Ost- und West-Berliner Ufer steckt voller Gefahren. Er schaut Richtung Oberbaumbrücke.

Arnfinn ist mittelgroß, er hat volles Haar, das früher einmal blond war, mit leichten Geheimratsecken. Er trägt Jeans und ein Foto an der Wand zeigt ihn als früheren Angestellten im Kreise seiner Kollegen mit Schlips und Anzug.

Er durchforstet seine im Regal stehende Plattensammlung. Deren Plattencover bezeugen seine Vorliebe für die Rock & Pop-Musik der 1970er und 1980er Jahre. Im Internet-Radio läuft diese Musik Nonstop. Arnfinn blickt auf das Display. „Oldie“-Sender? Ist sein Musikgeschmack antiquiert?

Arnfinn greift zur Tageszeitung, die auf dem Fensterbrett liegt und liest die Schlagzeilen.

„Berliner sprang aus dem Fenster, weil sein Freund Aids hatte. BERLIN. In den frühen Abendstunden des 7.Oktobers kam es zu einem Polizeieinsatz in der Kreuzberger Cuvrystrasse. Anwohner hörten laute Hilferufe und alarmierten die Polizei. Bei ihrem Eintreffen fanden die Beamten im Hinterhof einen leblosen Körper. Bei diesem handelte es sich um Alexander K. aus der Dachgeschosswohnung.“

Starr vor Entsetzen liest Arnfinn wieder und wieder die abgedruckte Zeile. Nein, er kann es nicht fassen. Wie ist das möglich? Warum musste Alexanders Leben auf tragische Weise enden?

„Der Notarzt kann den Schwerverletzten zunächst wieder beleben. Er wird ins nahe gelegene Urban-Krankenhaus gebracht. Später im Uni-Klinikum Steglitz kann nur noch sein Tod festgestellt werden. Weitere Einzelheiten sind bislang nicht bekannt.“

Innerlich aufgewühlt ringt Arnfinn um Fassung und versinkt in seinen Erinnerungen.

Alexander und Arnfinn schlendern durch die Bleibtreustrasse. Sie gehen unter der S-Bahnbrücke hindurch, vorbei am Restaurant- und Caféhaus „Zillemarkt“ mit seiner grossen, ausladenden Fensterfront und dem antik anmutenden Ambiente im Innern.

„Kennst du Heinrich Zille und sein Milljöh?“ will Arnfinn von Alexander wissen.

„Natürlich nicht!“

„Die Berliner nannten ihn „Pinselheinrich“. Solange ich mich erinnere, gibt es diese Kneipe schon,“ weiss Arnfinn.

Sie schlendern weiter und erreichen die traditionelle Pizzeria nur wenige Meter entfernt. Das Pizzablech kommt frisch aus dem Ofen. Der junge Pizzabäcker trägt Handschuhe. Mit Hilfe eines grossen, scharfen Messers unterteilt er es in kleinere Stücke. Er tut dies gewohnheitsmäßig, so als könne er es im Schlaf.

„Wir haben den richtigen Moment abgepasst,“ bemerkt Arnfinn.

Auf dem Pizzablech werden die vielen Einkerbungen erkennbar, wo das Pizzamesser wieder und wieder im gleichen Abstand auf das Blech trifft. In der Fensterecke wartet ein weiteres Blech mit ausgerolltem Pizzateich, bestrichen mit Tomatensosse und belegt mit Zutaten wie Salami, Pilzen und Pizzakäse darauf, in den Ofen zu wandern. Bezahlt wird am Tresen. Arnfinn erhält einen Kassenbon, den er beim Pizzabäcker einlöst. Der spiesst ihn auf, greift sich zwei Pappteller, worauf er je ein ofenfrisches Stück Pizza legt.

„Noch eine Peperoni dazu?“ fragt ihn der Pizzabäcker.

Dabei schaut er Arnfinn und Alexander fragend an. Alexander nickt zustimmend, Arnfinn lehnt dankend ab. Beide nehmen ihre Pizza, dazu eine Serviette und setzen sich gegenüber an einen der langen Holztische.

„Lass es dir schmecken,“ sagt Alexander zufrieden.

„Danke, du dir auch.“

Die Pizza ist von gleich bleibender Qualität, nur die jungen Pizzabäcker wechseln im Jahresrhythmus.

Arnfinn steht noch immer am Fenster und schaut zum wiederholten Male hinaus auf die Spree. Vor seinem inneren Auge sieht er Alexander und schaut ihm tief in die Augen. Er registriert sein Lächeln und erliegt seinem Charme. Sein Profilbild verzaubert ihn: diese rehbraunen Knopfaugen, dieser dunkle Teint und dies lange, dunkelbraune Haar.

Wütend zerreisst Arnfinn die Zeitungsseite, öffnet einen Fensterflügel und wirft die Zeitungsschnipsel hinaus ins Freie. Für einen Moment flattern sie in der Luft, beschreiben kleine Kreise, so als wollten sie sich verabschieden. Dann trägt der Wind sie davon.

Arnfinn versucht sich zu beruhigen, er atmet tief durch. Es stinkt zum Himmel. Etwas ist faul, nur was? Wird er den Dingen auf den Grund gehen, alle Fakten hinterfragen und sich selbst ein Bild machen? Alexanders letztes Geheimnis, wird er es heraus finden? Die Einladung zur Wochenend-Party kann er getrost vergessen.

Da klingelt das Telefon. Arnfinn nimmt keinerlei Notiz davon. Ihm ist nicht nach Partystimmung zumute. Sollen die ohne ihn rocken. Er macht sich heftige Vorwürfe, weil er erst hier und heute davon erfuhr. Ausgerechnet zum Zeitpunkt seines Todes war er nicht zur Stelle. Wie wird Alexander über ihn denken, da, wo er jetzt ist? Nie wird er es je erfahren. Wird es ihm gelingen, das Unbegreifliche zu realisieren und diese Tatsache akzeptieren? Arnfinn erzittert am ganzen Körper. Es ist Herbst und er trägt nur ein kariertes Baumwollhemd. Wieder versinkt er in seinen Erinnerungen.

Bertram, so sein Spitzname, gehört zu den exponiertesten Vertretern der Klassengemeinschaft. Mit dessen Mutter bewohnt Bertram eines der ältesten Häuser des alten Stadtkerns rund um die Jesus-Christus-Kirche. Das Haus mit seinen schiefen Wänden und durchhängenden Decken ist baufällig. Bertram selbst feiert gerade seinen sechzehnten Geburtstag, als er in die Klasse kommt. Bertram besitzt eine athletische Figur und hat auffallend lockiges Haar. Er ist einen ganzen Kopf grösser als Arnfinn.

Bertram lebt in den Tag hinein und hat so viele Freundinnen wie Finger an der Hand. Arnfinn besucht ihn daheim. In der Zimmermitte thront sein Bett, darüber ein roter Baldachin. An der Wand hängt ein lebensgrosser BRAVO-Starschnitt. Mit ganzem Stolz präsentiert ihm Bertram seine Platten-Sammlung. Darunter ist das „Weisse Doppelalbum“ der Beatles, eine absolute Rarität. Die Stereoanlage macht auf Arnfinn wenig Eindruck. Dafür ist die Grösse seiner Boxen nicht mehr zu übertreffen.

„Pass auf, dreh‘ ich voll auf die Scheisse …haut es Dich glatt um …ne Alter?“

Bertram macht seine Ankündigung wahr und dreht die Musik voll auf, bis ihnen die Ohren flattern. In der unmittelbaren Nachbarschaft gibt es nur das einzige Kino der Stadt.

„Zuhause kann ich tun und lassen, was ich will. Niemand redet mir da rein …ne? Und er…“, Bertram deutet an die Wand, „…ist mein grosses Vorbild.“

„Wer zum Teufel ist das?“ will Arnfinn wissen.

„Was, du kennst Jimi Hendrix nicht? …bekannt wegen seiner Gitarrenkünste …die Mädels liegen ihm reihenweise zu Füssen. Wenn er nur will …er kriegt sie alle.“

„Wirklich alle?“ will Arnfinn wissen.

„Du machst Scherze?“

„Sehe ich so aus? Ich meine es ernst. Eines fernen Tages werde ich so sein wie er …mein Wort drauf!“

Mit Hut und in Stöckelschuhen

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