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3. Mekka der Rock- und Pop-Musik

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Zahlreiche Journalisten und Presseleute haben sich im hell erleuchteten Presseraum eingefunden. Hinter dem mittleren von drei Tischen haben Bürgermeister Hansen und Regierungsrat Hans-Rudolf Eberhard Platz genommen. Umsäumt von zahlreichen Mikrofonen ergreift Bürgermeister Hansen als Erster das Wort. Er trägt einen dunkelblauen Anzug.

„Herzlich willkommen zu unserer kleinen Pressekonferenz aus aktuellem Anlass.

Wie, so frage ich mich, können wir zulassen, dass 50.000 Rauschgiftsüchtige in unser beschauliches Städtchen einfallen?“

Regierungsrat Hans-Rudolf Eberhard, ein Nadelstreifen-Träger, kann dem nur zustimmen.

„…mit aller Macht werden wir dies verhindern. Die Verantwortung hierfür trägt allein der Veranstalter.“

„Mit sofortiger Wirkung“, fährt Bürgermeister Hansen fort, „sprechen wir daher ein Festivalverbot aus“, woraufhin ein allgemeines Gemurmel ausbricht.

„Gibt es dazu noch Fragen?“

Germersheim erlebt in diesen Tagen die Invasion von annähernd 70.000 Rockfans. Sie verwandeln das Festival der Isle of Germersheim auf der „Insel Grün“ samt Zelten, Schlafsäcken und Luftmatratzen in ein „Mekka der Rock- und Pop-Musik“. Allein 35 Bands versprechen eine vierundfünfzigstündige Dauerparty. Zuvor empfing die Festivalbesucher eine finster dreinschauende Rocker-Crew, die der Veranstalter im Vorfeld als Kartenkontrolleure und Ordner engagiert hatte. Im Gegenzug dazu wurde die Creme de la Creme damaliger Popgrössen aufgeboten. Beim martialischen Anblick der mit Messern, Eisenketten und Schlagringen bis an die Zähne bewaffneten Rocker traute sich niemand, die Zeche zu prellen.

Gab es bei der Ankunft noch ein kleines Wäldchen, so ist dies binnen Tagen abgeholzt und verfeuert. Überall züngeln Lagerfeuer. Dazwischen sind zahllose Zelte aufgebaut, große wie kleine. Vor den Waschrinnen bildet sich eine riesige Menschenmenge. Zunächst entstehen kleinere und dann grössere Pfützen. Einige Festivalbesucher animiert dies zu regelrechten Schlammschlachten. Das wiederum lockt etliche Zaungäste an. Als auch sie mit Schlamm beworfen werden, verliert sich die Menge so schnell wie sie gekommen ist in sämtliche Himmelsrichtungen. Gegen Abend liegt ein süsslicher Marihuana-Geruch über der Zeltstadt, der langsam seine beruhigende bis entspannende Wirkung entfaltet.

Zu den Bands, die dort ihr Stelldichein geben, gehören neben Pink Floyd in ihrer Ursprungsbesetzung samt Psychedelic-Show der unvergessene Colosseum-Sänger Chris Farlowe, der Ex-Small Faces Sänger Steve Mariott zusammen mit seiner Humble Pie und der inzwischen verstorbene irische Gitarrist Rory Gallagher, einst Mitglied der legendären Taste. Rory trägt mit Vorliebe karierte Baumwollhemden als sein Markenzeichen. Als dessen Rockmusik irischer Prägung erklingt, entlockt Rory seiner E-Gitarre in schneller Abfolge ungewöhnliche Tonlagen, die sich sogleich wieder in Nichts auflösen. In Rorys Stimme liegt etwas Lyrisches und Gequältes zugleich, wofür er anhaltenden Applaus bekommt. Gesangpartien und Gitarrenriffs wechseln einander ab. Rory zählt zu den Popstars neueren Typs, die wenig Aufhebens aus ihren verwaschenen Baumwollhemden oder ihrer acht Jahre alten Stratocaster E-Gitarre machen. Lieber greift Rory zum Bierglas als zu Drogen und glänzt mit gleich drei Zugaben. Auch Rod Stewart hatte sein Erscheinen im Vorfeld angekündigt, bestand aber darauf, vom Hubschrauber aus auf die Bühne zu schweben, was der Veranstalter, Mama Concerts, aus Sicherheits- und Kostengründen ablehnte.

Bürgermeister Hansen ergreift das Wort.

„Gibt es dazu noch Fragen?“

„Eberlein von der Germersheimer Rheinpfalz. Nach meinem Kenntnisstand musste das Rockmeeting nicht extra genehmigt werden. Ist das richtig?“

„Ja, das stimmt“, erklärt Bürgermeister Hansen.

„Es musste lediglich in der Stadtverwaltung angemeldet werden. 40 Bands aus sechs Ländern in drei Tagen auf der Insel Grün …das braucht eine längere Vorlaufzeit. Diese hat es definitiv nicht gegeben. Ja, der Herr dort hinten bitte.“

„Müller-Meier vom Germersheimer Stadtanzeiger. Was wäre bei rechtzeitiger Planung anders gelaufen?“

„Die Frage stellt sich so nicht mehr“, erklärt Regierungsrat Hans-Rudolf Eberhard.

„Wir Stadtväter werden niemals zustimmen, dass unser beschauliches Städtchen zum Tummelplatz für Drogenexzesse wird und Anwohner um ihren Schlaf fürchten müssen.“

Auf der Festivalinsel Grün ist die Polizei mit insgesamt 452 Beamten vor Ort. Unter ihnen sind 54 Kriminalbeamte. Sie sollen den Drogenhandel unterbinden. Angesichts der Besuchermassen wird dies zur schier unlösbaren Aufgabe. Die Beamten beschränken sich auf Stichproben, wobei die jahrelange Erfahrung und das nötige Fingerspitzengefühl ihnen zu Hilfe kommen.

„Jungs, das Wochenende ist gerettet. Macht Euch keine Sorgen“, verkündet Karin, „…habe mir von meinem Hausdealer Reiseproviant besorgt.“ Während Alexander eine Haschisch-Tüte dreht, suchen sich Karin und Arnfinn ein lauschiges Plätzchen. Dort treiben sie es inmitten tobender Fans, dabei nur notdürftig durch Plastikplanen vor neugierigen Blicken geschützt. Später ziehen sie zu dritt einen Joint durch. Um sie herum lagern amerikanische GIs in Zivil, deutlich erkennbar an ihrem kurzen Haarputz. Zur Freude späterer Archäologen-Generationen haben sie die Angewohnheit, all ihre leeren Blechkonserven mit dem Klappspaten einzubuddeln. So hinterlassen sie ein sauberes Umfeld.

Den Pink Floyd-Auftritt um Mitternacht auf der zweigeteilten Bühne mit der riesigen Lautsprecheranlage will niemand verpassen. Nachdem alle Fans auf den Beinen sind, versperren einige den anderen den freien Blick auf das Bühnengeschehen. Pink Floyd appellieren an ihre Fans:

„There are too many people behind you …who can‘t see our stage. Please don‘t stand up!“

Pink Floyd selbst kommen gerade von ihrer grossen USA- und Japan-Tournee zurück. Dieser Auftritt zählt zu einem der wenigen in Deutschland, bevor es weiter geht in die Schweiz, nach Belgien und Frankreich. Zum vorletzten Male erklingt live in Germersheim Pink Floyds Hymne „Atom Heart Mother“. Dafür verzichten sie auf das obligatorische „Dark Side of the Moon“. Weithin hörbar ertönt Roger Waters exzentrische Lyrik „Set the Controls for the Heart of he Sun“, das wie ein Mantra in den Köpfen der Fans widerhallt, „The Heart of the Sun, The Heart of the Sun“. Moog-Synthesizer-Töne und Schlagzeug-Rythmen tragen die Botschaft davon, gefolgt von Mundharmonika- und Akustik-Klängen, gepaart mit Hundegebell und echohaften Sphärenklängen.

„Müller-Meier vom Germersheimer Stadtanzeiger. Gestatten sie eine Zusatzfrage?“

„Ja, bitte.“

Müller-Meier selbst hat langes Haar und trägt Jeans.

„Stimmen sie mir zu, dass Hippie-Kultur und Blumenkinder Trendsetter für lange Haare sind? Zusammen mit zerrissenen Bluejeans wollen sie die Protesthaltung gegenüber dem Establishment ausdrücken …mehr nicht. Dennoch tut ein Grossteil unserer Gesellschaft Langhaarige vorschnell als Nichtstuer und Gammler ab. Ich habe den Eindruck …auch sie als Stadtväter pflegen dieses Vorurteil.“

„Eine solche Unterstellung weise ich entschieden zurück“, empört sich Bürgermeister Hansen, „ja, bitte Herr Eberlein.“

„Stimmt es? …drohen die Veranstalter im Falle eines Festivalverbotes, das Festival dann mit freiem Eintritt zu bewerben?“

„Ja, richtig“, antwortet Bürgermeister Hansen, „diese Drohung steht im Raum …aber schlimmer noch …sie drohen die Besucherzahl könne schnell die 100.000 überschreiten. Aber ich bitte sie …auf diese Kraftprobe werden wir es nicht ankommen lassen. Als wir Stadtväter erstmals vom geplanten Rock-Festival erfuhren, war der Vorverkauf bereits in vollem Gange.“

„Sie können nicht leugnen“, kontert Regierungsrat Hans-Rudolf Eberhard, „dass zwischen Jugendkultur und Drogenkonsum ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Ohne Drogenstimulanz wäre die dreitägige Rock’n’Roll-Party kaum durchzustehen.“

„Entschuldigen sie, nach Rücksprache mit dem Veranstalter muss ich dem widersprechen.“

„Wie das?“

„Man habe“, argumentiert Müller-Meier, „auf Seiten der Veranstalter lange genug nach einem geeigneten Austragungsort gesucht. Nachdem man durch das Festivalverbot der Stadt Germersheim überrascht wurde, war höchste Eile geboten. Der Vorverkauf war bereits in vollem Gange. Zudem habe man die Veranstaltung ordnungsgemäss angemeldet. Doch wenn die Stadt Germersheim sich hinter Vorurteilen verschanze, so der Veranstalter und sich gegenüber der Jugendkultur insgesamt ablehnend verhalte, könne die Stadt nicht auf Verständnis hoffen.“

Nachdem sich im Rathaus im letzten Moment die Erkenntnis durchsetzt, dass der erwartete Massenansturm nicht mehr zu stoppen sei und ein Verbot unwiderruflich ins Chaos führe, wurde der Schalter wieder umgelegt und das Festivalverbot gekippt.

Arnfinn schliesst das Fenster, ihm ist kalt. Er betritt die abgetrennte Wohnzimmerecke und nimmt auf dem schwarzen Ledersofa Platz. An den Wänden sind beigefarbene Mini-Container angeordnet. Darin lagern zahllose Rock-Zeitschriften. Ein Sideboard aus recyceltem Teakholz schmückt die gegenüber liegende Wand. Die Verblendungen aller vier Schubladen und Schranktüren sind aus bedruckten, recyceltem Blech gefertigt.

Mit Hut und in Stöckelschuhen

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