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2. Ins gesellschaftliche Abseits

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Das angestaubte Kino-Foyer trägt den typischen Charme der Wirtschaftswunder-Jahre. Allein das Kino verkörperte die grosse, weite Welt. Das Fernsehen steht noch in den Starlöchern. Es verbreitet sich langsam und vorerst nur stundenweise ehe es für jedermann bezahlbar, zum Statussymbol, Massenphänomen und irgendwann zum Sargnagel des Kinos wird.

„Und du bist wirklich volljährig?“ will der Kinobetreiber von Bertram wissen.

„…wenn ich es doch sage. Fragen sie meine Mutter …ne.“

„Also gut,“ antwortet der Kinobetreiber „…morgen Punkt neunzehn Uhr kannst du hier anfangen.“

„Geht voll in Ordnung!“ antwortet Bertram hocherfreut.

„Dass du mir ja pünktlich bist …hörst du?“ gibt er Bertram noch mit auf dem Weg.

„Aber klar doch!“ antwortet dieser noch im Weggehen.

Im Kinoinneren gibt es eine rote Sitzbestuhlung. Bertram jobbt als Platzanweiser und Kartenreißer. Von seinem Stammplatz aus regelt er die Lautstärke und kontrolliert die Eintrittskarten. Seine Privilegien geniessend liegen ihm die jungen Kinogängerinnen zu Füssen. Das nötige Rüstzeug für seine erotischen Eskapaden erhält Bertram in den nicht jugendfreien Kino-Spätvorstellungen.

„Kommt alle zum Seitenausgang …ne. Bertram liebt Euch!“

„Ach, ja?“ zweifelt Moni an seinen Worten.

„Bertram, du bist der Grösste!“ bestärkt ihn Susi.

In der Zimmermitte thront sein Himmelbett mit den obligatorischen Lautsprecherboxen links und rechts. Dort unter seinem roten Baldachin lässt Bertram die Puppen tanzen.

„Los, macht …will nicht ewig warten. Moni, mach schon …raus aus deinen Klamotten …ne?“

„Ach, dieser verdammte Büstenhalter.“

„Geiles Teil …zeig her!

Frühmorgens trägt Arnfinn die Zeitungen aus. Dabei hetzt er von Haustür zu Haustür und schafft es dennoch pünktlich zum Unterricht. Nur Bertram nimmt es mit der Pünktlichkeit nicht so genau. Immer wenn Bertram übermüdet zum Unterricht erscheint sind heisse Liebesnächte der Grund.

Auch die Englischlehrerin, kurz Gräfin genannt, hat mit Bertram ihre liebe Not. Arnfinn hegt Zweifel, ob ihr energischer Protest nicht bloße Taktik ist und ob sie Bertrams Spiel nicht von Anfang an durchschaut. Erst ihre Tränen überzeugen ihn vom Gegenteil, zumal Bertram sie nicht gerade als Respektsperson behandelt. Ungeniert unterhält sich Bertram mit seinem Hintermann.

„Bertram, hier vorne spielt die Musik.“

„Ach, ja!“ antwortet dieser entnervt.

„Vielleicht hast du die Güte, dich unserem heutigen Unterrichtsthema zu widmen. Ansonsten kann ich auf der Zensurenkonferenz kein gutes Wort für dich einlegen. Mit zwei Fünfen ist Deine Versetzung ohnehin gefährdet.“

Alles schaut erwartungsvoll zu ihm hin. Bertram, der sich dessen bewusst ist, verzieht keine Miene, ehe seine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen erstarren. Daraufhin dreht er sich einmal um die eigene Achse, um wieder bei seinem Ausgangspunkt anzukommen. Noch heute sieht Arnfinn Bertrams auffällige Grübchen vor sich, die für ihn so charakteristisch sind.

Neben dem geteerten Schulhof gibt rechter Hand eine kleine, höher gelegene Wiese. Der Schulhof wird nach drei Seiten hin von den angrenzenden Schulgebäuden umschlossen, während nach vorn der Zufahrtsweg einmündet, auch der zum Lehrer-Parkplatz.

Emsig ist die Gräfin damit beschäftigt, ihren Fiat 500 rückwärts aus der Parklücke heraus zu steuern, was ihr grosse Mühen bereitet. Die Gräfin ist von kleiner Gestalt und im Vergleich zu ihr ist der Mathelehrer von seiner Statur her ein Riese. Als Adam Riese mit ihr ein Techtelmechtel hat, bietet sich ein Bild für die Götter. Gemeinsam besteigen sie ihren kleinen Fiat. Während er aus dem geöffneten Schiebedach heraus schaut, blickt sie kaum hinterm Steuer ihres kleinen Fiats hervor. Aus luftiger Höhe dirigiert er sie aus der Parklücke.

„Ja, gut so! …weiter rechts. Ja, so …weiter geradeaus.“

„Los schnell, das müsst ihr euch anschauen. Adam Riese mit der Gräfin am Steuer, der absolute Brüller!“ trommelt Arnfinn seine Mitschüler zusammen.

Obendrein haben die Jungen Markenpräservative am Auspuffrohr ihres kleinen Fiat befestigten, die zu beachtlicher Grösse anschwellen. In der Religionsstunde wird regelmässig mit Shit gedealt, z.B. mit „Schwarzem Afghan“ oder „Rotem Libanesen“. Mutig lässt sich Bertram im engen Klassenschrank einschliessen.

„Hat jemand Bertram gesehen oder weiss, was mit ihm los ist?“ fragt Pfarrer Traugott in die Runde.

Daraufhin antworten alle wie aus einem Munde: „Feeeehlt!“

Pfarrer Traugott greift zum Klassenbuch und trägt Bertram als „fehlend“ ein. Seppel, der Elektronikfreak, hat zuvor ein Mikro mit dem Klassenlautsprecher verbunden. Über diesen kommen für gewöhnlich schulinterne Durchsagen. Gespannt warten alle auf Bertrams Einsatz. Der lässt auf sich warten. Fast ist Bertrams Abwesenheit vergessen, da ertönt aus dem Lautsprecher ein knackendes Geräusch.

„Ups …hier ist der Landfunk!“ Damit beseitigt Bertram alle Befürchtungen, er könne im engen Klassenschrank erstickt sein. Pfarrer Traugott beäugt kritisch den Klassenlautsprecher und traut seinen Ohren nicht. In der darauffolgenden Religionsstunde wirft Bertram Arnfinns Schulranzen durchs geöffnete Klassenfenster hinaus ins Freie.

„Verdammte Affenscheisse, sofort sammelst du das wieder ein“, wettert Arnfinn.

Bertram denkt nicht im Traum daran und überlässt großzügig Arnfinn diesen Part. Das Blumenbeet mit all seinen Sachen darin, darf Arnfinn nicht betreten. Doch er hat erreicht, was er wollte. Zum ersten Mal wird Bertram abgestraft und erhält einen Eintrag ins Klassenbuch. Für die Klassengemeinschaft ist Bertram stilbildend. Geschickt spielt dieser all seinen Einfluss gegen Arnfinn aus. Lediglich zwei Schüler halten noch zu ihm, der Rest der Klasse meidet Arnfinn wie einen Aussätzigen. Der gerät ins gesellschaftliche Abseits, eine für ihn völlig neue Erfahrung.

„Los, zieh Leine …Schwuchtel. Deine Friseuse wartet“, ruft ein Mitschüler Arnfinn zu.

Ein anderer setzt noch eins drauf.

„Kleine Kopfmassage gefällig?“

Arnfinn verschlägt es die Sprache. Im Schulalltag ist Bertram jedes Mittel recht, um das Liebesfeuer zwischen der Gräfin und ihrem Lover neu zu entflammen. Dazu dirigiert er eine Hebamme telefonisch zu ihrer Adresse.

„Ja, bitte …es ist dringend …ne? Frau Graf, Hornissenweg 5, hat starke Wehen. Bitte beeilen sie sich!“

Über Wochen gibt es auf dem Schulhof nur das eine, alles beherrschende Gesprächsthema. Bertram wird von seinen Mitschüler umlagert.

„Was starrt ihr mich so an? Ich habe nichts damit zu tun, mal ehrlich …ne?“

Arnfinn wittert seine Chance und tritt hinzu.

„Okay, diesmal ist derjenige zu weit gegangen. Mein Stiefvater nennt es einen Eingriff in ihre Privatsphäre …was immer das heisst.“

Alle nicken zustimmend, nur Bertram sucht eilig das Weite.

„Hi, Moni …du ich bin es, Bertram. Bitte leg‘ nicht auf …kann dir alles erklären …muss einfach nur mit jemanden reden. Hab ‘ne Riesendummheit gemacht …’ne Hebamme bestellt …mitten in der Nacht …ne? Muss vor die Schulkonferenz …fliege sonst von der Schule. Bitte tu mir das nicht an …ne? Bin am Ende …nur dies eine Mal. Lass uns irgendwo hin trampen …nur wir beide …bloß weg von hier.“

Arnfinn gönnt sich einen Schluck Ostfriesen-Tee und stellt die Teekanne zurück auf das Teestövchen. So plötzlich wie Bertram an der Schule aufgetaucht ist, ist er auch wieder verschwunden. Ob er am Ende von der Schule flog, kann nach all den Jahren niemand mehr sagen. Zuerst gibt Arnfinn weißen Kandis in die Tasse, der beim Übergießen mit heißem Tee ordentlich knistert, gefolgt von einem Schuss Sahne. Die Sahnewolke vermischt sich mit der dunklen Tee-Färbung. Der Teegeschmack entfaltet auf der Zunge seine volle Wirkung und erfährt zum Schluss eine süsse Note. So muss er schmecken, der echte Ostfriesen-Tee. Arnfinn kommt ins Grübeln. Er starrt auf den mittleren von drei Echtleder-Sessel, Alexanders Lieblingsplatz. Ja, Arnfinn glaubt dort deutliche Abnutzungsspuren zu erkennen und berührt die Stelle mit der Hand. Peinlich an der ganzen Sache ist nur, dass er ausgerechnet Bertrams verflossene Flamme abschoss. Er weiss nicht mal, ob er Stolz dabei empfand oder es als unnötiges Übel abtat? Jedenfalls wollte er mit Bertram gleichziehen, koste es, was es wolle.

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