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Sechsundzwanzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Julie, ach Julie, du, die ich einst mein zu nennen wagte und deren Namen ich heute entweihe! die Feder entfällt meiner zitternden Hand; meine Thränen überschwemmen mein Papier; es wird mir schwer, den ersten Strich zu thun an diesem Brief, ach, den ich nie zu schreiben hätte Ursache haben sollen; ich vermag nicht zu schweigen, und auch nicht zu reden. Komm, verehrungswürdiges, theures Bild, komm und reinige und richte empor ein Herz, erniedrigt durch Schande und geknickt von Reue. Halte aufrecht meinen sinkenden Muth, gieb den vorwürfen meines Gewissens Kraft, daß ich die unfreiwillige Missethat bekenne, die ich begehen konnte, weil du nicht bei mir warst.

Wie wirst du den Schuldigen verachten! und doch nicht so wie ich mich selbst verachte. Wie verworfen ich in deinen Augen erscheinen werde, ich bin es tausend Mal mehr in meinen eigenen; denn da ich mich so erblicke wie ich bin, demüthigt mich das am meisten, dich zu sehen, dich zu fühlen im Grunde meines Herzens, an einem Orte, der von nun an so wenig deiner würdig ist, und zu denken, daß die Erinnerung an die wahrsten Freuden der Liebe meine Sinnenicht zu schützen vermocht hat vor einer Falle ohne Köder und vor einer Sünde ohne Reiz.

So groß, ist meine Beschämung, daß ich zu deiner Milde selbst nicht Zuflucht nehmen kann, ohne zu fürchten, deinen Blick mit diesen Zeilen, in denen ich meine Missethat bekenne, zu besudeln. Vergieb mir, reine, keusche Seele, einen Bericht, mit dem ich deine Sittsamkeit verschonen würde, wenn ich nicht darin ein Mittel sähe, meine Verirrung zu büßen. Ich bin unwerth deiner Güte, ich weiß es wohl, ich bin niedrig, elend, verächtlich, aber falsch und lügnerisch will ich wenigstens nicht sein, und ich will lieber, daß du mir dein Herz nehmest und mein Leben, als einen Augenblick dich hintergehen. Um nicht versucht zu sein, nach Entschuldigungen zu haschen, die mich nur noch strafbarer machen würden, will ich mich darauf beschränken, dir Alles der Reihe nach genau zu erzählen, wie es mir begegnet ist. Meine Erzählung wird so aufrichtig sein, wie mein Leid; das ist das Einzige, was ich mir erlauben will zu meinen Gunsten zu sagen.

Ich hatte mit einigen Gardeofficieren und anderen jungen Männern, Landsleuten von uns, Bekanntschaft gemacht; ich bemerkte an ihnen eine von Natur gute Anlage, und es that mir leid, diese verderbt zu sehen durch die Nachäffung eines gewissen aufschneiderischen Tones, welcher gar nicht zu ihrem Wesen paßt. Sie machten ihrerseits sich darüber lustig, daß sie mich in Paris die Einfalt der alten helvetischen Sitten beibehalten sahen. Sie nahmen meine Grundsätze und meine ganze Art für einen indirecten Vorwurf, der ihnen lästig war, und faßten den Vorsatz, mich um jeden Preis dahin zu bringen, daß ich einen anderen Ton mit ihnen anstimmen müßte. Nach mehren Versuchen, die mißglückten, machten sie einen, der besse angelegt war, und nur zu gut gelang. Gestern Morgen kamen sie zu mir und luden mich zum Abendessen bei der Frau eines Obersten ein, die sie mir nannten, und die, sagten sie mir, weil sie von meinem Betragen gehört, Lust hätte, meine Bekanntschaft zu machen. Dumm genug, mich zum Besten halten zu lassen, stellte ich ihnen vor, daß es doch schicklicher wäre, dort erst einen Besuch zu machen, aber sie spotteten über meine Bedenklichkeit, meinten, die schweizerische Sitteneinfalt vertrüge sich schlecht mit so vielen Umständen, und dergleichen Ceremonienwesen würde nur dazu dienen, ihr eine schlechte Meinung von mir beizubringen. Um neun Uhr begaben wir uns also zu der Dame. Sie empfing uns auf der Treppe, was ich noch nirgend gesehen hatte. Als ich in das Zimmer trat, bemerkte ich, daß auf den Armen am Kamine alte Kerzen brannten, und daß Alles einen gewissen Anstrich von Zurüstung hätte, der mir nicht gefiel. Die Frau vom Hause schien mir hübsch, wiewohl etwas verblüht; es waren noch andere Frauenzimmer etwa in denselben Alter und von ähnlichem Aussehen da: ihr ziemlich reicher Putz war mehr glänzend als geschmackvoll; aber ich habe schon bemerkt, daß dies etwas ist, woraus man hier auf den Stand einer Frau nicht schließen kann.

Die ersten Complimente waren ungefähr dieselben wie überall; der Brauch in der großen Welt schreibt vor, sie entweder kurz abzuthun oder ihnen eine heitere Wendung zu geben, ehe sie langweilig werden. Es ging nicht ganz ebenso gut, als die Unterhaltung allgemein und ernsthaft geworden war. Ich glaubte, an den Damen ein unsicheres und gezwungenes Wesen zu bemerken, als ob ihnen dieser Ton nicht geläufig wäre, und zum ersten Male seit ich in Paris bin, sah ich Frauen in Verlegenheit, ein vernünftiges Gespräch im Gange zu erhalten. Um einen bequemeren Stoff zu gewinnen, fingen sie von ihren Familienangelegenheiten an, und da ich keine einzige von ihnen kannte, konnte Jede sagen, was sie wollte. Nie hatte ich so viel von Monsieur le Colonel reden hören, und das nahm mich Wunder in einer Stadt, wo es Brauch ist, die Leute mehr bei ihrem Namen als bei ihrem Titel zu nennen, und wo letzterer, wenn er geführt wird, gewöhnlich von ganz anderer Art ist.

Diese falsche Würde machte bald natürlicheren Manieren Platz. Man fing an, leise mit einander zu sprechen, und indem sich unversehens ein nicht sehr anständiger Ton von Vertraulichkeit einstellte, wurde geflüstert, gelacht, mit dem Blicke auf mich, während mich die Dame des Hauses über den Zustand meines Herzens mit einem gewissen resoluten Tone befragte, der nicht sehr geeignet war, es zu gewinnen. Es wurde aufgetragen und die Freiheit bei Tische, die alle Stände zu vermischen scheint, aber nichtsdestoweniger Jeden, ohne daß er daran denkt, an seine Stelle weißt, belehrte mich vollends, an was für einem Orte ich mich befände. Es war zu spät, um jetzt noch zurückzutreten. Ich beschloß daher, indem ich mich durch meinen Widerwillen für gesichert hielt, diesen Abend mein Geschäft als Beobachter zu treiben und die einzige Gelegenheit zu benutzen, die ich im Leben haben würde, diese Klasse von Frauen kennen zu lernen. Ich sammelte nicht viel Erfahrung ein: diese Personen hatten so wenig Begriff von ihrer gegenwärtigen Lage, so wenig Gedanken an die Zukunft und zeigten sich, den Jargon ihres Gewerbes abgerechnet, so stumpf in jeder Hinsicht, daß der Verachtung bald das Mitleid wich, welches ich anfangs mit ihnen gehabt hatte. Selbst als ich von dem Vergnügen sprach, sah ich, daß sie unfähig wären, es zu empfinden. Sie schienen mir voll Begierde nach Allem, was ihre Habsucht reizen konnte; mit Ausnahme hievon vernahm ich kein Wort aus ihrem Munde, das von Herzen gekommen wäre. Ich wunderte mich, wie anständige Leute einen so empörenden Umgang ertragen konnten. Ich würde es eine grausame Strafe genannt haben, wenn man sie zu der Lebensart verdammt hätte, die sie sich selbst erwählten.

Indessen zog sich das Abendessen in die Länge und wurde lärmend. In Ermangelung der Liebe erhitzte der Wein die Gäste. Die Reden, welche geführt wurden, waren nicht zärtlich, aber unanständig, und die Frauen suchten durch die Unordnung ihres Anzuges die Begierden zu wecken, welche dieselbe erst hätten verursachen sollen. Das Alles hatte auf mich zuerst nur die entgegengesetzte Wirkung, und alle ihre Anstrengungen mich zu verführen, dienten nur dazu, mich abzustoßen. Süße Scham, sagte ich bei mir, höchste Wollust der Liebe, welche Reize büßt das Weib ein, sobald es dir entsagt! Wenn sie deine Macht kennten, wie viel Sorgfalt würden sie anwenden, dich sich zu bewahren, wenn nicht aus Züchtigkeit, wenigstens aus Koketterie! aber die Schamhaftigkeit läßt sich nicht spielen, es giebt keinen lächerlicheren Kunstgriff, als sie nachäffen zu wollen. Welch ein Abstand, dachte ich dann wieder, von der plumpen Unverschämtheit dieser Creaturen und ihren frechen Zweideutigkeiten zu den schüchternen und liebetrunkenen Blicken, zu den Worten voller Sittsamkeit, voll Grazie, voll Empfindung, die .... Ich konnte es nicht ausdenken, ich erröthete über den unwürdigen Vergleich .... Ich warf mir wie ein Verbrecher die entzückenden Erinnerungen vor, die mich wider meinen Willen beschlichen .... An was für einem Orte wagte ich an Die zu denken .... Ach! da ich es nicht aus meinem Herzen bannen konnte, das zu theure Bild, suchte ich es verschleiern.

Der Lärm, die Reden, die ich hörte, die Gegenstände, die meine Augen berührten, das Alles erhitzte mich allgemach: meine beiden Nachbarinnen hörten nicht auf mit Anreizungen, die endlich zu weit getrieben wurden, um mein Blut kalt zu lassen. Ich fühlte, daß sich mein Kopf verwirrte; ich hatte meinen Wein fortwährend sehr gemischt getrunken, ich that noch mehr Wasser hinein und goß mir endlich reines Wasser ein. Da erst merkte ich, daß dieses vorgebliche Wasser weißer Wein war, und daß ich die ganze Mahlzeit über getäuscht worden war. Ich sagte Nichts darüber, da ich mir nur Verhöhnung zugezogen hätte. Ich hörte auf zu trinken. Es war zu spät, der Schade war geschehen. Die Trunkenheit raubte mir bald die wenige Besinnung, die ich noch hatte. Ich fand mich mit Erstaunen, als ich zu mir kam, in einem abgesonderten Cabinet, in den Armen einer dieser Creaturen und zugleich in Verzweiflung, daß ich mich so strafbar fühlte, als ich nur sein konnte....[Man kann hier zwei Stellen der ,,Bekenntnisse" vergleichen. An der einen (Th. 5, S. 11-12) bezieht sich Rousseau selbst auf die obige Scene der N. Heloise. Die andere (Th. 4, S. 62-63) ist in Bezug auf die falsche Scham bemerkenswerth, welche Julie im folgenden (27.) Briefe ihrem Frendre zum Vorwurf macht. D. Ueb.].

Meine abscheuliche Geschichte ist aus; möge sie nicht weiter deine Blicke und mein Gedächtniß besudeln! O du, von der ich mein Urtheil erwarte, ich bitte dich flehentlich, sei strenge, ich habe es verdient. Wie du mich auch strafst, es wird weniger hart für mich sein als der Gedanke an mein Verbrechen.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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