Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 95

Einundzwanzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Du hast es gewollt, Julie; ich muß sie dir also schildern, diese liebenswürdigen Pariserinnen! Stolze! diese Huldigung fehlte deinen Reizen noch. Mit aller deiner erheuchelten Eifersucht, mit deiner Bescheidenheit und deiner Liebe, sehe ich doch, daß es mehr Eitelkeit als Furcht ist, was sich unter dieser Neugier versteckt. Gleich viel, ich werde wahr sein: ich kann es sein, und würde es noch lieber sein, wenn ich mehr zu loben hätte. Warum sind sie nicht hundertmal reizender? warum nicht reizend genug, um deinen Triumph zu erhöhen?

Du beklagtest dich über mein Schweigen! Mein Gott, was hätte ich dir sagen sollen? Indem du diesen Brief liesest, wirft du begreifen, warum ich dir mit Freuden von deinen Nachbarinnen, den Walliserinnen erzählte, und warum ich von den Frauen hier zu Lande Nichts sagte. Die einen erinnerten mich nämlich unablässig an dich und die anderen .... Lies, und dann urtheile! Uebrigens denken über die französischen Damen wenige Leute wie ich, wenn ich auch mit meiner Meinung nicht ganz und gar allein stehe. Dies muß ich der Billigkeit wegen im Voraus sagen, damit du wissest, daß ich sie dir darstelle, nicht vielleicht wie sie sind, sondern wie ich sie sehe. Dessen ungeachtet wirst du, wenn ich ungerecht gegen sie bin, nicht verfehlen, mich wieder auszuschelten und wirst damit noch weit ungerechter sein, als ich, weil die Schuld ganz an dir allein liegt.

Zuerst das Aeußere; daran pflegen sich ja die meisten Beobachter zu halten. Wenn ich ihnen hierin nachahmte, würden sich die Frauen von hier zu sehr zu beklagen haben; sie haben ein Aeußeres sowohl von Charakter als von Gesicht, und da das eine ihnen nicht viel günstiger ist als das andere, so thut man ihnen Unrecht, wenn man sie nur danach beurtheilen will. Sie sind höchstens leidlich hübsch und im Allgemeinen eher übel als nicht übel: ich lasse die Ausnahmen bei Seite. Sie sind mehr unbedeutend als schön von Figur, haben keine feine Taille, hängen sich auch gern an Moden, welche diese verdecken; in diesem Punkte finde ich daher die Frauen von anderwärts recht einfältig, wenn sie Moden nachäffen, die zum Verbergen von Fehlern erfunden sind, die sie gar nicht haben.

Ihr Gang ist leicht und gewöhnlich; ihre Haltung ungeziert, weil sie sich nicht gern Zwang anthun; aber sie haben von Natur eine gewisse disinvoltura [Disinvoltura ital., „Ungezwungenheit,“ „ungezwungener Anstand.“ D. Ueb.], der es gar nicht an Grazie gebricht, und die sie oft geflissentlich bis zur Leichtfertigkeit treiben. Ihre Gesichtsfarbe ist mäßig weiß; sie sind gewöhnlich etwas mager, was nicht dazu dient, ihre Haut zu verschönen. Hinsichts des Halses ist es hier gerade das Gegentheil vom Wallis, Sehr schmal gebaut suchen sie über die Formfülle den Blick zu täuschen, ebenso durch andere Mittel über die Farbe. Obgleich ich das Alles nur sehr von ferne gesehen habe, ist doch der Einblick frei genug, daß wenig zu errathen übrig bleibt. Diese Damen scheinen hierin ihr Interesse schlecht zu verstehen, denn wenn nur das Gesicht angenehm ist, so würde die Einbildungskraft des Beschauers Ihnen übrigens bessere Dienste leisten als seine Augen, und, um mit dem Goscogner Philosophen [Montaigne. (S, Buch 3, Cap. 5.) D. Ueb.] zu reden, der ganze Hunger ist viel gieriger als der, welcher schon wenigstens mittelst Eines Sinnes gesättigt ist.

Ihre Züge sind nicht sehr regelmäßig; aber, wenn auch nicht schön, haben sie doch das im Gesichte, was so viel als Schönheit und oft mehr ist. Ihre lebhaften und glänzenden Augen sind jedoch weder eindringend noch sanft. Wiewohl sie ihnen mit dem Roth mehr Leben zu verschaffen meinen, gewinnen sie dabei doch nur einen Ausdruck, der mehr von dem Feuer des Zornes hat, als von dem der Liebe. Von Natur haben ihre Augen nur etwas Munteres; aber, wenn sie auch manchmal ein zärtliches Gefühl zu verlangen scheinen, verheißen sie es doch nie [Sprechen wir hübsch nur in unserem Namen, lieber Philosoph! Warum könnten Andere nicht glücklicher sein? Nur eine Kokette verheißt aller Welt, was sie nur Einem halten darf.].

Sie ziehen sich so gut an, oder wenigstens haben dafür so sehr den Ruf, daß sie hierin, wie in Allem, dem übrigen Europa zum Muster dienen. In der That, man kann sich nicht mit mehr Geschmack wunderlich kleiden. Sie sind von allen Frauen am wenigsten Sklavinnen ihrer eigenen Moden. Die Mode beherrscht die Frauen in der Provinz; die Pariserinnen beherrschen die Mode, und wissen sie so zu wenden, wie sie ihnen am vortheilhaftesten steht. Die ersteren sind wie unwissende und sklavische Copisten, die Alles bis auf die orthographischen Fehler nachschreiben; die letzteren sind Schriftsteller, die als Meister copiren und die schlechten Lesarten zu verbessern wissen.

Ihr Putz ist mehr gewählt als prachtvoll, es herrscht darin mehr Eleganz als Reichthum. Die große Veränderlichkeit der Mode, die von einem Jahr zum andern veraltet, die Sauberkeit, der zu Liebe sie ihren Anzug häufig wechseln, dies Alles bewahrt sie vor lächerlichem Prachtaufwand; sie wenden nicht weniger auf, aber mit mehr Sinn; statt abgetragener Prächtiger Roben, wie in Italien, sieht man hier einfache und immer frische Kleider. Beide Geschlechter haben in dieser Hinsicht gleiche Mäßigung und feines Gefühl, und dieser Geschmack macht mir viel Freude, ich sehe weder gern Galonirungen noch Schmutzflecke. Es giebt kein Volk, das unsrige ausgenommen, wo die Frauen im Allgemeinen weniger goldenen Staat trügen. Man sieht die nämlichen Stoffe in allen Ständen, und man würde Mühe haben, die Herzogin von der Bürgersfrau zu unterscheiden, wenn jene nicht so geschickt gewesen wäre, Unterscheidungszeichen aufzufinden, die sich diese nicht nachzuahmen getraut. Die Sache scheint ihre Schwierigkeit zu haben; denn welche Mode man auch bei Hofe aufbringe, die Stadt folgt augenblicklich nach, und es ist mit den Bürgersfrauen in Paris nicht wie mit den Frauen in der Provinz und im Auslande, die immer erst bei derjenigen Mode stehen, mit der es vorbei ist. Es ist auch nicht wie in anderen Ländern, wo die Vornehmsten immer zugleich die Reichsten sind und ihre Frauen sich durch einen Luxus unterscheiden, den die anderen nicht mitmachen können. Wenn die Frauen vom Hofe hier diesen Weg einschlügen, so würden sie bald von denen der Financiers überflügelt sein.

Was haben sie also gethan? Sie haben Mittel gewählt, sicherer, geschickter, mehr von Ueberlegung zeugend. Sie wissen, daß dem Geiste des Volkes die Idee der Schamhaftigkeit, der Sittsamkeit tief eingegraben ist. Darauf haben sie die Erfindung unnachahmlicher Moden gebaut. Sie bemerkten, daß das Volk einen Abscheu vor dem Roth habe, dem es in seiner Plumpheit noch immer hartnäckig den Namen Schminke giebt, und sie legen vier Finger hoch — nicht Schminke,

sondern Roth auf, denn mit dem geänderten Worte ist die Sache nicht mehr die nämliche. Sie bemerkten, daß ein entblöster Hals dem großen Haufen ein Aergerniß ist; und sie tragen ihr Leibchen tief ausgeschnitten. Sie bemerkten …. ja, mancherlei, was meine Julie, so sehr sie Frauenzimmer ist, gewiß niemals bemerken wird. Sie nahmen Manieren an, denen der selbe Geist innewohnt, der ihren Anzug beherrscht. Die reizende Verschämtheit, welche dein Geschlecht auszeichnet, ehrt und verschönt, achteten sie für gemein und bürgerlich, und belebten ihre Geberden und Reden mit einer edlen Unverschämtheit, so daß kein ehrlicher Mann ist, der nicht vor ihrem zuversichtlichen Blicke die Augen niederschlagen müßte. So auf ihren Rang mehr als auf ihr Geschlecht stolz, verleugnen sie, um nicht den anderen Weibern gleich zu sein, die Weiblichkeit und ahmen den Freudenmädchen nach, um nicht nachgeahmt zu werden.

Ich weiß nicht, wie weit sie jene Nachahmungen treiben, aber das weiß ich, daß sie dieser, der sie zuvorkommen wollen, doch nicht ganz haben ausweichen können. Das Roth und die ausgeschnittenen Leibchen anlangend, so haben sich die Moden nach Möglichkeit verbreitet. Die Frauen aus der Stadt haben lieber auf ihre natürliche Farbe und die Reize, die ihnen das amoroso pensier ihrer Liebsten giebt, verzichtet als bürgerlich gehen wollen, und wenn das Beispiel nicht auch die unteren Stände ergriffen hat, so kommt das nur daher, weil eine Frau, die in solchem Aufzuge zu Fuße geht, ganz sicher vor Insulten des Pöbels sein würde. Dergleichen Insulten sind der Racheschrei der empörten Schamhaftigkeit, und die Brutalität des Volkes, hier einmal, wie so oft, gesitteter als der Anstand der Gebildeten, hält vielleicht hunderttausend Frauen in den Gränzen der Züchtigkeit; gerade was die geschickten Erfinderinnen jener Moden bezweckt haben.

Die soldatische Haltung und den grenadiermäßigen Ton anlangend, so fällt er weniger auf, weil er allgemeiner verbreitet ist und sich nur dem Neuling fühlbar macht. Von dem Faubourg Saint-Germain bis zu den Hallen giebt es wenige Frauen in Paris, deren Auftreten und Blick nicht von einer Dreistigkeit wäre, die Jeden aus der Fassung bringen muß, der von Hause her dergleichen nicht gewohnt ist: das Erstaunen, in das man durch die Neuheit dieser Manieren versetzt wird, ist Schuld an der dummen Miene, die man den Fremden vorwirft. Und wenn sie nun erst gar den Mund öffnen! Nichts von der süßen, lispelnden Stimme der Walliserinnen; ein gewisser harter, scharfer, ausfragender, herrischer, höhnischer Ton und eine Stimme stärker als die eines Mannes. Und wenn in ihrem Tone vielleicht noch etwas von der ihrem Geschlechte natürlichen Zartheit übrig ist, so wird auch das durch ihre dreiste und neugierige Art die Leute anzusehen gänzlich in Schatten gestellt. Sie scheinen besonders Vergnügen daran zu finden, sich an der Verlegenheit Derer, die ihrer zum ersten Male ansichtig werden, zu weiden; aber es steht zu glauben, daß diese Verlegenheit ihnen weniger gefallen würde, wenn sie den Grund derselben besser einsähen.

Indessen sei es nun meinerseits Eingenommenheit für die Schönheit oder ihrerseits ein Instinkt sich ins rechte Licht zu stellen, die schönen Frauen scheinen mir im Allgemeinen ein wenig bescheidener und sittsamer in ihrer Haltung. Diese Mäßigung wird ihnen ja nicht schwer, sie fühlen die Vortheile derselben, sie wissen, daß sie keine Lockmittel nöthig haben, um uns anzuziehen. Vielleicht ist es auch dies, daß ein unverschämtes Wesen bei Häßlichen empfindlicher und auffallender ist; gewiß möchte man ein häßliches Gesicht, das Frechheit zeigt, lieber mit Ohrfeigen als mit Küssen bedecken, während es bei bescheidenem Wesen ein zärtliches Mitleid erregt, das wohl manchmal zur Liebe führen kann. Aber wenn man auch hier bei hübschen Personen etwas Milderes im Benehmen findet, so ist doch noch immer so viel Schönthuerei auch in ihren Manieren, und sie sind immer so sichtlich mit sich selbst beschäftigt, daß man hier zu Lande nie in die Versuchung geräth, in der sich Herr von Muralt bei den Engländerinnen bisweilen befand, einer Frau zu sagen, daß sie schön ist, nur um des Vergnügens willen, der Erste zu sein, der es ihr entdeckt.

Die der Nation eigene Munterkeit und der Reiz, vornehme Manieren nachzuäffen, sind nicht die einzigen Ursachen der Freiheit im Reden und Benehmen, welche man hier an den Frauen bemerkt, Sie scheint eine tiefere Wurzel in den Sitten zu haben, indem die beständige und rücksichtslose Vermischung der beiden Geschlechter jedem von beiden etwas von der Manier, Sprache und Haltung des andern aufdrängt. Unsere Schweizerinnen haben es ziemlich gern, unter sich zusammenzukommen [Das Alles hat sich sehr geändert. Den Umständen nach scheinen diese Briefe erst vor etwa zwanzig Jahren geschrieben; den Sitten, dem Style nach, sollte man glauben, sie seien aus einem andern Jahrhundert.], und lassen sich dann in süßer Vertraulichkeit gehen, und wiewohl sie dem Anscheine nach den Umgang mit Männern nicht hassen, so ist doch gewiß, daß deren Gegenwart eine Art Zwang in diese kleine Gynäkokratie bringt. In Paris ist es gerade umgekehrt; die Frauen gehen nur gern mit Männern um, sie fühlen sich nur in Deren Gesellschaft wohl. Bei allen geselligen Znsammenkünften ist die Frau vom Hause fast jedesmal die einzige Frau inmitten eines Kreises von Männern. Man kann kaum begreifen, woher so viele Männer kommen, als man überall nöthig hat; aber Paris ist voller Abenteurer und Cölibatäre, die ihr Leben damit hinbringen, von Haus in Haus zu gehen, und wie sonst beim Gelde, macht hier die Circulation bei den Männern, daß sie sich zu vervielfältigen scheinen. So lernt denn die Frau von ihnen reden, handeln, denken und sie lernen es von ihr. Da sie der einzige Gegenstand für die kleinen Galanterien dieser Herren ist, genießt sie in Ruhe der Huldigungen, die in Wahrheit Beleidigungen sind, denn man hält es nicht einmal der Mühe werth, ihnen auch nur einen Anstrich von ehrlicher Meinung zu geben. Was thut's! Ernst oder Spaß, man beschäftigt sich doch mit ihr, und das ist Alles, was sie will. Laß eine andere Frau dazu kommen, im Augenblicke tritt Förmlichkeit an die Stelle des vertraulichen Tones, die feierliche Miene stellt sich ein, die Aufmerksamkeit der Männer theilt sich und allerseits befindet man sich in einer geheimen Befangenheit, aus der man nicht eher herauskommt, als bis man auseinandergeht.

Die Frauen von Paris gehen gern in's Theater, nämlich nicht um zu sehen, sondern um sich sehen zu lassen; da ist denn jedesmal, wenn sie hingehen wollen, die große Verlegenheit, eine Begleiterin zu finden, denn der Brauch gestattet keiner Frau sich einzeln in offner Loge zu zeigen, selbst nicht mit ihrem Manne oder auch einem anderen Manne. Es ist unsäglich schwer, derartige Partien in dieser sonst so geselligen Stadt zu Stande zu bringen; von zehn, die man verabredet, schlagen neun fehl: die Lust in's Schauspiel zu geben knüpft den Bund, das Mißbehagen, zusammen hinzugehen, zerreißt ihn wieder. Ich glaube, die Frauen könnten diesen, ungeschickten Brauch leicht abschaffen, denn was für einen Grund hat es, sich öffentlich nicht einzeln zeigen zu dürfen? Vielleicht aber erhält sich der Brauch eben deswegen, weil er keinen Grund hat. Es ist zweckmäßig, den Anstand so viel als möglich in Dinge zu setzen, bei denen man durch Verletzung desselben nichts gewinnen kann. Was würde es einer Frau für Vortheil bringen, wenn sie das Recht hätte, ohne Gefährtin in die Oper zu gehen? Ist es nicht viel mehr werth, sich dieses Recht zu versparen, um seine Freunde privatim aufzunehmen?

Es ist sicher, daß von dieser Gelegenheit, abgesondert und vereinzelt unter Männern zu leben, tausend geheime Liaisons die Frucht sein müssen. Alle Welt räumt das heut zu Tage ein, und die abgeschmackte Meinung, daß man die Versuchung besiegen könne, indem man sie vervielfältigt, ist von der Erfahrung widerlegt. Man sagt also nicht mehr, dieser Brauch sei anständiger, sondern nur, er sei angenehmer, und das ist, meiner Meinung nach, eben so wenig wahr, denn was kann da für Liebe herrschen, wo die Schamhaftigkeit zu Spott gemacht ist? Und welchen Reiz kann ein Leben haben, dem die Liebe wie die Sitte fehlt? Auch ist es den Frauen hier, wie denn Langweile überhaupt die größte Plage aller dieser zerfahrenen Menschen ist, weniger darum zu thun, geliebt zu werden, als sich zu amüsiren, Galanterie und Aufmerksamkeiten gelten bei ihnen mehr als Liebe, und wenn man nur beharrlich ist, so fragen sie nicht danach, ob es aus Leidenschaft geschieht. Selbst die Worte Liebe und Liebster sind aus dem vertrauten Umgange der beiden Geschlechter verbannt und nebst denen wie „Bande" und „Flamme" in die Romane verwiesen, die man nicht mehr liest.

Die ganze natürliche Ordnung der Gefühle scheint hier umgekehrt. Das Herz knüpft keine Bande; es ist den jungen Mädchen gar nicht erlaubt, ein Herz zu haben; dieses Recht ist den verheirateten Frauen vorbehalten und schließt von ihrer Wahl Niemanden aus als ihren Mann. Besser, daß die Mutter zwanzig Liebhaber als daß die Tochter Einen habe. In dem Ehebruche findet man nichts Empörendes; er ist nicht gegen die Schicklichkeit; die anständigsten Romane, die welche alle Welt zu ihrer Belehrung liest, sind voll von ihm, und die Unsittlichkeit hat nichts Tadelnswerthes mehr, sobald sie mit Untreue gepaart ist. Ach Julie, und Frauen, die sich nicht gescheut haben, hundert Mal das eheliche Bett zu besudeln, dürfen sich unterstehen, unsere keusche Liebe mit ihrem unreinen Munde anzuklagen und die Bereinigung zweier aufrichtigen Herzen, die sich nie die Treue brachen, zu verdammen? Man sollte meinen, daß die Ehe in Paris nicht dasselbe sei, was sie überall sonst ist. Sie ist, sagen sie, ein Sacrament und dieses Sacrament hat nicht die Kraft des geringfügigsten bürgerlichen Vertrages, sie scheint weiter nichts zu sein als eine Uebereinkunft zwischen zwei Personen, mit einander zu wohnen, einerlei Namen zu führen, die nämlichen Kinder ihre zu nennen, aber ohne Aufgebung ihrer Freiheit, ohne irgend eine Art Recht auf einander;

und einem Ehemanne, der sich hier einfallen ließe, auf die schlechte Aufführung seiner Frau ein Auge zu haben, würde das nicht weniger verdacht werden, als bei uns Dem, der der seinigen offenkundige Unordnungen nachsähe. Die Frauen nehmen es auch ihrerseits nicht so genau mit ihren Männern, und man sieht eben nicht, daß sie sie zur Bestrafung ziehen, wenn dieselben es in der Untreue ihnen nachthun. Uebrigens wie kann man beiderseits etwas Besseres von Bündnissen erwarten, bei denen das Herz nicht gefragt worden ist? Wer nur nach Vermögen oder Stand heiratet, ist der Person nichts schuldig.

Die Liebe selbst, auch sie hat ihre Rechte verloren und ist nicht minder ausgeartet als die ehe. Wenn die Eheleute hier Junggesellen und Jungfern sind, die mit einander Haus halten, um desto mehr in Freiheit leben zu können, so sind Liebende Personen, die einander gleichgültig sind, und sich nur Ergötzens halber, aus eitelkeit, aus Gewohnheit oder um augenbliklicher Nothdurft willen sehen; das Herz hat mit diesen Liaisons nichts zu schaffen, man sieht dabei nur auf die Bequemlichkeit und gewisse äußere Ziemlichkeiten. Es ist, wenn man will, sich kennen, mit einander leben, sich verabreden, sich sehen und noch weniger wo möglich. Eine galante Liaison dauert Weniges länger als eine Visite, es ist eine Sammlung von artigen Unterhaltungen und artigen Briefen, voller Portraits, Maximen, Philosophie und Geist. Hinsichts des Physischen, ist nicht gar so viel Heimlichkeit nöthig; man hat sehr sinnig herausgefunden, daß sich je nach der Dringlichkeit der Begierde die Leichtigkeit sie zu befriedigen richten müsse: die erste beste und der erste beste, der Liebhaber oder ein anderer, ein Mann ist immer ein Mann; alle sind so ziemlich gleich gut, und wenigstens ist Consequenz hierin, denn warum sollte man dem Liebhaber treuer sein als dem Manne? Sodann und auch bei gewissen Jahren alle Männer so ziemlich der nämliche Mann und alle Frauen die nämliche Frau, alle diese Puppen sind aus demselben Putzladen, und es ist nichts Anderes für die Wahl entscheidend als was am bequemsten zur Hand ist.

Ich weiß zwar in diesem Punkte nichts aus Erfahrung; aber es sind mir hinsichts desselben so absonderliche Aeußerungen vorgekommen, daß es mir nicht möglich war, das Verhältniß recht zu fassen. So viel ich begriffen habe, ist bei den meisten Frauen der Liebhaber gleichsam einer von ihren Leuten; wenn er seine Schuldigkeit nicht thut, schickt man ihn fort und nimmt einen anderen; findet er es anderswo besser oder ist er des Geschäfts überdrüssig, so dankt er ab und man nimmt einen anderen. Es giebt, sagt man, sogar Frauen, die wunderlich genug sind, es mit dem Herrn vom Hause zu probiren, denn im Grunde ist er doch auch eine Art Mann. Das ist eine Caprice, die nicht vorhält; wenn sie vorüber ist, läßt man ihn laufen und nimmt einen anderen, oder, falls er halsstarrig ist, behält man ihn und nimmt den anderen dazu.

Aber, sagte ich zu Dem, der mir diese wunderlichen Bräuche erklärte, wie stellt sich eine Frau nachher gegen alle diese Anderen, die so ihren Abschied erhalten oder genommen haben? Ganz einfach! antwortete er; sie stellt sich gar nicht. Man sieht sich nicht mehr, man kennt sich nicht mehr. Wenn man je den Einfall hätte, wieder anzuknüpfen, so wäre von neuem Bekanntschaft zu machen, und es wäre schon viel, wenn man sich erinnerte, sich schon einmal gekannt zu haben. Aha! sagte ich; aber wenn ich auch alle Uebertreibungen abziehe, ich begreife doch nicht, wie man nach einer so zärtlichen Verbindung sich mit kaltem Blute sehen kann, wie das Herz nicht schlägt beim Namen dessen, was man einmal geliebt hat, wie man nicht von Zittern befallen wird, wenn man es wieder erblickt. Sie machen mich lachen, rief er, mit Ihrem Zittern, Sie möchten also wohl, daß unsere Frauen nichts weiter thäten, als in Ohnmacht fallen?

Nimm einen Theil von dieser Schilderung hinweg, die ohne Zweifel stark übertrieben ist, stelle Julie neben das Uebrige und erinnere dich meines Herzens: ich brauche dir nichts weiter zu sagen.

Indessen muß ich gestehen. daß man gegen manchen dieser unangenehmen Eindrücke durch die Gewöhnung abgestumpft wird. Wenn das Schlechte mehr in die Augen springt als das Gute, verhindert es doch dieses nicht, endlich auch hervorzutreten; Reize des Geistes und des Naturells stellen die persönlichen Reize in's Licht. Ist der anfängliche Widerwille einmal überwunden, so schlägt er bald in das entgegengesetzte Gefühl um. Dies ist die Kehrseite des Bildes, und es wäre ja ungerecht, es nur von der anderen, unvortheithaften zu zeigen.

Der vornehmste Uebelstand in großen Städten ist, daß in ihnen die Menschen zu etwas Anderem werden als sie im Grunde sind, daß ihnen die Gesellschaft, so zu sagen, ein ihnen fremdes Wesen aufdrückt. Dies ist vorzugsweise in Paris wahr und vorzugsweise in Betreff der Frauen, die allen Werth auf das legen, was sie in den Augen Anderer

scheinen. Wenn man sich einer Dame in Gesellschaft nähert, findet man anstatt einer Pariserin, wie man erwartet, nichts weiter als ein Modefigürchen. Ihre Höhe, ihre Breite, ihr Gang, ihr Wuchs, ihr Hals, ihre Farbe, ihre Miene, ihr Blick, ihre Reden, ihre Manieren, nichts von allem ist ihr eigen, und sähe man sie in ihrem natürlichen Wesen, so würde man sie nicht wiedererkennen. Jene Wandlung ist Denen, die sie mit sich vornehmen, selten günstig, wie denn im Allgemeinen bei Allem, was man künstlich an die Stelle der Natur setzt, nichts herauskommt. Ganz läßt sie sich aber nie verwischen; sie bricht immer irgendwo durch, und in einer gewissen Geschicklichkeit, sie da zu ergreifen, besteht eigentlich die Kunst der Beobachtung. Diese Kunst ist den hiesigen Frauen gegenüber nicht schwer, denn da sie mehr Natürlichkeit besitzen, als sie meinen, so darf man nur ausdauernd mit ihnen umgehen, darf sie nur von der ewigen Repräsentation, in der sie sich so sehr gefallen, losmachen, um sie bald so zu sehen wie sie wirklich sind, und dann geht alle Abneigung, die sie einem Anfangs eingeflößt haben, sicher in Achtung und Freundschaft über.

Dies hatte ich vergangene Woche Gelegenheit bei einer Landparthie zu beobachten, zu welcher uns einige Frauen ziemlich leichtfertig eingeladen hatten, mich und einige andere Neulinge, ohne sich vorher viel Gewißheit zu verschaffen, ob wir für sie passen, oder vielleicht auch nur, um das Vergnügen zu haben, sich über uns lustig zu machen. Dies blieb denn auch am ersten Tage nicht aus. Sie überschütteten uns mit einer Wolke von feinem, spitzen Pfeilen, die alle niederfielen, ohne zurückzuprallen und so ihren Köcher bald erschöpften. Nunmehr zogen sie sich mit Anstand aus dem Handel, und da sie uns nicht in ihren Ton stimmen konnten, blieb ihnen nichts übrig, als auf den unsrigen einzugehen. Ich weiß nicht, ob ihnen bei diesem Tausche wohl war, ich befand mich vortrefflich dabei; ich sah mit Erstaunen, daß ich mich mit ihnen besser verständigen konnte als es mir mit vielen Männern möglich ist. Sie zierten mit ihrem Witze jetzt so sehr einen natürlichen Verstand, daß ich nur beklagen konnte, wie viel sie gewöhnlich thun, ihn zu verunstalten, und es that mir weh, als ich ein besseres Urtheil über die hiesigen Frauen gewann, daß so viele liebenswürdige Personen nur deshalb keine Vernunft zeigten, weil sie keine haben wollten. Ich fand, daß der Annehmlichkeit eines vertraulichen, natürlichen Umganges auch die Künstelei der städtischen Manieren unvermerkt wich; denn immer paßt man sein ganzes Benehmen unwillkührlich dem an, was gesprochen wird, und es macht sich nicht, daß man vernünftige Reden mit den Grimassen der Coketterie begleite. Ich fand sie viel artiger, seit sie sich nicht mehr so viel Mühe gaben, es zu sein, und ich fühlte, daß sie, um zu gefallen, nichts zu thun brauchten, als sich nicht zu verstellen. Ich baute hierauf die Vermuthung, daß Paris, vorgeblich der Sitz des guten Geschmackes, vielleicht derjenige Ort der Weit ist, wo man ihn am wenigsten suchen muß, weil Alles, was daselbst geschieht, um zu gefallen, nur dazu angethan ist, die wahre Schönheit zu verunstalten.

Wir brachten so vier oder fünf Tage mit einander hin, zufrieden mit einander und jeder mit sich selbst. Anstatt Paris mit seinen Thorheiten durchzuhecheln, dachten wir gar nicht an die Stadt. Wir ließen uns nichts angelegen sein, als den Genuß einer angenehmen, holden Geselligkeit. Wir hatten keine Spöttereien und Satyren nöthig, um uns zu erheitern, und unser Gelächter kam nicht aus Bosheit, sondern aus frohem Uebermuth, wie bei deiner Cousine.

Noch ein Umstand machte mich Vollends anderer Meinung über die hiesigen Frauen. Oft, während wir mitten im lebhaftesten Gespräche waren, kam Jemand, der der Frau vom Hause etwas in's Ohr sagte. Sie ging hinaus, schloß sich in ihr Cabinet ein, um zu schreiben, und kam lange nicht wieder. Es war nichts leichter, als bei diesen Empfindungen auf eine Herzenscorrespondenz zu muthmaßen oder doch was hier so heißt. Eine andere Frau ließ darüber ein Wort fallen, das jedoch üble Aufnahme fand; ich schloß daraus, daß, wenn die Abwesende keine Liebe aber hätte, sie wenigstens Freunde haben müsse. Aber aus Neugier forschte ich weiter und wie erstaunt war ich, als ich hörte, daß die vermeintlichen Grisons von Paris nichts als Bauern aus dem Kirchspiel wären, welche sich in bedrängter Lage an ihre Dame wandten, um deren Protection zu erbitten, der eine, weil man ihn zu Gunsten eines Reicheren übersteuert, der andere, weil man ihn ohne Rücksicht auf sein Alter und seine Kinder enrolirt hatte [Im vorigen Kriege geschah dergleichen; im gegenwärtigen nicht, so viel ich weiß. Man schont die verheirateten Männer und hat dadurch viel Anlaß zum Heiraten gegeben.], dieser von einem mächtigen Nachbar durch einen ungerechten Prozeß erdrückt, jener durch Hagelschaden ruinirt, indessen die Pacht mit Strenge von ihm eingetrieben wurde; kurz, Alle hatten um irgend eine Gnade zu bitten. Alle wurden mit Geduld angehört, keiner wurde abgewiesen, und die Zeit, welche wir Liebesbriefchen zugetheilt hatten, diente Schreibereien zu Gunsten dieser Unglücklichen. Ich kann dir nicht sagen, wie erstaunt ich war, daß eine so junge und in Zerstreuungen lebende Frau so viel Vergnügen daran findet, dergleichen liebenswürdige Pflichten zu erfüllen, und ohne im Geringsten Prunk damit zu treiben. Wie? sagte ich ganz gerührt; wenn es Julie wäre, könnte sie nicht anders handeln. Von dem Augenblick an habe ich diese Frau nur noch mit Achtung angesehen und alle ihre Fehler sind in meinen Augen ausgelöscht.

Sobald meine Aufmerksamkeit einmal auf diese Seite gelenkt war, erfuhr ich tausenderlei Vortheilhaftes über dieselben Frauen, welche ich Anfangs so unausstehlich gefunden hatte. Alle Fremde stimmen darin überein, daß, wenn man das Modegeschwätz fern hält, kein Land der Welt Frauen aufzuweisen hat von aufgeklärteren Begriffen und die im Allgemeinen sinniger und verständiger zu sprechen und nöthigen Falls besser Rath zu geben wüßten. Von dem galanten und schöngeistigen Geplauder ganz abgesehen, was hat man von der Unterhaltung einer Spanierin, einer Italienerin, einer Deutschen? Nichts, und du weißt, Julie, wie es gemeinlich mit unseren Schweizerinnen bestellt ist. Habe jedoch Einer den Muth, für nicht sehr galant gelten zu wollen und die Französinnen aus dieser Festung zu treiben, aus der sie allerdings nicht gern herausgehen, so findet er Personen, mit denen sich auf offenem Felde sprechen läßt, und man glaubt mit Männern zu streiten, so trefflich wissen sie sich mit Vernunft zu bewaffnen und aus der Noth eine Tugend zu machen. Was die Charaktergüte betrifft, so will ich kein Gewicht darauf legen, daß sie ihren Freunden mit großem Eifer dienen, denn es könnte wohl darin etwas Eigennutz mitspielen, wie überall in der Welt; aber wie sie gemeinlich nichts lieben als sich selbst, so bringt doch die Länge der Gewohnheit, wenn sie Beständigkeit genug haben, sich solche zu erwerben, auch bei ihnen das hervor, was sonst nur eine schon recht lebhafte Neigung wirkt. Diejenigen, welche ein Attachement von zehn Jahren durchsetzen können, behalten es gewöhnlich ihr ganzes Leben bei, und sie lieben ihre alten Freunde inniger, wenigstens treuer als ihre jungen Liebhaber.

Es ist eine ziemlich gewöhnliche Bemerkung, und wie es zunächst scheint, nicht zur Ehre der Frauen, daß durch sie hier zu Lande Alles geschieht: mithin mehr Böses als Gutes; aber zu ihrer Rechtfertigung dient, daß sie das Böse von den Männern getrieben, das Gute aber aus eigener Bewegung thun. Das widerspricht nicht dem zuvor Erwähnten, daß das Herz bei dem Umgang der beiden Geschlechter keine Rolle spielt, denn die französische Galanterie hat den Frauen eine unumschränkte Macht eingeräumt, die zu ihrer Behauptung keines zärtlichen Gefühles bedarf. Alles hängt von ihnen ab, nichts geschieht anders als durch sie oder ihretwegen; Olymp und Parnaß, Ruhm und Glück stehen gleichermaßen unter ihrem Gesetze. Ein Buch hat keinen Werth, ein Schriftsteller erwirbt keinen Beifall, als insoweit es den Frauen gefällig ist; sie entscheiden in Machtvollkommenheit über die höchsten Gegenstände der Erkenntniß wie über die angenehmsten. Poesie, Literatur, Philosophie, selbst Politik — man sieht es den Büchern gleich am Style an, daß sie zur Belustigung hübscher Frauen geschrieben sind, und auch die Bibel hat man in galante Geschichten gebracht [L'Histoire du peuple de Dieu vom Pater Berruyer. Erster Theil, 1728; zweiter Th. 1753. D. Ueb.]. In den Geschäften erlangen sie Alles, was sie durchsetzen wollen, durch ein natürliches Uebergewicht, das sich selbst auf ihre Männer erstreckt, nicht weil dieselben ihre Männer, sondern weil sie Männer sind, und weil es hergebracht ist, daß ein Mann einer Frau Nichts abschlägt, und wäre es seine eigene.

Uebrigens setzt diese Macht keinerlei persönliche Zuneigung oder Werthschätzung voraus, sondern nur Höflichkeit und den Weltton, denn nebenbei gehört es eben so wesentlich zur französischen Galanierie, die Frauen zu verachten, als ihnen zu dienen. Diese Verachtung ist eine Art Rechtstitel auf ihre Ehrfurcht, ein Beweis, daß man genug mit ihnen gelebt hat, um sie zu kennen. Wer ihnen Hochachtung beweisen wollte, gäbe sich dadurch als einen Novizen zu erkennen, als einen Paladin, einen Mann, der die Frauen nur aus Romanen kennt. In ihrer eigenen Meinung von sich sind sie so unparteiisch, daß Der, welcher sie ehren wollte, sich dadurch nur unwerth machen würde, ihnen zu gefallen, und die vornehmste Eigenschaft des homme à bonnes fortunes [Bonnes fortunes, das Glück, das man bei Weibern macht, homme à bonnes fortunes, Weibergünstling. D. Ueb.] ist, im höchsten Grade impertinent zu sein.

Wie dem nun sei, und was sie sich auch auf Bosheit zu Gute thun, sie sind trotzdem gut, und wozu ihre Herzensgüte gut ist, wirst du sogleich sehen. Ueberall in der Welt sind sehr beladene Geschäftsleute abstoßend und fühllos, und da Paris der Mittelpunkt aller Geschäfte des größten Volkes in Europa ist, so sind Die, welche sie besorgen, die allerhärtesten Menschen. Daher wendet man sich mit Bittgesuche an die Frauen, sie sind die Zuflucht der Unglücklichen, sie verschließen den Klagen derselben nie ihr Ohr, sie hören sie an, trösten sie und dienen ihnen. Inmitten des leichtsinnigen Lebens, das sie führen, wissen sie ihren Vergnügungen Augenblicke abzustehlen, die sie ihrem guten Gemüthe schenken, und wenn einige wenige mit den Diensten, die sie erzeigen, ein niederträchtiges Gewerbe treiben, so sind doch tausend andere täglich damit beschäftigt, dem Armen mit ihrem Beutel und dem Unterdrückten mit ihrem Einflusse unentgeldlich beizustehen. Es ist wahr, daß sie ihre Theilnahme oft nicht recht anbringen und unbedenklich dem Unglücklichen, den sie nicht kennen, schaden, um dem zu dienen, den sie kennen; aber wie soll man auch in einem so großen Lande alle Welt kennen? und was vermag überdies Seelengüte ohne wahre Tugend? denn deren höchstes Trachten ist darauf gerichtet, nicht sowohl Gutes zu thun, als nie Unrecht zu thun. Davon abgesehen ist es gewiß, daß sie Hang zum Guten haben, daß sie viel Gutes thun, daß sie es aus gutem Herzen thun, daß sie allein in Paris das Bißchen Menschlichkeit erhalten, das noch da herrscht, und ohne sie wahrlich würde man dort das habgierige und unersättliche Gesindel sich wie die Wölfe zerreißen sehen.

Dahinter würde ich nicht gekommen sein, wenn ich mich nur an die Schilderungen des Roman- und Lustspieldichters gehalten hätte, der an den Frauen immer eher die Lächerlichkeiten entdeckt, die ihm mit ihnen gemein sind, als die guten Eigenschaften, die ihm selbst abgehen, oder der, anstatt sie zum Guten anzuspornen durch Belobung solcher Tugenden, die sie wirklich üben, ihnen Meisterstücke der Tugend vor Augen stellt, deren Nachahmung sie sich gar nicht zumuthen, weil sie sie für leere Hirngespinnste halten. Der Roman ist vielleicht das letzte Unterrichtsmittel, welches noch übrig bleibt für ein Volk, das so verderbt ist, daß kein anderes Mittel mehr bei ihm anschlägt; ich wollte, die Abfassung derartiger Bücher wäre in diesem Falle nur gesitteten und dabei gefühlvollen Leuten verstattet, deren Herz sich in ihren Schriften abspiegelte, Schriststellern, die nicht erhaben wären über menschliche Schwachheit, die nicht die Tugend auf einmal hoch im Himmel außer dem Bereiche menschlicher Kräfte darstellten, sondern ihr Liebe gewönnen, indem sie sie Anfangs minder streng erscheinen ließen und aus dem Schooße des Lasters heraus unvermerkt zu ihr hinzuleiten verstünden.

Ich habe es dir vorausgesagt, ich bin in keiner Hinsicht der gewöhnlichen Ansicht über die Frauen hier zu Lande. Es ist nur Eine Stimme darüber, daß der erste Eindruck, den sie machen, bezaubernd sei; man findet an ihnen die verführerischste Grazie, die raffinirteste Koketterie, die Quintessenz der Galanterie und die Kunst zu gefallen im allerhöchsten Grade. Ich aber, ich finde den ersten Eindruck anstößig, ihre Koketterie widrig und ihre Manieren unzüchtig. Ich denke mir, daß das Herz sich allen ihren Avancen nur verschließen kann und man wird mich nicht überreden, daß sie im Stande seien, einen einzigen Augenblick von Liebe zu sprechen, ohne daß sie sich dabei eben so unfähig zeigen, sie zu erwecken, als sie zu fühlen.

Auf der anderen Seite räth der Leumund, ihrem Charakter zu mißtrauen, schildert sie leichtfertig, verschlagen, ränkevoll, unbesonnen, flatterhaft, gut schwatzend, aber nicht denkend, noch weniger fühlend, und so ihren ganzen Werth in leerem Geplapper ausgebend. Alles das scheint mir nur ihr äußerliches Wesen wie ihre Reifröcke und ihr Roth. Es sind Paradelaster, die man in Paris haben muß, und die bei ihnen, im Grunde Sinn, Verstand, Menschenfreundlichkeit, Gutmüthigkeit verbergen. Sie sind weniger plaudersüchtig und klatschhaft als die Frauen bei uns und vielleicht irgendwo in der Welt. Sie sind gründlicher unterrichtet, und was sie gelernt haben, hat mehr zur Bildung ihres Geistes geholfen. Mit Einem Worte, wenn sie mir in Allem mißfallen, was ihrem Geschlecht eigen ist, das sie verunstaltet haben, schätze ich sie doch aus Rücksicht auf Bezüge, die uns in dem unsrigen Ehre machen, und ich finde, daß sie tausendmal eher verdienstvolle Männer sein könnten, als liebenswürdige Frauen.

Schluß: wenn Julie auch nicht gewesen wäre, wenn mein Herz einer andern Neigung fähig gewesen wäre, als der, für die es geschaffen ist, würde ich mir doch niemals in Paris meine Frau gesucht haben, noch weniger meine Geliebte, aber ich hätte mir gern dort eine Freundin gemacht, und dieser Schatz hätte mich vielleicht dafür getröstet, daß ich dort die beiden anderen nicht finden konnte [Ich werde mich wohl hüten, über diesen Brief eine Meinung abzugeben aber ich glaube nicht, daß ein Urtheil, welches Denen, die es betrifft, freigebig Eigenschaften zutheilt, die sie verachten, und ihnen die einzigen, denen sie Werth beilegen, abspricht, sehr geeignet sei, eine gute Aufnahme bei ihnen zu finden.].

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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