Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 97

Dreiundzwanzigster Brief.
Juliens Liebster an Frau von Orbe.

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Inhaltsverzeichnis

An Sie, reizende Cousine, habe ich meinen Bericht über die Oper abzustatten, denn obschon Sie in Ihren Briefen Nichts davon erwähnen und Julie Sie auch nicht verrathen hat, sehe ich doch, von wannen ihr ihre Neugier kommt. Ich war einmal dort, um die meinige zu befriedigen; noch zweimal bin ich Ihretwegen hingegangen. Damit, bitte ich schön, lassen Sie mich denn nach diesem Briefe entbunden sein. Ich könnte wohl, wenn Sie es beföhlen, wieder hingehen, gähnen, mich quälen, umkommen; aber wach und aufmerksam dabei zu bleiben, ist mir nicht möglich.

Bevor ich Ihnen meine eigene Meinung über diese berühmte Schaubühne sage, will ich Ihnen das allgemeine Urtheil darüber, das hier im Schwange ist, mittheilen. Das Urtheil der Kenner wird dem meinigen zur Berichtigung dienen, wenn ich mich etwa täusche.

Die Pariser Oper gilt in Paris für das prachtvollste, genußreichste, bewundernswürdigste Schauspiel, das je menschliche Kunst erdacht hat Es ist, sagt man, das glänzendste Monument der Magnificenz Ludwig's XIV. Es hat nicht Jeder so sehr die Freiheit, als Sie vielleicht glauben, seine Meinung über diesen hochwichtigen Gegenstand abzugeben. Man darf hier über Alles disputiren, nur nicht über die Musik und die Oper; in diesem einzigen Punkte ist es gefährlich, sich ohne Verstellung zu äußern. Die französische Musik behauptet sich vermittelst einer äußerst strengen Inquisition, und das Erste, was allen Fremden, die hierher kommen, förmlich eingetrichtert wird, ist, alle Fremden seien darüber einig, daß es in der ganzen Welt nichts so Schönes weiter gebe, als die Pariser Oper. Es ist in der That wahr, daß die Gescheiteren dazu stillschweigen und sich nur unter sich darüber lustig zu machen wagen.

Indessen muß man gestehen, daß daselbst mit vielem Aufwandt nicht nur alle Wunder der Natur vorgestellt werden, sondern auch noch viele andere Wunder, die keines Menschen Auge je gesehen hat, und gewiß hat Pope an dieses wunderbarliche Theater gedacht bei der Schilderung jenes, auf welchen, man wie Kraut und Rüben durcheinander Götter, Kobolde, Ungethüme, Könige, Schäfer, Feen, Wuth, Freude, eine Feuersbrunst, eine Gigue, eine Schlacht und einen Ball sieht.

Dieses prächtige und herrlich geordnete Gemengsel wird so angesehen, als ob es das Alles wirklich enthielte, was es vorstellt. Wenn man einen Tempel erscheinen sieht, so wird man von heiliger Ehrfurcht ergriffen und gesetzt noch, seine Göttin sei hübsch, so ist das Parterre halb Heide. Man ist hier nicht so schwierig wie in der Comédie Françoise. Dieselben Zuschauer, welche sich dort einen Schauspieler nicht in die Person, die er vorstellt, hineindenken können, können ihn in der Oper nicht davon trennen. Es ist, als ob sich die Geister gegen eine vernünftige Illusion verhärteten und sich, je gröber und abgeschmackter diese ist, desto williger ihr hingäben, oder vielleicht fällt es ihnen weniger schwer, sich Götter zu denken, als heroische Menschen. Da Jupiter anderes Wesens ist als wir, so kann man bei ihm denken was man will; aber Cato war ein Mensch, und wie viel Menschen haben ein Recht, zu glauben, daß es je einen Cato habe geben können?

Also die Oper ist hier nicht wie anderwärts eine Truppe von Leuten, die dafür bezahlt werden, um sich vor dem Publikum sehen zu lassen; allerdings sind es Leute, die bezahlt werden und die sich sehen lassen, aber das Alles ändert im Augenblick seine Natur, wenn es eine königliche Musik-Akademie ist, eine Art von oberstem Gerichtshof, der in eigener Sache ohne Berufung richtet und sich sonst nicht eben aus Gerechtigkeit oder Treue viel macht [Mit offeneren Worten herausgesagt, würde die Sache nur um desto wahrer sein. Aber hierin bin ich Partei und muß schweigen. Ueberall wo man weniger den Gesetzen als den Menschen unterworfen ist, muß man Ungerechtigkeit ertragen lernen.]. Sehen Sie da, Cousine, wie mancher Orten das Wesen der Dinge an dem Schalle hängt und es nur einen ehrbaren Namen braucht, um Sachen, die nichts weniger sind, in Ehren zu bringen.

Die Mitglieder dieser edeln Akademie gehen als solche ihres Adels nicht verlustig; dafür aber sind sie excommunicirt, ganz das Gegentheil von anderwärts. Vielleicht haben sie die Wahl gehabt und wollten lieber adlig und verdammt sein, als bürgerlich und benedeit. Ich habe einen modernen Cavalier auf dem Theater gesehen, der so stolz war auf sein Handwerk, als vor Zeiten der arme Laberius, wenn er gleich nur gezwungen auftrat und nur seine eigenen Werke recitirte, sich dadurch gedemüthigt fand [Von dem Tyrannen gezwungen, die Bühne zu besteigen, klagte er über sein Schicksal in Versen, die sehr rührend und ganz geeignet sind, jeden wackern Mann gegen diesen so gepriesenen Cäsar aufzubringen. ,,Nachdem ich", sagt er, „sechzig Jahre mit Ehre gelebt, habe ich diesen Morgen meinen Herd als römischer Ritter verlassen und bin am Abend als ein elender Histrio heimgekehrt. Ach! ich habe einen Tag zu lange gelebt. O Fortuna, mußte ich einmal entehrt sein, warum zwangst du mich nicht dazu, als mir Jugend und Kraft noch ein gefälliges Aeußere gelassen hatten? Aber jetzt, was für einen traurigen Gegenstand habe ich dem Auswurf des römischen Volkes vor Augen gestellt! eine gebrochene Stimme, einen hinfälligen Körper, einen Leichnam, ein lebendiges Grab, woran nichts mehr von mir als mein Name." Der ganze Prolog, welchen er bei dieser Gelegenheit sprach, die Ungerechtigkeit, die ihm Cäsar anthat, beleidigt durch die edle Freimüthigkeit, mit welcher er seine gekränkte Ehre roch, die Beschimpfung, die er im Circus erlitt, die Gemeinheit Cicero's, ihn wegen des erlittenen Schimpfs zu verhöhnen, die feine und spitze Antwort, die ihm Laberius hierauf gab, Alles das hat uns Aulus Gellius aufbewahrt, und es ist meinem Geschmacks nach das merkwürdigste und interessanteste Stück in seiner sonst faden Sammlung. R. Gellius erwähnt des Laberius I, 7 und XVI, 7; aber das Alles, was R. hier anführt, steht nicht bei ihm, sondern bei Macrobius Saturn, II, 7. D. Ueb.]. Auch konnte der alte Laberius seinen Platz unter den Rittern im Circus nicht wieder einnehmen, während der neue alle Tage den seinigen auf den Bänken der Comédie Françoise unter der ersten Noblesse des Landes findet, und nie hat man in Rom mit so viel Achtung von der Majestät des römischen Volkes reden hören, als man in Paris von der Majestät der Oper spricht.

Soviel habe ich aus den Aeußerungen Anderer über dieses glänzende Schauspiel abnehmen können; jetzt will ich sagen, was ich selbst daran gefunden habe.

Stellen Sie sich eine Platte vor, etwa fünfzehn Fuß breit und verhältnißmäßig lang; diese Platte ist die Bühne. Zu beiden Seiten werden in gemessenen Abständen Schirmwände aufgestellt, auf denen die Gegenstände, welche die Scene vorstellen soll, grob gemalt sind. Den Hintergrund bildet eine große Gardine, ebenso gemalt und fast immer durchlöchert oder zerfetzt, was dann Schlünde in der Erde oder Löcher im Himmel, je nachdem es trifft, zur Schau stellt. Jeder, der hinter der Gardine entlang geht und sie zufällig berührt, bringt eine Erschütterung hervor, die von einem Erdbeben herzurühren scheint und sehr komisch anzusehen ist. Der Himmel ist durch etliche blaue Lappen vorgestellt, welche an Stäben oder Schnüren schweben, wie zum Trocknen aufgehängte Wäsche, Als Sonne (denn sie kommt manchmal vor) dient eine Kerze hinter einem Rahmen. Die Wagen der Götter und Göttinnen bestehen aus vier aneinander gefügten Wänden, die in langen Seilen schweben wie eine Schaukel; zwischen den Seitenwänden geht ein Brett querüber, auf welchem die Gottheit sitzt, und vorn hängt ein Stück bekleckstes Sacktuch, das zu diesem kostbaren Wagen als Wolke figurirt. Im Grunde der Maschine bemerkt man eine Beleuchtung von zwei bis drei qualmenden und schlecht geputzten Lichtern, welche die Person, während sie sich auf ihrer Schaukel hin- und herschwankend zerarbeitet und heiser schreit, nach Herzenslust einräuchern: ein Weihrauch ganz eines Gottes würdig.

Da die Götterwagen das wichtigste Stück der Opernmaschinerie sind, so können Sie von ihnen einen Schluß auf das Uebrige machen. Das bewegte Meer ist aus langen kantigen Walzen zusammengesetzt, die man auf gleichlaufende Spindeln gesteckt hat und von kleinen Jungen umdrehen läßt. Der Donner ist ein schwerer Wagen, den man auf dem oberen Boden hin- und herfährt und der nicht das schlechteste Instrument bei der ganzen rührenden Musik abgiebt. Die Blitze entstehen durch etwas Colophonium, das man durch ein Licht bläst; der Wetterstrahl ist eine Petarde an der Spitze einer Rakete.

Die Bühne ist mit kleinen viereckigen Fallthüren versehen, an deren Aufgehen man seiner Zeit bemerkt, daß die bösen Geister aus dem Keller heraufsteigen werden. Wenn sie sich in die Lüfte erheben sollen, so werden ihnen geschickt kleine Dämonen aus braunem Zeuge mit Stroh ausgestopft untergeschoben oder manchmal wirkliche Schornsteinfeger, die an Stricken in der Luft baumeln, bis sie sich majestätisch in die vorerwähnten blauen Lappen verlieren. Wirklich tragisch aber ist dabei, daß die höllischen Geister oder unsterblichen Götter, wenn die Schnüre schlecht geleitet werden oder reißen, herunterfallen, sich die Glieder entzweibrechen und manchmal das Genick. Rechnen Sie zu dem Allen die Ungeheuer hinzu, die manche Scenen sehr schauerlich machen, als zum Exempel Drachen, Eidechsen, Krokodile, riesige Kröten, die mit dräuenden Geberden auf dem Theater herumspazieren und

uns in der Oper ein Bild von den Versuchungen des heiligen Antonius vor Augen stellen. In jeder solchen Figur steckt ein Tölpel von Savoyarden, der nicht Witz genug hat, eine Bestie zu spielen.

Da haben Sie, Cousinchen, so ziemlich die ganze Herrlichkeit der Opernausstattung, so viel ich aus dem Parterre mit Hülfe meiner Lorgnette habe wahrnehmen können; denn Sie müssen sich nur nicht vorstellen, daß die Hülfsmittel sehr versteckt sind und daß eine überraschende Wirkung hervorgebracht wird; ich sage Ihnen hierin nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe und was jeder unbefangene Zuschauer ebenso gut wahrnehmen kann. Dennoch wird versichert, daß eine unglaubliche Menge von Maschinen thätig ist, um das Alles in Bewegung zu setzen; man hat sich mehrmals erboten, sie mir zu zeigen, aber ich bin nie neugierig gewesen, zu sehen, wie man kleine Dinge mit großen Anstrengungen zu Stande bringt.

Die Menge von Leuten, welche zu dem Dienste der Oper verwendet werden, ist unglaublich. Das Orchester und die Chöre bestehen zusammen aus beinahe hundert Personen: man hat eine Masse von Tänzern; alle Rollen sind doppelt und dreifach besetzt [In Italien weiß man nichts von Doppelbesetzung, das Publikum würde so etwas nicht dulden; auch ist das Theater nicht so theuer. Man will so viel Geld nicht wegwerfen, um schlecht bedient zu werden.], d. h. Es sind immer ein oder zwei untergeordnete Schauspieler in Bereitschaft, den Hauptschauspieler nöthigenfalls zu vertreten, und werden dafür bezahlt, daß sie nichts thun, bis es einmal Jenem gefällt, Nichts zu thun, was aber niemals lange auf sich warten läßt. Nach einigen Vorstellungen beehren die Hauptschauspieler, welche wichtige Personen sind, das Publikum nicht mehr mit ihrer Erscheinung, sondern überlassen ihren Platz ihren Substituten oder den Substituten ihrer Substituten.

Man nimmt an der Thüre immer dasselbe Eintrittsgeld wie Anfangs, giebt aber nicht mehr dasselbe Schauspiel. Jedermann nimmt sein Billet wie in der Lotterie, ohne zu wissen, was für ein Loos er gezogen haben werde, und wie es auch ausfalle, Niemand würde so kühn sein, sich zu beklagen; denn, daß Sie es wissen, die edeln Mitglieder dieser Akademie sind dem Publikum keine Achtung schuldig, das Publikum nur ihnen.

Von dem Charakter der Musik will ich Ihnen Nichts sagen; Sie kennen ihn. Aber etwas, wovon Sie sich keine Vorstellung machen können, ist das fürchterliche Geschrei, das langgedehnte Heulen, wovon das Theater während der Vorstellung widerhallt. Man sieht die Sängerinnen fast in Convulsionen diese Jammertöne mit Gewalt aus ihren Lungen reißen, die Fäuste gegen die Brust gepreßt, den Kopf zurückgeworfen, das Gesicht feuerroth, die Gefäße angeschwellt, den Magen arbeitend; man weiß nicht, was am widrigsten berührt ist, Ohr oder Auge, Ihre Verzerrungen foltern den Zuschauer ebenso sehr als ihr Gesang den Hörer, und das Unbegreifliche dabei ist, daß dieses Gebrüll fast das einzige ist, was das Publikum beklatscht. Ihrem Klatschen nach sollte man sie für Taube halten, die entzückt sind, wenn sie hin und wieder einmal einen recht durchdringenden Schrei auffangen, und die Schauspieler aufmuntern wollen, noch besser zu schreien. Ich für mein Theil bin überzeugt, daß das Gekreisch einer Sängerin in der Oper auf keine andere Art beklatscht wird, als die Kraftstücke eines Gauklers auf dem Jahrmarkt; der Eindruck davon ist ängstigend und peinlich, man fühlt sich unbehaglich, so lange sie dauern, und man ist so zufrieden, endlich Alles glücklich ablaufen zu sehen, daß man von Herzen seine Freude zu erkennen giebt. Denken Sie nur, daß diese Art zu singen angewendet wird, um Quinault's galanteste und zärtlichste Sachen auszudrücken. Stellen Sie sich die Musen, die Grazien, Amoretten, eine Venus vor, die sich in dieser zarten Weise zum Besten geben und Sie können über die Wirkung nicht in Zweifel sein. Für die bösen Geister mag die Manier hingehen; sie hat etwas Infernalisches, das denselben recht gut steht. Auch sind die Zaubereien, Beschwörungen und sonstiger Teufelsspuk immer dasjenige, was in der Opéra françois die lebbafteste Bewunderung erregt. Diese herrlichen Töne, deren Reinheit ihrer Sanftheit nichts nachgiebt, unterstützt das Orchester würdig mit den seinigen. Stellen Sie sich ein endloses Charivari ohne Melodie vor, ein ewiges schleppendes Rumrum von Bässen, das leichenhafteste, schläfrigste Wesen, das ich in meinem Leben gehört habe, und das ich keine halbe Stunde aushalten kann, ohne daß es mir heftige Kopfschmerzen macht. Das Alles bildet zusammen eine Art Psalmodie, in der gemeinlich weder Gesang noch Rhythmus zu spüren ist. Tritt dann zufällig einmal eine etwas hüpfende Melodie ein, so entsteht ein allgemeines Stampfen, man hört das ganze Parterre mit vieler Noth und großem Geräusch einem gewissen Mann im Orchester [Dem Bucheron. R. Bucheron (hier der Taktangeber, Dirigent) bedeutet eigentlich Holzhacker, Im Dictionnaire de Musique sagt Rousseau: ,,Man hat bemerkt, daß unter allen Orchestern in Europa, das der Pariser Oper, wiewohl es eines der zahlreichsten ist, doch am wenigsten Effect macht. Die Ursachen sind leicht einzusehen: 1) die schlechte Constitution des Orchesters, das tief im Boden liegend, von einer schweren massiven und mit Eisen beladenen hölzernen Einfriedung umgeben ist, alle Resonanz erstickt; 2) die schlechte Auswahl der Instrumentisten, die meistens nach Gunst angestellt, kaum einen Begriff von Musik haben und kein Ensemble zu Stande bringen; 3) ihre tödliche Gewohnheit ohne Ende zu klimpern, zu stimmen, zu präludiren, ohne es zum Stimmen zu bringen; 4) die französische Art, im Allgemeinen Alles zu vernachlässigen und zu verachten. was zur täglichen Pflicht wird; 5) die schlechten Instrumente, welche an Ort und Stelle bleiben, immer nichtsnutziger Ausschuß sind und die Bestimmunq haben, während der Vorstellung zu winseln und in den Zwischenzeiten zu verstocken; 6) die schlechte Aufstellung des Dirigenten, der nicht am Proscenium seinen Platz hat und, ganz mit den Schauspielern beschäftigt, sein Orchester, dem er den Rücken zukehrt, statt es unter Augen zu haben. nicht hinlänglich überwachen kann; 7) das unleidliche Klappen seines Taktstocks, welches die Musik überschallt und ihren Effect zu nichte macht; 8) die schlechte Harmonie in den Compositionen u. s. w.“ D. Ueb.] nachtappen. Sie fühlen sich einen Augenblick angenehm erregt von dieser rhythmischen Bewegung, für die sie so wenig Sinn haben und martern ihr Ohr, ihre Stimme, ihre Arme, ihre Füße, den ganzen Leib, um dem Takte [Ich finde, daß man die leichten Melodien in der französischen Musik nicht übel mit dem Galopp einer Kuh oder den Fliegeversuchen einer fetten Gans verglichen hat.] nachzukommen, der ihnen immer wieder entwischt; während der Deutsche und der Italiener, denen er in der Seele liegt, ihn fühlen und, ohne Anstrengung folgend, niemals nöthig haben, ihn zu schlagen. Wenigstens hat mir Regianino oft gesagt, daß bei der Oper in Italien, wo doch der Rhythmus so hervortretend und lebendig ist, sich nie, weder im Orchester noch unter den Zuschauern, auch nur ein Glied rührt, um den Takt zu marlieren. Hier zu Lande jedoch verräth Alles die Härte des musikalischen Organs; die Stimmen sind rauh und unmelodisch, die Biegung scharf und gewaltsam, die Töne angestrengt und schleppend; in den Melodien ist kein Fluß, keine Declamation; die Regiments-Musik, die Pfeifer bei der Infanterie, die Cavalerietrompeter, alle Hornisten, alle Hauptboisten, die Sänger auf den Straßen, die Dorfmusikanten, alle spielen und singen so falsch, daß man nicht alle Talente dan nämlichen Menschen verliehen, und den Franzosen scheint die musikalische Fähigkeit am wenigsten unter allen europäischen Völkern zugefallen zu sein. Milord Eduard behauptet, daß auch die Engländer wenig davon haben; der Unterschied ist aber, daß diese es wissen und sich aus der Musik nichts machen, wogegen die Franzosen lieber tausend gerechte Ansprüche aufgeben und sich das Verdammungsurtheil über jede andere Sache gefallen lassen würden, ehe sie eingestehen, daß sie nicht die ersten Musiker der Welt sind, Es giebt sogar Leute, die gern die Pariser Musik als eine Staatsangelegenheit betrachten möchten, vielleicht, weil es in Sparta eine war, der Lyra des Timotheus zwei Saiten abzuschneiden; dagegen, fühlen Sie wohl, läßt sich nichts einwenden. Wie dem nun sei, die Pariser Oper möge immerhin eine herrliche politische Institution sein, den Leuten von Geschmack wird sie deshalb nicht besser gefallen. Doch zurück zu meiner Beschreibung.

Ich habe noch von den Ballets zu sprechen. Diese sind die brillanteste Partie der Oper, und wenn man sie für sich allein nimmt, bilden sie ein angenehmes, prachtvolles und wahrhaft theatralisches Schauspiel; nun aber geben sie einen wesentlichen Bestandtheil des Stückes ab, und unter diesem Gesichtspunkte sind sie zu betrachten, Sie kennen die Quinaultschen Opern; Sie wissen, wie die Divertissements in denselben angebracht sind. Bei seinen Nachfolgern ist es ungefähr ebenso oder noch schlimmer. In jedem Akte wird die Handlung im Augenblicke der größten Spannung durch ein Fest unterbrochen, welches den Schauspielern, die sich dazu niedersetzen, gegeben und vom Parterre stehend angesehen wird [Vergl. über das „Divertissement“ die Anmerkung zum 5. Theil der „Bekenntnisse“ S. 44. D. Ueb.]. Dabei geschieht es denn, daß man die Personen des Stücks gänzlich vergißt, oder daß die Zuschauer die Schauspieler ansehen, die wieder etwas Anderes ansehen. Die Art diese Feste herbeizuführen, ist einfach; wenn der Prinz vergnügt ist, so nimmt man Theil an seiner Freude und tanzt; wenn er betrübt ist, so will man ihn aufheitern, und tanzt. Ich weiß nicht, ob es an den Höfen so Mode ist, daß man den Königen geschwind einen Ball giebt, wenn sie übler Laune sind; ich weiß nur in Bezug auf die Theaterprinzen, daß man die stoische Ruhe nicht genug bewundern kann, mit welcher sie einer Gavotte zusehen oder ein Chanson anhören, während vielleicht über ihre Krone oder über ihr Leben hinter den Coulissen entschieden wird. Es giebt aber auch noch viele andere Anlässe zum Tanz; die wichtigsten und ernstesten Actionen des Lebens geschehen tanzend, Priester tanzen, Soldaten tanzen, Götter tanzen, Teufel tanzen. Es wird getanzt und sollte es noch bei dem Begräbnisse sein, kurz Alles wird von Allen betanzt.

Der Tanz ist also die vierte der schönen Künste, welche zur Herstellung der lyrischen Bühne verwendet werden: die drei anderen haben ihr Wesen in der Nachahmung; aber diese, was ahmt sie nach? Nichts. Der Tanz ist also ein Hors-d'Oeuvre, wenn er eben nur als Tanz angewendet wird; denn was haben Menuetten Rigaudons, Chaconnes in einer Tragödie zu schaffen? Noch mehr, er würde nicht weniger am unrechten Orte sein, wenn er auch etwas nachahmte, weil von allen Einheiten keine unerläßlicher ist, als die der Sprache, und eine Oper, in der die Handlung halb in Gesang, halb in Tanz vor sich ginge, würde noch lächerlicher sein als eine, in der zur Hälfte italienisch und zur Hälfte französisch gesprochen würde.

Nicht zufrieden, den Tanz als Bestandtheil des lyrischen Dramas einzuführen, haben sie sich manchmal sogar gequält, ihn zur Hauptsache zu machen; sie haben Opern, Ballete [Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 4. S. 28 Anm. und was daselbst oben im Texte Rousseau über den Entwurf zu seinem „heroischen Ballet“ erzählt. D. Ueb.] genannt, welche ihrem Titel so schlecht entsprechen, daß der Tanz darin nicht weniger übel angebracht ist als in allen übrigen. Die meisten dieser Ballets enthalten eben so viele verschiedenartige Sujets als Akte, und diese Sujets sind mit einander durch gewisse metaphysische Beziehungen verbunden, von denen der Zuschauer sicherlich nichts merken würde, wenn nicht der Verfasser Bedacht nähme, ihn im Prologe darüber aufzuklären. Die Jahreszeiten, die Lebensalter, die Sinne, die Elemente — ich frage, in welcher Beziehung stehen alle diese Titel zum Tanzen und was können sie der Phantasie in dieser Hinsicht für Stoff zuführen? Manche sind auch blos allegorisch, wie das Carneval und die Narrheit; und diese sind die unerträglichsten von allen, weil sie, bei viel Feinheit, Witz und Geist, weder Gefühle, noch Gemälde, noch Situationen, noch Wärme, noch Interesse darbieten, noch irgend etwas, was der Musik einen Anhalt geben, dem Herzen schmeicheln und die Täuschung nähren kann. In diesen sogenannten Ballets geht die Handlung immer im Gesange vor sich, der Tanz unterbricht die Handlung stets oder ist nur zufällig da und ahmt nichts nach. Das Einzige ist noch, daß bei diesen Ballets, die noch uninteressanter sind als die tragischen Opern, die Unterbrechung weniger auffällt: wären sie weniger frostig, so würde man daran größeren Anstoß nehmen; nun aber bedeckt der eine Fehler den anderen, und die Kunst der Verfasser besteht darin, daß sie, um zu verhindern, daß der Tanz langweile, dafür sorgen, daß das Stück langweilig sei.

Dies führt mich ungesucht auf Betrachtungen über die wahre Beschaffenheit des lyrischen Drama, die aber von zu großem Umfange für diesen Brief sein und mich von meinem Gegenstande zu sehr ablenken würden; ich habe nun eine kleine Abhandlung darüber niedergeschrieben, die ich Ihnen beilege und über die Sie mit Regianino plaudern können. Ueber die französische Oper hätte ich noch zu sagen, daß der größte Fehler, den ich an ihr zu bemerken glaube, eine falsche Liebe zum Prächtigen ist, durch die man sich verleiten läßt, das Wunderbare zur Darstellung zu bringen, ohne zu bedenken, daß dieses, welches nur in der Phantasie ergriffen werden kann, in einem epischen Gedichte wohl an seiner Stelle, auf dem Theater aber lächerlich ist. Ich hätte es schwerlich für möglich gehalten, wenn ich es nicht gesehen hätte, daß Decorateure ungeschickt genug sind, den Sonnenwagen nachahmen zu wollen, und Zuschauer kindisch genug, diese Nachahmung anzugaffen. La Bruyère begriff nicht, wie ein so prachtvolles Schauspiel als die Oper ihn für sein theures Geld so langweilen könnte. Ich begreife es vollkommen, ich, der ich kein La Bruyère bin, und ich behaupte, daß für jeden Menschen, der nicht ganz entblößt von Geschmack in den schönen Künsten ist, die französische Musik, der Tanz und das Wunderbare zusammengenommen, die Pariser Oper nothwendig zu dem langweiligsten Schauspiele machen müssen, das nur denkbar ist. Allem nach würde vielleicht für die Franzosen ein vollkommeneres gar nicht einmal taugen, wenigstens was Ausführung betrifft; nicht, daß sie das Gute würdigen zu lernen außer Stande wären, aber das Schlechte amüsirt sie nun einmal mehr als das Gute. Sie mögen lieber bespötteln als Beifall geben; das Vergnügen der Kritik entschädigt sie für die Langweiligkeit des Schauspiels, und es ist ihnen angenehmer, sich darüber lustig zu machen, wenn sie hinaus sind, als sich drinnen zu gefallen.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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