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Zu den Volkserzählungen

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Erwähnenswert ist, dass die kurdische Volksliteratur sehr oft in Gedichtform geschrieben ist. Das gilt insbesondere für die Volkserzählungen. Die Kurden haben ihre Epen, Erzählungen, auch manche Märchen, wie Dramen gestaltet. Es sind auch einige Sprichwörter und Redensarten in Reimform überliefert (13). Die in dieser Sammlung enthaltenen Volkserzählungen sind allerdings weitgehend reimlos nacherzählt. Anders als bei den Märchen, die oft auch von Geistern, Dämonen oder Tieren handeln, stehen bei den Volkserzählungen die menschlichen Gefühle, Probleme und Leidenschaften im Mittelpunkt. Sie behandeln Liebe und Leid, Treue und Tapferkeit. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie ist die Liebesgeschichte "Mam û Zîn", das sogenannte kurdische "Romeo und Julia", das alle kurdischen Charakteristika enthält. Der Stoff ist, wie auch Professor Oskar Mann bestätigte, sehr alt und ist fast als einzige Erzählung in ganz Kurdistan bekannt(14). Meiner Ansicht nach ist der Inhalt an eine andere Volkserzählung namens "Mam-ê Âlân"(15) angelehnt. Trotzdem besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich eine ähnliche Liebesgeschichte tatsächlich abgespielt hat, die der kurdische Dichter und Gelehrte Ahmad-î Xânî (1650-1706) dann als Grundlage für sein Liebesdrama benutzte(16). Dieses Drama wurde durch die mündliche Überlieferung noch vielfach ausgestaltet. Noch heute gibt es ein Grab in Botân(17), das als Grab von "Mam û Zîn" bekannt ist, ebenso wie das Grab der Brüder "Nâsir û Mâlmâl"(18) in Gâgaš(19).

Auch wenn sich eine derartige Tragödie wie die von "Mam û Zîn" nach Ansicht mancher Forscher (wie z.B. Sacâdî)(20) zu Ende des 13. Jahrhunderts n.Chr. zugetragen haben mag, besteht kein Zweifel darüber, dass die ethischen Begriffe in eine frühere Epoche zurückgehen. Durch den Volksmund wurde die Erzählung "Mam û Zîn" dank ihrer Popularität zu einem Märchen umgestaltet(21).

Nicht nur Liebesgeschichten sind Inhalt von Volkserzählungen. Es gibt in der kurdischen folkloristischen Literatur ebenso Satiren und scherzhafte Erzählungen. Die kurdische Geschichte verzeichnet Komiker wie Aha-y Kur̂nû(22), Mâma Khama (Xama), Awlâ Mâmaš (Mâmash) und viele andere. Der Naturkomiker Bashîr Mushîr (1893-1963), dessen Name schon einen Reim bildet, hatte eine Überfülle von Phantasie und Einfällen. Ich kannte ihn sehr gut und wusste schon damals seinen Witz zu schätzen.(23)

Von seinen phantasievollen Gedankengängen will ich nur folgende kleine Geschichte erzählen:

Ich war einmal in seinem Geschäft in Bagdad. Herein kam ein Bekannter, der von Istanbul nach Teheran mit dem Auto gefahren war und begann, über die schlechte Straße zu klagen. Bashîr hörte sich das an und sagte dann: "Ich bin einmal denselben Weg per Schiff gefahren und das war sehr angenehm". Als ich einwandte: "Mâmostâ (d.h. Professor oder Gelehrter, wie alle ihn nannten), es gibt doch keinen Fluß zwischen Teheran und Istanbul", kam er überhaupt nicht in Verlegenheit. Gelassen erwiderte er: "Doch, als ich jung war, gab es einen großen Fluß zwischen den beiden Städten". Als ich fragte, wohin der Fluß verschwunden sei, antwortete er mit einem Seufzer: "Ach! Die bösen Engländer transportierten ihn nach dem Ersten Weltkrieg nach England und verwandelten alles in Öl. Diese Schweinehunde sind klug! Sie sind nicht so dumm wie wir Kurden ...".

In die Reihe "Satiren und scherzhafte Erzählungen" gehört die Erzählung "Die Schlauheit der Frauen". Hier macht sich eine kluge, aber ungebildete Frau über einen "zwölfwissenden Malâ"(24) lustig und spielt ihrem Gatten übel mit.

Die Erzählung "Der Malâ und die Wespen" handelt von einem kurdischen Stamm, der Religion nur als Tradition auffasst und nicht als Herzensangelegenheit. Ein Schäfer, der einzig auf das Wohl seiner Schafe bedacht ist, macht sich Gedanken, ob der Gebetsruf seinen Schafen Schaden bringen könnte. Der Stamm zeigt großen Eifer für die neue Religion, was wohl seinen Grund in der kurdischen Eigenart hat, an Neuem regen Anteil zu nehmen. Zu guter Letzt kann sich der Malâ nicht mehr retten und er entledigt sich der "Gläubigen" durch eine List.

"Meister Pîrots letztes Abenteuer" zeigt, wie die charaktervolle Frau des Kaufmannes mit Klugheit und Diplomatie die Freundschaft zwischen ihrem Gatten und "Meister Pîrot" erhält und gleichzeitig treu bleibt, während sie dem losen Vogel eine Lehre erteilt.

Den Märchen vergleichbar enthalten manche Volkserzählungen Lebensweisheiten, die zu Sprichwörtern wurden. So die Erzählung: "Worte sind keine Steine, die man einfach wirft". Bei dieser Erzählung stehen die Ratschläge eines alten, erfahrenen Mannes im Mittelpunkt. Er gibt seinen Rat, aber nur gegen das schwerverdiente und erarbeitete Vermögen des Beratenen. Er verlangt dies, um den Wert seines Rates ins richtige Licht zu stellen. Durch die guten Ratschläge bleibt dieser vor dem Erfrierungstod, vor irrtümlichen Beschuldigungen und sogar vor dem Mord an einem Unschuldigen bewahrt.

"Ein Dach, aber zwei Wetter" ist heute noch als Sprichwort gebräuchlich. Es stellt die mögliche Verschiedenartigkeit der Auslegung eines Gesetzes gegenüber verschiedenen Personen dar.

"Gott ist größer als Sultân Mahmûd" zeigt das Hervorgehen eines Sprichwortes aus einer offenbar sehr beliebten Erzählung. Fromme Gottergebenheit und Zuversicht stehen gegen Skepsis und die Vergeblichkeit der Behauptung des Schwachen gegen die Willkür eines Tyrannen. Zu guter Letzt zeigt die Erzählung die Allmacht Gottes, der den anscheinend unüberwindlichen Sultan sterben lässt und damit dem armen Tischler das Leben rettet.

Eine ähnliche Erzählung dieser Art ist "Der Pechvogel". Diese Erzählung hat den Glauben an Fatalismus zum Inhalt. Das vorherbestimmte Schicksal "Châranûs" (Çâranûs) ist in der orientalischen Seele tief verwurzelt. "Der Pechvogel" handelt davon. In tragikomischer Weise wird die Hauptperson wie mit einer unsichtbaren Hand von einer konfliktreichen Situation in die andere gestoßen. Dem "Pechvogel" gelingt es, sozusagen als letzte Rettung in der Not, die Verkörperung des Gesetzes, den Richter, in einer peinlichen Lage zu ertappen und durch eine kleine Erpressung das Schicksal an der Nase herumzuführen. Neben dem Glauben an ein determiniertes Schicksal vertrauen die Kurden auf eine Möglichkeit der eigenen Bestimmung(25).

Die Volkserzählungen über die Frauen sind sehr mannigfaltig. Die kurdische Frau spielt im Gegensatz zu vielen anderen orientalischen Frauen eine bemerkenswert aktive Rolle in der Gesellschaft. Diese Beobachtung machten zahlreiche Orientalisten und Reisende(26). Das soziale Leben, die geographische Lage Kurdistans und die Gefahren, von denen das Volk bedroht war, erforderten es, dass die Kurdin tapfer und tatkräftig wie ein Mann wurde. Die Kurdin verteidigte das Land mit der Waffe in der Hand und trug so zu ihrer Emanzipation wesentlich bei. Helmut von Moltke(27) beschrieb die Tapferkeit der kurdischen Frauen in Dersim (Tünceli), die gegen seine Armee kämpften. Die kurdische Gesellschaft zählt die Namen vieler Frauen mit Stolz auf, wie z.B. "Khânzâd" (Xânzâd)(28), die das Sorân-Fürstentum 13 Jahre lang regierte. Major Soane, ein englischer Gouverneur im Sulaimânî-Gebiet und bekannter Kurdologe, berichtet mit Bewunderung über die kurdische Führerin "Xânim-î Wasmân Pâšâ" (Lady Adela), die ihn vor einem Anschlag retten konnte(29).

Die Kurdin liebt den tapferen und fleißigen Mann. In der Erzählung "Die schlaue Witwe" z.B. will sich die Frau zwischen zwei Dieben entscheiden: "Ich bin die Frau desjenigen, der ein Meister seines Faches ist". Die Kurden betrachten im Allgemeinen die Frauen nicht als dumm, sondern achten ihre Klugheit und Schlauheit. Ein kurdisches Sprichwort sagt: "Ein Löwe aus dem Urwald bleibt Löwe, sei er männlich oder weiblich"(30).

Die Frau des Kaufmannes in der oben erwähnten Erzählung "Schlauheit der Frauen" wird durch einen Geistlichen, der ein Buch über seine schlimmen Erfahrungen mit Frauen schreiben will, so in ihrem Ehrgeiz und Übermut angestachelt, dass sie ihm arge Streiche spielt und sich von der ausgelassensten Seite zeigt. Nach diesen Erlebnissen hat der Malâ genug und schwört Stein und Bein, nie wieder etwas über Frauen zu sagen, weil sie ihm bewiesen habe, dass die Männer nicht klüger seien. Gleichzeitig aber gibt es Volkserzählungen, die von der Leichtgläubigkeit mancher Frauen handeln, als Beispiel sei genannt "Was für ein Meter, was für ein Stoff" (Gaz-î čî w gâw-î čî/ Gaz-î chî w gâw-î chî").

Die melancholische Erzählung "Der Kurde und der falsche Richter" handelt von dem Unglück, das einem Kurden durch den Betrug einer raffinierten Frau widerfährt. Später wird ihm von einer klugen und mitfühlenden Frau geholfen. Zu erwähnen wären noch die Volkserzählungen mit lehrhaftem Charakter wie "Tischfreund und Lebensfreund". Ein Vater führt seinem jungen, unerfahrenen Sohn mit Hilfe eines erdachten Unglücksfalles vor Augen, wie sich in der Not vermeintliche Freunde (Tischfreunde) von wahren Freunden unterscheiden(31).

Diese Erzählung zeigt deutlich kurdische Mentalität: Liebe des Vaters und die bedingungslose Treue des Freundes.

Kurdische Märchen und Volkserzählungen

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