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Wo bin ich?

Der Unfall passierte vor genau einem Tag. Ich lag da in einem Bett in dem gefliesten Raum. Mein Körper wurde durch unzählige Medikamente am Laufen gehalten, Blut wurde gestoppt, Übelkeit unterbunden, die Gewebeausscheidung angeregt, die Schmerzen durch starke Opioide gestillt, die Magensäure reduziert. Von all dem bekam ich aber nichts mit. Ich konnte mich nicht bewegen und nicht erinnern.

Nicht nur der Unfall, sondern auch die Stunden und Tage davor sowie die gesamte Zeit danach waren und sind zu großen Teilen wie aus meinem Gedächtnis gelöscht. Ich erinnerte mich nicht, dass ich auf diesem Turnier gewesen war, hatte nicht einmal eine Idee, wo ich mich, geografisch gesehen, befand. Auch dass ich noch am Unfalltag abends operiert wurde oder dass ich irgendwann auf der Intensivstation aufwachte, wusste ich nicht mehr (und es entzieht sich auch heute noch meinem Bewusstsein).

Momente, an die ich mich mit der Zeit »erinnerte«, waren großteils nur vage und verschwommen zugänglich. Die wirklich schlimmen Erinnerungen kamen erst Monate später wieder. Manchmal war es, als ob ich das alles nicht erlebt hätte, doch ich sah die Fotos, hörte meine Mutter von der ersten Zeit im Krankenhaus erzählen und wusste, dass es doch Realität war. Manchmal war es auch so, als ob ich wusste, was in manchen Momenten geschehen war, als ob ich aber doch nicht dort gewesen wäre. Das, was an »Erinnerung« da ist aus dieser Zeit, ist verwirrend und unklar. Irgendwie da und doch nicht greifbar.

Neben mir ein türkiser Vorhang, den ich in diesen Tagen wohl stundenlang angestarrt haben musste. Die Sauerstoffbrille auf meinem Gesicht, die Schläuche oder Verbände, all das nahm ich nicht wahr. Auch die anderen in diesem Raum untergebrachten Patienten existierten für mich nicht. Wenn Mama nicht da war, hatte ich den Eindruck, ganz allein zu sein. Sie war, so oft es ihr ermöglicht wurde, bei mir, und erst als sie nach dem Unfall auftauchte und mir erklärte, wo ich war, ließ ich mich Erzählungen zufolge beruhigen. Aber Besuchszeiten auf Intensivstationen sind doch auch begrenzt.

Manchmal quälten mich unglaubliche Schmerzen. Als ob ich das Geschehene aus weiter Ferne beobachte, sehe ich mich um die nächste Injektion in den Oberschenkel betteln. Mein ganzer Körper schmerzte und auch unverletzte Stellen wurden zusätzlich zur Traumaspirale (Ganzkörper-CT) nachträglich geröntgt, da sie offenbar Blessuren erkennen ließen. Am schlimmsten aber waren die Schmerzen im Bein. Irgendwann wurde dann nachgegeben und die rettende Spritze injiziert. Was auch immer mir da gespritzt wurde, es half schnell. Im Moment lag die letzte Injektion nicht weit zurück und deshalb fühlte ich mich gerade so, als ob ich auf einer weichen Wolke schwebte, vielleicht so, als ob mein Körper selbst eine Wolke wäre. Dies müssen einige der wenigen fast schmerzfreien Minuten gewesen sein.

Ich war klar genug, um mich zu unterhalten. Aus irgendeinem Grund machte ich mich bemerkbar, jemand solle zu mir kommen. Wenn ich quengelte und jammerte, beugte sich früher oder später immer jemand von den Schwestern oder Pflegern über mich. »Hallo, hallo!« Ich glaube, es war Abend, vielleicht auch Nacht. Irgendwie kam es mir dunkler vor als sonst. Einer der Pfleger erschien in meinem Sichtfeld. Er sprach etwas Englisch, und offensichtlich gab es in diesem Moment keine dringende Notwendigkeit, die anderen Patienten zu versorgen, denn er blieb neben meinem Bett stehen. »I am a Badminton player and I study«, begann ich zu erzählen. »Really, what?« »Mathematics and German to become a teacher. And I learnt Slovenian at university for some semesters. I think some of the words in Czech language are the same as in Slovenian.« Ich erzählte ihm von meinem Leben, von dem ich zu dieser Zeit nicht wusste, dass es in dieser Form nur noch Vergangenheit war.

Es war das einzige Gespräch mit einem Mitarbeiter des tschechischen Krankenhauses, an das ich mich erinnere. Vielleicht deswegen, weil die Kommunikation sich als sehr schwierig erwies. Kaum jemand sprach englisch oder deutsch und ich verstand kein Tschechisch. »Mit Händen und Füßen hat das irgendwie funktioniert«, erzählte mir meine Mama Monate später, wenn wir über diese Zeit sprachen.

Irgendwann war ich wieder allein. Vermutlich schlief ich ein. Ich musste oft geschlafen haben, selten wach gewesen sein und die meiste Zeit in einem Dämmerzustand irgendwo dazwischen verbracht haben. Irgendwann stand Mama wieder neben meinem Bett. Sie trug grün über ihrer Kleidung, die Kleidungsvorschrift auf Intensiv. »Melanie schreibt: ›Jenny, ich habe heute von deinem schlimmen Unfall gehört. Hoffentlich geht es dir sehr bald besser. Ich wünsche dir gute Genesung!‹ Auch Manuel hat dir eine Nachricht geschickt.« Minutenlang las mir Mama Besserungswünsche vor, die mich auf den unterschiedlichsten Wegen erreicht hatten. Familie, Freunde, Bekannte und auch Fremde wollten mich mit ihren Worten aufbauen. Ich lächelte müde. Wie nett das ist, dass so viele Menschen an mich denken. Es hatte sich wirklich schnell herumgesprochen, dass wir im Krankenhaus lagen.

Nur wenige Minuten später sah ich Mama mit großen Augen an. »Wo bin ich, was ist passiert?« Mein Kopf war wie eine defekte Platte. Out of order! Ich konnte nicht mehr denken und zu begreifen fiel mir ebenso schwer. Alles war so unwirklich und doch so normal in diesem Moment.

In einem klareren Moment fragte ich nach Stella und Chee Tean. »Wo sind sie?« »Sie liegen mit schweren Kopfverletzungen auf einer anderen Station«, versuchte meine Mama das Thema schnell zu beenden, doch ich fragte nach. »Warum sind sie nicht hier bei mir im Zimmer?« Mama versuchte mir vorzuenthalten, dass Chee Tean gestorben war und wie schlimm es um Stella stand, sie wollte mich schützen. Doch ich hatte – in Ausübung der einzigen in manchen Minuten möglichen Aktivität in komplett liegender Position, dem einfingrigen Bedienen meines Handys – die Nachricht von Chee Teans Tod bereits gelesen. Mama wusste das nicht und löschte sie, als ich zu einer Untersuchung abgeholt wurde. Ich war verwirrt, ich hatte das doch gelesen. Zwar konnte ich mich auf meine Erinnerung nicht mehr verlassen, aber irgendwie fühlte ich, dass Mama nicht die volle Wahrheit mit mir teilte, und irgendetwas in mir kannte die Wahrheit und hatte sie sogar selbst gesehen. Ich konnte aber nicht weiter darüber nachdenken.

Nichts schien an mich heranzukommen. Ich hatte starke Schmerzen und auch innere Verletzungen. Komplikationen waren in den ersten Tagen nach dem Unfall durchaus denkbar und ich wurde daher engmaschig überwacht und immer wieder untersucht, doch obwohl ich die Schmerzen spürte, schien ich auch das bewusst nicht zu begreifen. Ich befand mich in einer Schockstarre, die alles von mir fernzuhalten schien. Sie verhinderte gemeinsam mit den starken Medikamenten offensichtlich, dass ich nachdachte, aber auch, dass ich Erinnerungen wahrnahm oder speicherte.

Do not use, out of order!

Auch allgemein schien ich »verwirrt« zu sein, fragte nach dem in diesem Moment wohl Unwichtigsten, dem Schulpraktikum. »Mama, ich muss den Verantwortlichen des Praktikums Bescheid geben, kannst du das machen?« Vermutlich dachte sie sich ihren Teil darüber, griff sich aber trotzdem mein demoliertes Handy, das in meinem Bett neben meiner eingegipsten linken Hand lag. Irgendwie mussten wir die Zeit ohnehin totschlagen, und viel ließ sich hier nicht machen. Sie schien froh zu sein, etwas tun zu können. »Okay, du musst den Zuständigen eine Mail schreiben«, leitete ich sie an. Natürlich, sie wusste nicht, wie man meinen im Studierendenportal gut versteckten Mail-Account aufruft, und kannte auch meine Zugangsdaten nicht. Verbal erklärte ich ihr die Schritte. »Okay, und was soll ich jetzt schreiben?« Ich begann zu diktieren: »Hallo! Ich, die Mama von Jenny, möchte Ihnen diese E-Mail mit der Bitte weiterleiten! Wäre es vielleicht möglich, dass Sie mit der Professorin …«. Mama machte ein seltsames Gesicht und hörte auf zu tippen. »Jenny, ich glaub, ich werd dann einfach dort anrufen.« Offensichtlich wollte mein Gehirn dort weitermachen, wo es vor dem Unfall aufgehört hatte. Ich hatte doch im Auto gerade erst die Nachrichten in der Facebookgruppe »Schulpraktikum« gelesen, wie sich später herausstellte, das musste also erledigt werden.

Ein anderes Mal sprachen wir über Badminton. »Im Jänner, beim Bundesligaspiel zu meinem Geburtstag, werde ich wieder spielen«, soll ich verkündet oder auch als Frage in den Raum geworfen haben. Ich konnte den Umfang dessen, was geschehen war, noch nicht begreifen. Aber wie auch. Wer weiß denn bitte schon, was ein solcher Unfall, solche Verletzungen und Erfahrungen fürs Leben bedeuten.

Das Letzte, woran ich mich erinnere aus der Zeit in Tschechien, ist der Tag, an dem ich nach Österreich überstellt wurde. Ich lag in meinem Bett, wie ich es auch schon die ganzen letzten Tage getan hatte. Aber ich befand mich nicht mehr neben dem schönen türkisen Vorhang. Ich fuhr. Pfleger schoben mein Bett, in dem ich bewegungsunfähig, gedankenleer und immer noch irgendwie teilnahmslos lag. Es ruckelte anständig. Au, au, das ist wirklich nicht angenehm. Ich schien mitsamt dem Bett jedes Mal einige Millimeter in die Höhe geschleudert zu werden, wenn wir kleine Erhebungen am Boden passierten. Wenigstens kam das Ruckeln regelmäßig, ich konnte mich darauf vorbereiten und wurde nicht mehr vom Schmerz überrascht. Hell, dunkel, hell, ruckel, hell. Die Lichter an der Decke zogen an mir vorbei und ich kniff die Augen zusammen. Die Pfleger unterhielten sich auf tschechisch miteinander.

Als ich meine Augen das nächste Mal öffnete, war ich in einem Raum. Ich kann ihn nicht beschreiben. Da standen so eine Eisenbahre und eine Wanne, glaube ich. Ich lag nackt da und die Schwestern begannen mich abzuduschen. Kaltes Wasser floss in meine von Blut verfilzten Haare. So müssen sich Tiere fühlen, wenn sie gebadet werden. Im nächsten Moment war ich wieder in meinem Zimmer oder vielleicht auch woanders, keine Ahnung. Jemand sprach, es war nicht Mama, aber ich konnte es verstehen. Jemand sprach deutsch. Es war das Team rund um die Ärztin, die mich nach Hause bringen sollte. Irgendwie schienen sie unschlüssig, zweifelten meine Transportfähigkeit an. Ich bekam es mit, war aber nicht besorgt. Immer noch verstand ich kaum etwas oder erinnere mich nicht mehr daran.

Aus fünf Tagen in Tschechien war das alles, was zumindest dunkel noch da war. All die vielen anderen Stunden fehlten lange bzw. fehlen großteils immer noch. Obwohl ich phasenweise durchaus normal mit meiner Umgebung kommunizierte, weiß ich selbst davon so gut wie nichts mehr, und ich klammere mich wohl auch bei dem, was ich weiß, an die Erzählungen meiner Mama.

Hier nochmals einige ihrer Erinnerungen:

Stellas Zustand wollte sich einfach nicht bessern. Bei uns aber endlich die Nachricht, Jenny würde morgen abgeholt und nach Klagenfurt gebracht. Ich versuchte so früh wie möglich ins Krankenhaus aufzubrechen, um bei Jenny zu sein. Dort angekommen lag sie mit nassen Haaren und ein wenig aufgelöst im Krankenbett und erzählte mir von ihrem außergewöhnlichen Duscherlebnis.

Plötzlich kam Unruhe auf, man hörte Personen, die unsere Sprache sprachen. Endlich war es so weit, dachte ich. Es dauerte dann aber doch noch lange, da Zweifel aufkamen, ob Jenny tatsächlich transportfähig sein würde. Das Transportteam diskutierte mit der Begleitärztin. Anfangs war noch angedacht, dass ich mitfahre, ich wurde dann aber gebeten, mit dem Zug nach Hause zu fahren. Bevor Jenny ein Mittel bekam, um schlafen zu können, verabschiedete ich mich von ihr und machte mich auf den Weg zum Bahnhof Brünn, wo ich den nächsten Zug nahm. Irgendwie erleichtert und doch voller Sorge um meine Tochter. Jennys Ankunft im Klinikum Klagenfurt war so um 16 Uhr geplant. Barbara und Nina, meine Nichte und Ärztin im Klinikum, würden Jenny in Empfang nehmen.

Ich bleib am Ball

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