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Mein Brief an mich – Das Leben ist lebenswert

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Es passiert so vielen Menschen. Schicksalsschläge. Unerwartet und plötzlich treten sie ins Leben und verändern in einem kleinen Augenblick alles, was man über Jahre aufgebaut hat. Eine Mutter scheidet plötzlich aus dem Leben und lässt ihre Kinder zurück, ein erfolgreicher Sänger singt nach langem Kampf gegen seine Krankheit die letzten Töne, eine Katastrophe bringt auf einen Schlag die Träume und Pläne von unzähligen Menschen zum Erlöschen.

Schlägt man die Zeitungen auf, sind diese voll mit solchen tragischen Geschichten, mit solchen Schicksalen. Wir sind erschüttert darüber, aber meist nur kurz, dann vergessen wir es wieder. Und das ist ein Stück weit gut so, denn wir können nicht mit jedem, der etwas Schreckliches erlebt hat, mitleiden und mitfühlen. Aber während man selbst das Gelesene längst vergessen hat, beginnt irgendwo auf der Welt für den oder die Betroffenen, sofern sie die Chance dazu erhalten, ein unglaublich langer, harter und steiniger Weg zurück. Zurück ins Leben. Unfälle, Katastrophen, Schicksalsschläge passieren binnen Bruchteilen von Sekunden, doch ihre Nachbeben und Auswirkungen sind auch viele Jahre danach oft noch deutlich zu spüren. Diese Erfahrung habe auch ich gemacht, als sich am 28. September 2018 mein Leben schlagartig für immer veränderte.

Vielleicht gibt es für dich ein Morgen. Vielleicht gibt es für dich auch 1000 oder 3000 oder 10.000. Das ist so viel Zeit, dass man darin baden kann, so viel Zeit zum Verschwenden. Für einige von uns gibt es nur heute. Doch von all dem wusste ich nichts, bis ich kurz davor war zu fallen.

(Zitat aus dem Film: »Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie«)

Ich fiel kilometerweit und stunden-, nein, tage- und wochenlang, ehe ich wie in einem anderen Universum auf einem gänzlich unbekannten Weg mehr als unsanft landete. Für mich gab es ein Morgen. Bald schon begann ich mich umzusehen, versuchte mich zu orientieren und meinen Weg, den altbekannten, zu erspähen, aber weit und breit gab es keine Spur davon. Alles war neu, anders, verwirrend und doch auch irgendwie vertraut. Ich war orientierungslos.

Nach einiger Zeit hatte ich mich etwas aufgerappelt und war entschlossen, dem unbekannten Weg zu folgen, in der Hoffnung, meinen eigenen wiederzufinden. Dieser Weg und meine Reise sollten unendlich lang sein. Mal kämpfte ich mich monatelang wenige Meter vorwärts über Geröll und Schutt, nur um dann von plötzlich entgegenstürmenden Lawinen gefühlt viele Kilometer weit zurückgeworfen zu werden. Aber ich stand immer wieder auf. Manchmal rastete ich, manchmal verzweifelte ich und brauchte Zeichen und Menschen, die mich ein Stück auf meinem Weg begleiteten, mich trugen und stützten.

Niemals jedoch verlor ich den Gipfel des nun vor mir liegenden Bergs, des großen Ziels, ganz aus den Augen. Ich stieg immer höher, immer wieder gefühlt an meiner Seite auch meine Freunde Stella und Chee Tean, und irgendwann schaffte ich es, den ersten großen Gipfel zu erklimmen. Das Gefühl war einzigartig, aber der Blick nach vorn offenbarte mir, dass es noch so viele weitere, viel höhere und bedeutendere Gipfel zu besteigen galt, dass der Weg hier noch lang nicht endete. Obwohl die Aussicht bereits erahnen ließ, dass es wieder schwierig werden würde, setzte ich mich abermals in Bewegung. Seitdem wanderte ich durch die finstersten Täler, begegnete meinen größten Ängsten und schrecklichen Erinnerungen, Monstern, die mich verfolgten. Ich war oft drauf und dran umzukehren oder einfach endgültig stehen zu bleiben – aber das tat ich bis heute nicht.

Wurde es besonders schwierig, kramte ich einen selbst verfassten Brief aus meinem Rucksack und las:

1. Jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen und seine Geschichte zu erzählen, jeder durchlebt schwere Lebensphasen, doch niemand zeigt gern Schwäche. Urteile nie voreilig, sondern hilf anderen, wie du es dir auch von ihnen wünschen würdest. Hilf anderen mit kleinen Gesten der Menschlichkeit, wieder Hoffnung zu schöpfen. Und vergiss nicht: Alles, was du tust, hat Konsequenzen, du trägst die Verantwortung zu entscheiden, ob es positive oder negative sind.

2. Menschen im Rollstuhl, mit Prothese, mit psychischen Problemen, Trauernde – sie sind alle nur Menschen, wir sind alle nur Menschen. Sieh den Menschen hinter der Einschränkung und hab keine Angst zu sagen, was du sagen willst, und zu fragen, was du fragen willst. Sei rücksichtsvoll und sensibel, aber verstell dich nicht, es führt zu nichts und bewirkt nur Gegenteiliges. Sei einfach du selbst!

3. Du selbst sein und den Menschen sehen, nicht nur die Einschränkung – das gilt besonders auch für den Umgang mit dir selbst. Keine Einschränkung und kein psychisches Problem machen dich wertlos oder sollten den Blick auf dich selbst verändern. Du bist wertvoll, zeig dich, wie du bist!

4. Und noch wichtiger: Akzeptiere dich so, wie du bist. Akzeptiere deine Andersartigkeit, akzeptiere deine Fehler, deine Stärken, akzeptiere, dass du leidest, trauerst, zweifelst oder zögerst. Akzeptiere, wie du bist und was geschehen ist.

5. Akzeptiere, lass den Schmerz zu, denn er gehört zum Leben. Gäbe es keinen Schmerz, so gäbe es auch keine Liebe. Lass ihn zu und dann lass ihn los. Doch vergiss nicht, Narben brauchen Zeit zum Heilen, auch die psychischen. Gib dir diese Zeit!

6. Wenn du feststeckst, akzeptiere insbesondere auch, dass du Hilfe brauchst. Gesteh dir selbst ein, wenn etwas nicht mehr geht – das ist keine Schwäche, kein Versagen, sondern das Gegenteil. Sprich über deine Probleme und gib den Menschen in deinem Umfeld die Chance, dich zu verstehen und zu unterstützen, und deinen Therapeuten die Möglichkeit, dir zu helfen.

7. Und dann nutze deine wiedergewonnene Handlungsfähigkeit, um zu ändern, was du ändern möchtest und was auch veränderbar ist. Denn die Macht zur Veränderung obliegt dir ganz allein und bedarf im ersten Schritt nur einer Entscheidung. Du kannst entscheiden, wie du im Jetzt mit dem umgehst, was in der Vergangenheit geschehen ist – willst du den Schmerz loslassen oder festhalten, willst du nach vorn oder zurück schauen. »Wenn der Wind der Veränderung weht, baue Windräder und nicht Mauern«, heißt es. Wenn du der Veränderung die Möglichkeit gibst, kann sie eine große Chance sein! Lass es zu und alles wird sich fügen und im richtigen Augenblick in dein Leben treten.

8. Veränderung braucht Ziele! Du musst wissen, wo es hingehen soll, um überhaupt starten zu können. Strebe aber nicht danach, den Ansprüchen anderer zu entsprechen oder deren Träume zu leben, denn dann wirst du scheitern. Finde deinen eigenen Weg und lass ihn zu. Vertraue in dich selbst und deine eigenen Entscheidungen und Ziele.

9. Dein Glaube ist dabei deine größte Ressource. Der Glaube an dich selbst, an die Erreichbarkeit deiner Ziele, an eine bessere Welt, an ein Schicksal, an einen Gott. Lass dir deinen Glauben, deine Träume und Visionen, deinen Willen und deine Zuversicht nicht von der gelebten Aussichtslosigkeit anderer Menschen nehmen, sondern halte daran fest. Wenn du etwas wirklich willst und bereit bist, hart dafür zu arbeiten, kannst du buchstäblich Berge versetzen. Glaube an dich, du kannst fast alles möglich werden lassen!

10. Verzage nicht, wenn du das Gefühl hast, auf der Stelle zu treten oder gar Rückschritte zu machen, nicht einmal dann, wenn alles hoffnungslos und für alle Zeiten unveränderbar scheint. Diese Rückschläge sind Teil des Wegs und Teil der Veränderung. Sie gehören zum Leben, versuche sie anzunehmen, zu akzeptieren und deine Ziele zu adaptieren. Sei stolz auf dich und jeden Schritt in die richtige Richtung!

11. Und glaub daran, das Leben ist lebenswert. Es ist zwar stets unvorhersehbar, aber wunderbar zugleich, wenn du es zulässt und deine Augen und dein Herz öffnest. Es ist nie nur das, was es ist, sondern immer auch das, was du daraus machst, es ist deine Entscheidung. Licht scheint auch in der dunkelsten Finsternis. Nur manchmal da erkennst du es nicht, weil du zu sehr auf die Dunkelheit fokussiert bist. Wenn die Dunkelheit zu groß wird, wirst du vergeblich versuchen, das Licht zu sehen, doch kleine Schritte in die richtige Richtung sind selbst dann möglich. Vergiss einfach nie, dass kein Augenblick selbstverständlich ist – dass du morgens deine Augen öffnest, dass du laufen und springen oder in die lachenden Gesichter deiner Liebsten schauen kannst. Du weißt niemals mit Gewissheit, wie es weitergeht. Alles, was dir bleibt, ist der Moment. Also versuch hinzuschauen und erkenne, egal wie verloren du dich fühlst, du bist niemals allein.

Neuen Mutes packte ich dann jedes Mal diese Liste wieder ein und setzte meinen Weg fort. Und so wandere ich immer noch. Doch nach all der Zeit hat sich etwas verändert. Meine Augen versuchen sich an etwas zu gewöhnen, was langsam wiederkehrt – das Licht. Vielleicht war es nie weg gewesen, aber ich hatte oft hindurchgeschaut, als ob es nicht da wäre. Vielleicht hatte ich meine Augen nach diesen wenigen, alles verändernden Sekunden des Unfalls panisch verschlossen und seitdem nicht mehr geöffnet. Vielleicht hatte ich aber auch einfach eine Brille getragen, die ähnlich wie eine Sonnenbrille das ganze Licht gefiltert hatte und die nur in ganz seltenen Momenten doch auch mal auf der Nase verrutscht war.

Nun kann und darf ich meine Augen wieder öffnen, die Brille abnehmen, ich weiß, dass es diese Möglichkeit gibt. Aber es bleibt schwierig, denn das gleißende Licht schmerzt in den an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Und manchmal wird es auch wieder dunkel, da versteckt sich das Licht hinter all den Gipfeln, die noch vor mir liegen, da holen mich auch die Monster, denen ich auf meinem Weg begegnete, wieder ein. Ich akzeptiere, dass sie da sind und manchmal wiederkommen, ich lasse meine Wegbegleiter ins Gespräch mit ihnen treten. Ich befinde mich nun am Fuß des nächsten Bergs, bereit loszuklettern und voller Zuversicht das Ziel zu erreichen. Der unbekannte Weg ist zu meinem eigenen geworden und ich bin nicht mehr allein.

Die Geschichte hinter der Metapher füllt dieses Buch.

Ich bleib am Ball

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