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SPRUNG IN DIE FREIHEIT

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2007. Die zähen Stunden im grauen Büro lagen hinter mir. Gefangen zwischen der Angst, wieder in den Alltag zurückzukehren, und der Unsicherheit des Aufbruchs in das große Unbekannte, musste ich tief in mich gehen und einen Schritt auf meinen unerfüllten Traum zumachen: einer Reise um die Welt. Die Sicherheit hinter mir lassen, die mir meine Heimat, Freunde und Familie vermittelten, um neue Horizonte zu erschließen.

Aber von Anfang an: In den Wochen, bevor ich endlich die Flüge buchte und Visa beantragte, rang ich intensiv mit meinem inneren Neinsager. Vielleicht kennst du diese Stimme im Kopf, die dir stets eine Absage erteilt, wenn du dich nach Veränderung sehnst oder ein neues Experiment wagen möchtest. Bloß immer schön in der gemütlichen Komfortzone bleiben, ja kein Risiko eingehen.

Trotz meiner riesengroßen Lust, einfach aufzubrechen, plagten mich Fragen wie: Werde ich einsam sein, wenn ich mich auf eine solche Soloreise begebe?

Mir eine tödliche, von Moskitos übertragene Krankheit einfangen? Was ist, wenn mich eine lokale Delikatesse wie Fledermaussuppe auf einem chinesischen Straßenmarkt krank macht? Sind die anvisierten Länder wirklich so gefährlich, wie die Nachrichten es einem oft glaubhaft machen wollen? Ich wollte nicht allein losziehen, aber keiner meiner Freunde hatte den Mut oder die Freiheit mitzukommen, und ich haderte mit mir. Den Traum ignorieren und die Reise verschieben? Nein, zu Hause zu bleiben war einfach keine Option.

Ich hatte echte Angst, die Reise alleine anzutreten.

Schließlich stieß ich auf studiVZ, dem früheren deutschen Facebook-Äquivalent, in einem Reiseforum auf eine junge Frau, die nach Gefährten für ihre Route suchte. Ich zögerte nicht lange; bevor ich mich dem Neuen ganz allein stellen musste, zog ich lieber mit einer Wildfremden los.

Wir nahmen Kontakt auf, stimmten unsere Routen aufeinander ab, und dann ging es tatsächlich los. Nach kurzer Zeit war allerdings bereits abzusehen, dass unsere Zweckgemeinschaft nicht lange gut gehen würde. Zum einen hatte meine Reisegefährtin weniger Zeit für ihre Reise eingeplant als ich, weshalb es sie überall sofort wieder weitertrieb, während ich länger verweilen wollte. Zum anderen waren wir charakterlich zu unterschiedlich, um befriedigende Kompromisse zu finden. Der Schritt, die Verbindung zu lösen und allein weiterzureisen, fiel mir trotzdem schwer, zumal mich Schuldgefühle ihr gegenüber plagten, da ich wusste, dass sie enorme Angst vor dem Alleinreisen hatte.

Ab dem Moment jedoch, in dem ich meine Furcht überwand und wir unsere Routen voneinander trennten, blühte ein bisher nie da gewesenes Freiheitsgefühl in mir auf. Es war unbeschreiblich. Ich konnte bleiben, wo und wie lange ich wollte. Musste meine Entscheidungen mit niemandem absprechen und konnte einzig nach meinem Bauchgefühl leben und handeln.

Schnell fand ich heraus: Das Alleinreisen war längst nicht so einsam, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mit jedem Tag fühlte ich mich besser. Und mit diesem neuen Selbstbewusstsein lernte ich die spannendsten Menschen kennen und ließ mich von den neuen Eindrücken und Bekanntschaften treiben. Allein durch diese Entscheidung und die vielen kleinen Überwindungen in den Wochen danach wuchs ich mit jeder Situation ein bisschen weiter über mich hinaus. Gleichzeitig reifte die Erkenntnis: Meine Ängste hatten mich beinahe erdrückt. Und statt mir selbst zu vertrauen und auf mein Bauchgefühl zu hören, war ich lieber mit einer völlig Fremden aufgebrochen, die ich nicht mal besonders mochte, nur um am Ende festzustellen, dass der »Worst Case«, den ich mir so lange ausgemalt hatte – allein reisen zu müssen –, das Wunderbarste war, das mir hätte passieren können.

***

Ich war bereits einige Monate allein in Thailand, Laos, China, Hongkong und Australien unterwegs gewesen, als ich beschloss, dass es Zeit für eine neue Dimension des Abenteuers war: Ein Fallschirmsprung in Neuseeland!

Der Sprung war mit Florian geplant, einem anderen deutschen Backpacker, den ich in einem Onlinereiseforum kennengelernt hatte.

Mehrfach hatten wir bereits versucht, uns persönlich zu begegnen, doch trotz der fast exakt gleichen Reiserouten verpassten wir uns sowohl in Malaysia als auch in Australien. Jetzt sollte es endlich klappen, und nach den vielen Überlandreisen waren wir beide begeistert von der Möglichkeit, nun den Himmel über uns zu entdecken.

Wir vereinbarten im Netz, uns am gemeinsam gebuchten Hostel zu treffen. Ich kannte ihn nur von Fotos und hielt Ausschau nach einem blonden, großen Kerl mit einnehmendem Lächeln. Und da trat er auch schon um die Ecke.

»Hallo, Joe«, begrüßte er mich mit lustigem bayerischen Akzent. »Ich hab dir was von meinem Burger mit Süßkartoffelpommes vom besten Burgerladen der Stadt übrig gelassen.« Er hielt mir eine Tüte mit duftendem Essen hin, und ich bediente mich gern. Er wartete, solange ich eincheckte, und führte mich anschließend zu unserem Sechsbettzimmer.

»Und, wie läuft es mit der weltweiten Suche nach Pianos?«, fragte mich Florian, während ich mein Stockbett mit Laken bezog.

Im Chat hatte ich ihm davon erzählt, dass ich an jedem neuen Ort zuerst danach fragte, wo es in der Stadt ein Klavier gäbe, auf dem ich spielen konnte. »Ehrlich gesagt aufwendiger, als ich am Anfang dachte. Aber ich bin hartnäckig geblieben und hab über die letzten Wochen dann doch einige Instrumente aufgespürt«, erwiderte ich.

»Darf ich dir als Musikdetektiv behilflich sein?« Florian zog sich einen imaginären Hut ins Gesicht. »Ich habe Hinweise vernommen, dass es hier um die Ecke ein Etablissement mit entsprechender Ausstattung geben soll.«

Ich lachte. »Na, dann lass uns den Indizien mal folgen.«

Tatsächlich hatte Florian im Hostel nachgefragt, ob es in der Nähe ein zugängliches Klavier gäbe – und ausgerechnet die Nachbarschaftskneipe um die Ecke beherbergte eines. Wir gingen rasch hinüber und betraten einen gemütlichen Schankraum mit einigen Tischen und mehreren Fernsehern, die über den Raum verteilt hingen. Ich sah mich sogleich nach dem besagten Klavier um, und nachdem ich das alte Schmuckstück an einer Wand entdeckt hatte, fragte ich an der Bar nach, wie es mit einer Nutzungsmöglichkeit aussah.

»Wir zeigen noch ein Rugby-Spiel, das fängt gleich an. Danach kannst du gern laut klimpern«, sagte die Frau hinter dem Tresen. »Allerdings ist das alte Ding sicherlich ganz verstimmt.«

»Macht nichts, und danke schon mal«, entgegnete ich und setzte mich mit Florian unter einen der Bildschirme. Im Vorprogramm der Rugby-Partie lief gerade ein Clip von Flight of the Conchords, und sogleich stimmten wir eines der Satirelieder des neuseeländischen Comedyduos an. Offensichtlich hatten wir einen ähnlichen Humor und fühlten uns dadurch schnell verbunden.

Während wir uns jede Menge erzählten, wanderten immer wieder neuseeländische Dollar über die Theke, die wir in regionales Bier mit Namen wie Speight’s, Invercargill oder Wanaka Beerworks eintauschten.

Obwohl wir uns noch nie gesehen hatten, fühlte es sich so an, als würde ich einen guten Freund wiedertreffen, da wir uns bereits seit Monaten per Mail ausgetauscht hatten. In seinem Reiseblog schrieb Florian später das gleiche über unsere Begegnung.

»Warum bist du eigentlich wirklich unterwegs?«, fragte ich ihn nach ein paar Gläsern und spielte darauf an, dass die üblichen Motivationen, die man in Reiseforen angibt, selten den Punkt berühren, der wirklich hinter so einer »Ich bin dann mal weg«-Sehnsucht steckt.

Florian strich sich mit den Fingern durch seine vom Sonnenlicht aufgehellten blonden Locken und meinte: »Gegen Ende meines Stadtplanungsstudiums war ich ein paar Wochen mit einer Brasilianerin zusammen, die schon in Südamerika, den USA und eben in Deutschland gelebt hat. Mich hat beeindruckt, was sie von den unterschiedlichen Ländern erzählte, und da wollte ich so was auch erleben. Tja, nun ist mein Studium beendet und der perfekte Zeitpunkt, um was von der Welt zu sehen.«

Wir sprachen lange darüber, wie unsere Zukunft aussehen könnte. Florian klang enthusiastisch, wenn er sich seinen Einstieg in die Arbeitswelt ausmalte. Im Gegensatz zu mir.

»Die Perspektive, nur maximal dreißig Tage im Jahr verreisen zu können, schnürt mir die Luft ab«, gab ich zu. »Warum soll es normal sein, sich die allermeiste Zeit des Jahres in den Dienst von anderen zu stellen? Natürlich bringt so eine Anstellung eine gewisse Sicherheit mit sich, aber dafür sind wir längst nicht so frei, wie wir oft denken.«

Florian nickte. »Nach dem, was du über deine Arbeitsstelle erzählt hast, glaube ich auch nicht, dass ein fester Job das Richtige für dich ist.«

»In meiner Welt fühlt sich das gerade so an:«, führte ich aus, »Wir verzichten auf unsere Träume zugunsten der Träume und Ziele anderer – Inhaber und Aktionäre der Firmen, für die wir arbeiten.« Ich seufzte. »Wann haben wir eigentlich angefangen zu denken, dass das normal ist?«

Unvermittelt holte uns ein französischsprachiger Kanadier aus der Melancholie.

»Hey, Jungs, ich habe euch doch vorher drüben im Hostel im Gemeinschaftssaal gesehen – ich habe das Bett unter dir«, sagte er, zeigte auf mich und grinste verschmitzt aus seinem rotbraunen Bart auf uns herunter.

»Setz dich zu uns«, bot ich an und schob ihm einen Stuhl hin.

»Ich heiße Will«, stellte er sich mit festem Händedruck vor. Er war 25 und stammte aus dem Umland von Quebec. Nachdem sich seine langjährige Highschool-Freundin von ihm getrennt hatte, musste Will sich erst mal neu orientieren. Um den Herzschmerz zu heilen, beschloss er, möglichst weit weg von seiner Ex und den gemeinsamen Erinnerungen einen Selbstfindungstrip durch Neuseeland zu unternehmen.

»Mich hat die Trennung total kalt erwischt«, erzählte er ein paar Stunden später, nachdem wir drei schon so gut wie keine Geheimnisse mehr voreinander hatten. Er vergrub sein Gesicht in den großen Tischlerhänden, mit denen er sonst hingebungsvoll verschiedene Hölzer bearbeitete.

»Ich kenne das«, tröstete Florian. »Manchmal muss man sich dazu zwingen, den Absprung zu wagen, um darüber hinwegzukommen.« Beim Wort »Absprung« sah er mich halb fragend, halb auffordernd an, und ich verstand.

»Will …«, fing ich in an, »Was hältst du davon, wenn du morgen mit uns aus einem Flugzeug springst?«

Will sah uns verwirrt an. Er schaute auf die Bierflaschen, die wir auf unserem Tisch angehäuft hatten, zählte wohl im Stillen nach. So viele waren es nicht. Er suchte in unseren Gesichtern nach Anzeichen erkennbaren Wahnsinns – bis etwas einrastete: »Nein! Ihr wollt Fallschirmspringen gehen? Das wollte ich immer schon mal machen!«

»Wir auch«, antworteten Florian und ich im Chor, und wenige Sekunden später stießen wir darauf an, dass wir uns morgen zu dritt in die Tiefe stürzen würden.

Mit einem Mal stand die Barchefin an unserem Tisch. »Wenn du magst, kannst du jetzt am Klavier loslegen, das Rugby-Spiel ist aus.«

Verblüfft warf ich einen Blick auf die Bildschirme – tatsächlich. Ohne dass wir es bemerkt hätten, war das Spiel an uns vorübergezogen, und nun lief, mit stummgeschaltetem Ton, irgendein Interview.

»Super, danke!« Ich stand auf und lief mit einer Mischung aus Aufregung und Vorfreude zum Klavier. Die beiden Jungs folgten mir und schoben sich zwei Stühle an das Instrument heran.

Ich ließ mich auf dem Klavierhocker nieder und legte los, spielte, was sich die Barchefin und meine Begleiter wünschten. Nach und nach warfen auch ein paar andere Gäste ihre Lieblingslieder in den Ring. Oft sang die ganze Kneipe den Refrain mit. Und ich freute mich, diesen Moment mit meinen neuen Reisekumpels teilen zu können.

»Toll, welche Wirkung Melodien haben und wie sich gleich eine ganze Gruppe einander unbekannter Menschen mitgerissen fühlt«, sagte Florian zu mir, als wir später im Gemeinschaftsbad die Zähne putzten.

Bzzzzz. bzzzzzzzz. bzzzz. Der schrille Ton des Weckers durchdrang viel zu früh die verschlafene Stille. Doch anders als an Tagen, an denen ich mich ins Büro schleppen musste, war ich innerhalb von Sekunden hellwach. Ich schwang meinen Oberkörper über die Bettleiste und flüsterte aufgeregt nach unten zu Will: »Auf geht’s, bald fliegen wir durch die Wolken.«

Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und schaute kurz ein wenig verwirrt zu mir hoch. Dann erinnerte er sich daran, dass er gestern spontan zugesagt hatte, aus unserem Fallschirmsprung-Duo ein -Trio zu machen, und grinste.

Wir ließen das Frühstück aus und schnappten uns stattdessen ein paar Snacks aus dem Supermarkt. Voll beladen mit Reiseproviant stapelten wir uns in einen Mietwagen und düsten los nach Wanaka.

Nach unserer Ankunft hüpften Florian, Will und ich beinahe über das Flugfeld. Unser Muffensausen wechselte sich mit vorfreudigem Kribbeln ab. Ein Mitarbeiter begrüßte uns und führte uns zu einem Regal, in dem die farbenfrohe Sprungkleidung aufbewahrt wurde. Wir schlüpften hinein und nahmen mit den Anzügen, den Schutzbrillen und dem Kopfschutz langsam aber sicher die Form von Superhelden an. Selbst als der Ausbilder uns die Verzichtserklärung mit Worten wie »Tod« und »Unfall« aushändigte und wir unsere Leben quasi mit einer Unterschrift besiegelten, befand sich unsere Stimmung noch immer auf einem Höhenflug.

Will machte jede Menge Fotos, auf denen wir übermütig in die Kamera grinsten. Auch beim Ansehen des obligatorischen Sicherheitsvideos waren wir noch zuversichtlich.

Im Anschluss bekam jeder einen Lehrer zugeteilt. Meiner, ein erfahren wirkender Typ in seinen Mittvierzigern, fragte mich: »An welcher Stelle willst du springen? Als Erster, Zweiter oder Dritter?«

Ich entschied mich für die Mitte, das fühlte sich am besten an.

»Jungs, jetzt geht’s los«, sagte kurz darauf Florian, der voranschritt. Wir stiegen in ein kleines Propellerflugzeug, und wenige Minuten später konnte ich aus der Luft über dem Lake Wanaka den Gipfel des weltbekannten Mount Cook erspähen, während wir höher und höher in die Lüfte aufstiegen.

»Habt ihr so was Schönes schon mal gesehen?«, wollte ich von meinen beiden Begleitern wissen. Es war eine rhetorische Frage, denn wir saßen alle mit offenen Mündern und staunenden Augen vor den gewölbten Fenstern, die den Blick auf den See und die Gipfel freigaben, sodass wir sie aus einer einzigartigen Nähe bewundern konnten.

Das Flugzeug stieg weiter auf: Dreitausend, fünftausend, achttausend bis auf zwölftausend Fuß, circa 3.650 Meter. Mein Grinsen schien mit jedem weiteren Höhenmeter breiter zu werden und wusste gar nicht, wohin mit sich, so als wäre nicht mehr genug Platz im Gesicht.

Während ich noch den Ausblick genoss, tippte mir mein Lehrer plötzlich auf die Schulter, erklärte: »Joe, wir springen doch zuerst!«, und klinkte sich an mein Gurtzeug.

Bevor ich nachdenken und zustimmen oder protestieren konnte, öffnete sich bereits die Tür des Kleinflugzeugs. Wir robbten zur Luke der Propellermaschine. Und da ich vor meinem ausgebildeten Springer festgeschnallt war, hing ich quasi schon halb aus der Maschine. Mein übermütiges Selbstvertrauen verabschiedete sich sogleich durch die offene Tür. Denn als ich einen Blick auf den Flickenteppich namens Erde, die sich schlängelnden Flüsse und eiskalten Seen ein paar tausend Fuß unter mir erhaschte, drehte sich mir der Magen um. »Keine gute Idee!«, sagte mein Verstand klar und deutlich.

Mein Lehrer forderte mich auf, kurz in die Kamera zu lächeln, die an der Tragfläche angebracht war, und begann sogleich, bis drei zu zählen.

»Eins … Zw…«

Zeitgleich mit der »Zwei!« stürzten wir mit einem Salto vorwärts in die Tiefe. An dieser Stelle würde ich nun gern von dem Heldenblick berichten, mit welchem ich den uns entgegenstürzenden Erdboden bedachte. Doch die Fotos, die der mitgesprungene Fotograf schoss, malen ein anderes Bild. Mein Grinsen verwandelte sich in eine Grimasse, als wir durch die Luft purzelten, sich meine Arme hilflos auf der Suche nach Halt im sicheren Flugzeug ausstreckten, mein Gehirn erstarrte und mein Herz vor Aufregung über das ultimative Freiheitsgefühl des Fliegens zu flattern begann.

Nach dem ersten Schreck brachte mich die absurde Situation des freien Falls in null Komma nichts zurück ins Hier und Jetzt. Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Mir fehlten die Worte. Nicht dass Reden überhaupt eine Option gewesen wäre – die G-Kräfte ließen meine Wangen wackeln wie eine Großmutter, die ihren geliebten Enkel nach Jahren wiedersieht!

Der anfängliche Schock verflog, als die 45 Sekunden des freien Falls abrupt durch den Fallschirm gestoppt wurden, ein kleines rotes Stoffteil, das irgendwo über mir schwankte, holte mich in die Realität zurück. Meine Augen öffneten sich weit, um die majestätischen grünen Felder Neuseelands und die schwimmbadblauen Seen, die unter mir funkelten, in Kombination mit der atemberaubenden Stille zu genießen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit und zugleich auch nur einer Millisekunde baumelten unsere Füße bereits in Richtung der sich schnell nähernden Erde. Im nächsten Moment waren wir in einem Gewirr aus Schnallen, Gurtzeug und rotem Stoff bereits auf dem Boden der Tatsachen zurück.

Ich sah mit Freude und leicht neidisch zu, wie Florian und Will Richtung Erde taumelten – ein Teil von mir wollte direkt noch mal springen. Als sie landeten, stimmten wir in einen Rausch von High-Fives, Umarmungen und »Wahooo«- und »WTF«-Rufen ein, unsere Begeisterung quoll aus jeder Pore.

Wir fuhren nicht zurück nach Queenstown – keiner von uns hatte Lust auf die Enge des Mietwagens –, sondern verbrachten den Tag in einem Hostel in Wanaka. Es hatte eine Terrasse mit Blick auf den See, und mit einem Glas neuseeländischen Rotweins stießen wir auf das gelungene Abenteuer an. Jeder von uns wollte dieses Erlebnis zu einem Symbol machen. Einem Symbol dafür, sich zu überwinden.

Uns verband, dass wir alle im Anschluss an unsere Reise einen neuen Lebensabschnitt beginnen würden: Florian wollte mit jeder Menge Vorfreude seinen ersten richtigen Job antreten. Will musste eine alte Liebe verschmerzen und sein Herz für neue Menschen öffnen. Und ich? Ich hatte an diesem Abend das Gefühl, dass mich in den nächsten Jahren ein radikaler Lebenswandel erwartete. Doch noch konnte ich ihn nicht in Worte fassen.

Kurz vor dem Einschlafen, Will schnarchte schon, sagte Florian: »Mensch, ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt wie heute. Generell wie auf dieser ganzen Reise.«

In der Dunkelheit konnte er nicht sehen, dass ich lächelte. Aber vielleicht hörte er es an meiner Stimme, als ich erwiderte: »Ich glaube, ich habe mich noch nie in meinem ganzen Leben so gut gefühlt.«

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