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AN DIE WAND GEFAHREN

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Autos übten schon immer eine große Faszination auf mich aus. Mit zehn Jahren saß ich auf Papas Schoß, und er ließ mich über einen großen, unbelebten Parkplatz cruisen. Ich konnte kaum fassen, dass es für mich noch acht Jahre dauern sollte, bis ich den Führerschein besitzen und mich mit dem Auto legal auf den Straßen bewegen durfte.

Doch eines Tages war ich endlich volljährig und hatte mein Abi in der Tasche. Ich schaffte es, meinem Vater seinen fast zwanzig Jahre alten geliebten 5er BMW abzuschwatzen und freute mich tagelang. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Freiheit machte ich mich damit auf den Weg nach Südfrankreich, um einen einjährigen Zivildienst zu beginnen, den sogenannten Anderen Dienst im Ausland.Auf der Überholspur ging es Richtung Süden, der Sonne entgegen, und aus der Anlage tönte Rückenwind von Thomas D. Ich drückte aufs Gas und sang aus voller Kehle mit:

»Fahr gerade über Land, es wird grade mal hell, / spüre Freiheit in mir, denk das ging aber schnell, / bleibe besser im Hier, denn es gibt kein Zurück / und alles was ich brauch’, ist mein Auto und Glück.«

Ich war endlich unterwegs, konnte jeder Straße folgen, die mir in den Sinn kam, und der Rest meines Lebens lag vor mir!

Jedes Mal, wenn ich in späteren Jahren am Steuer eines Autos saß, durchströmte mich wieder dieses pure Freiheitsgefühl.

Leider zog ich damals die falschen Schlüsse und hielt meine Liebe zur Freiheit für etwas Offensichtlicheres: der Liebe zu Autos, genauer gesagt zu BMWs, was mich 2004, nach meinem Zivildienst in Frankreich, dazu veranlasste, mich um eine Lehrstelle als Automobilkaufmann in Bremen zu bewerben.

Überraschend schnell wurde mein Traum vom perfekten Arbeitgeber erfüllt, und ich fühlte mich geehrt, von BMW, einer so beliebten Firma, unter Hunderten von Bewerbern ausgesucht worden zu sein. Der Gedanke an eine erfolgreiche Karriere hatte mich voll im Griff: Ich hoffte, später im Marketing oder im Einkauf zu landen und würde mich selbstverständlich hocharbeiten und bald ein schnelles Cabrio fahren.

Mit zwanzig hatte ich nicht wirklich eine Vorstellung davon, wie mein Leben aussehen sollte, und hangelte mich an den Vorgaben entlang, die unausgesprochen um mich herum vorgelebt wurden.

Alles war so strukturiert, so festgelegt, dass ich nicht im Entferntesten auf die Idee kam, was da draußen für Abenteuer auf mich warten könnten. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass so ein Leben, wie ich es heute führe, überhaupt möglich ist. Und schon gar nicht für »normale Menschen« wie mich. Alles, was ich kannte, waren die Biografien meines Umfelds. Zu anderen Bildern war mein Kopf nicht fähig.

Dass ich überhaupt einen eher klassischen Weg einschlug und nicht etwa Musik studierte, nachdem ich bereits mit vier Jahren voller Begeisterung am Klavier saß, lag zum großen Teil an der gängigen Praxis, lieber etwas »Vernünftiges« zu lernen, mit dem sich später etwas anfangen ließe – sprich: genug Geld verdienen, um sich ein Auto, zweimal im Jahr eine Urlaubsreise, ein Haus leisten zu können. Musik ist dagegen eine »brotlose« Kunst, nicht wahr?

Und so bezog ich eine schnuckelige Einzimmerwohnung mit 35 Quadratmetern, in optimaler Lage zwischen Innenstadt, Arbeitsstätte und Szeneviertel. Ich fühlte mich großartig, in den Startlöchern zu etwas Großem.

Einen ersten Dämpfer erhielt meine Euphorie bereits, als der Ausbildungsplan in den Briefkasten flatterte – ich würde im Teilevertrieb einsteigen, was nicht gerade aufregend klang. Und tatsächlich entpuppte er sich schnell als unkreativste Abteilung des Unternehmens. Einen Großteil des Tages brachte ich nämlich damit zu, Ersatzteile zu bestellen.

Stundenlang saß ich da und hackte Zahlenreihen in den Computer, damit die Teile rechtzeitig in der Werkstatt ankamen und die Autos plangemäß repariert werden konnten. Während ich Hunderte von 12-stelligen Teilenummern übertrug, herrschte in mir eine riesige innere Leere, wo sich eigentlich Begeisterung hätte breitmachen sollen. Ich war komplett fehl am Platz, was ich lange nicht begriff.

Unser graues Büro befand sich im hinteren Teil der Niederlassung, einem großen Lager mit Tresen, an dem die Mechaniker immer wieder ihre Bestellungen abgaben. Die Kollegen dort gaben die Bestellzettel weiter an uns, und regelmäßig kam ein neuer Stapel mit Teilenummern, und ich dachte: »Oje, jetzt bin ich wieder dran.«

Obwohl ich mir langsam Fragen über die Sinnhaftigkeit der Ausbildung stellte, kam mir das nicht unbedingt seltsam vor. Ich dachte mir: »So geht es doch allen. Jeder muss mal unten anfangen, klar hält sich die Alltagsfreude da oft in Grenzen. Ganz normal.«

Die meisten Ausbildungen beinhalten langweilige Aufgaben, doch vielleicht hätte ich anders entschieden, wenn ich mich vor Ausbildungsbeginn besser über die Inhalte informiert hätte.

Trotzdem mochte mein Abteilungsleiter im Teilevertrieb meine Art und sagte eines Feierabends zu mir: »Du gehörst hier eigentlich gar nicht hin, du wirst wahrscheinlich später mal mein Chef sein.«

Das schmeichelte mir, denn wir teilten eine ähnliche Vision.

Bereits zu Schulzeiten war es mir schwergefallen, frühmorgens aufzustehen, und auch jetzt quälte ich mich jeden Tag aus dem Bett. Meine Nachbarn wurden quasi vor mir wach, weil die zehn Wecker, die ich mir stellen musste, zwar alles Lebendige in einem Radius von hundert Metern aufscheuchten – aber absolut nichts Lebendiges in mir erweckten. Ich erinnere mich vor allem daran, dass das erste Gefühl des Tages Stress war. Sehr viele Menschen starten so ungesund in den Tag. Weil unsere Gesellschaft den meisten eine feste Uhrzeit vorschreibt, zu der sie irgendwo zu erscheinen haben.

Wie zahlreiche andere hatte ich mit diesem Aspekt des Arbeitslebens zu kämpfen, doch ich ließ mir meine Unzufriedenheit nicht anmerken, da ich professionell abliefern und vorne mitschwimmen wollte. In meinem Umfeld sah ich mich von dem Glauben umgeben, dass der Mensch nur dann etwas wert war, wenn er auf eine ganz bestimmte Art und Weise auftrat: wie erwartet. Wie der Großteil meiner Kollegen gab ich viel von meiner Individualität auf, weil ich stolz war, einer der Auserwählten zu sein, die ihr Talent einer renommierten Firma zur Verfügung stellen durften.

Es ist sinnvoll, alle Abteilungen eines Betriebs kennenzulernen – selbst den Teilevertrieb –, um zu verstehen, wie so ein Unternehmen funktioniert. Allerdings musste ich fünf Monate dort ausharren. Was mich währenddessen über Wasser hielt, war der Gedanke, dass es nur besser werden konnte, und immer wieder rief ich mir ins Gedächtnis, dass man mir gesagt hatte: »Du fängst zwar mit der trockensten Abteilung an. Aber danach wird es stetig besser.«

Besonders schlimm wurde es, als sich die Probleme häuften, die ich von Anfang an mit meinem Chefausbilder hatte, nennen wir ihn hier mal Herrn Hagenkamp. Es war von Anfang an klar, dass er nicht mein größter Fan war. Bereits beim Bewerbungsgespräch hatte mich Herr Hagenkamp zum Nachdenken gebracht: Anstatt sich auf mich als Jobanwärter zu konzentrieren, schaute er immerzu – mit einer unangenehmen Mischung aus Arroganz und Langeweile – seitlich aus dem Fenster. Später bat ich ihn mehrmals eindringlich und gut vorbereitet darum, verantwortungsvollere Aufgaben übernehmen zu dürfen. Doch statt sich über mein Engagement zu freuen und es zu fördern, sah er in mir wohl hauptsächlich die billige Arbeitskraft. Außerdem tanzte ich ihm offenbar von Anfang an zu sehr aus der Reihe.

Bei einer weiteren Gelegenheit wollte ich die Möglichkeit besprechen, ein Jahr meiner Ausbildung in einer Niederlassung im Ausland zu absolvieren – etwas, das BMW auf seiner Website beworben hatte. Ich hatte einen Termin mit Herrn Hagenkamp vereinbart, und als ich an seine Bürotür klopfte, wurde ich mit einem schroffen »Herein« begrüßt.

Mein Magen krampfte sich zusammen, dennoch begann ich höflich, ihm mein Anliegen zu schildern, während von oben das grelle Röhrenlicht auf uns hinunterbrannte. Herr Hagenkamps Augen verdunkelten sich mit jedem meiner Sätze. Mein Sakko fühlte sich viel zu weit an und die Krawatte zu eng, als ich meinen kurzen Monolog mit der Bitte um mehr Informationen beendete.

Herr Hagenkamp guckte mich mit zusammengekniffenem Blick an und sagte: »So eine Erfahrung bringt überhaupt nichts.« Es folgte ein Monolog, der mehr und mehr zu einer ausgewachsenen Standpredigt geriet. Das Amen: »Sehen Sie gefälligst zu, dass Sie sich hier bei uns am Standort entsprechend motivieren.«

Ich war perplex, und zum ersten Mal stieg Panik in mir auf: Ich wollte nicht drei Jahre lang jeden Tag kleinteilige Arbeitsschritte ausführen und mir mangelnde Motivation vorwerfen lassen, wenn ich das nicht euphorisch tat. Angst und Wut kämpften in mir und machten mich stumm.

»Alles klar«, murmelte ich schließlich und holte tief Luft. Jetzt oder nie. »Ich habe gesehen, dass unter gewissen Umständen die Ausbildungszeit von drei auf zwei Jahre verkürzt werden kann. Mein Notendurchschnitt«, ich holte die Mappe mit meinem ersten Zeugnis aus der Berufsschule hervor, »erfüllt die Kriterien dafür, die ich in der Ausbildungsordnung nachgelesen habe.«

Herr Hagenkamp erhob sich, schritt zur Tür, öffnete sie, wies mich mit einer abschließenden Geste hinaus und sagte knapp: »Das machen wir bei uns nicht.«

Geknickt schlich ich aus seinem Büro.

Als ich einem Kollegen davon erzählte, zuckte der nur mit den Achseln und meinte: »Bei dem hat keiner eine Chance, irgendwas Neues durchzusetzen. Du bist nicht der Erste, der das versucht hat.«

Trotzdem fühlte ich mich den ganzen Tag über mies und bekam einen Gedanken nicht aus dem Kopf: Jemand anderes bestimmt über mein Leben. Ich fühlte mich eingesperrt, wie unter Hausarrest.

Ich kehrte zu meiner Aufgabe zurück, lange Zahlenreihen in den Computer zu tippen, während ich innerlich langsam einging. Im Nachhinein war ich überrascht davon, wie schnell ich mich an dieses schleichende Vertrocknen gewöhnte. Bald merkte ich gar nicht mehr, wie weit ich mich von der Freude an einer Tätigkeit entfernt hatte, und nahm die zermürbende Tristesse als Normalität hin. An vielen Tagen konnte ich mir nicht mal mehr vorstellen, wie schön das Leben sein kann. Und ich glaube, dass auch Herr Hagenkamp es längst nicht mehr wusste.

Während eines betrieblichen Sommerfests begegneten wir uns auf dem Balkon. Ich hatte kurz mit meiner Freundin telefoniert und wollte mich gerade wieder ins Getümmel stürzen, als Herr Hagenkamp durch die Tür zu mir heraustrat. Seine Krawatte war etwas verrutscht, und ich erahnte an seinen Augen und der leicht geröteten Nase, dass er mehr als einen Sekt gehabt hatte. Vielleicht fühlte er sich aufgrund des Alkohols und der sommerlichen Stimmung dazu berufen, jedenfalls sagte er in versöhnlichem Ton: »Na, Herr Löhrmann, Sie sehen aber erholt aus.«

»Oh, danke, so fühle ich mich auch«, entgegnete ich. »Ich war mit Freunden Kanufahren in Schweden, mitten in der Natur, abends Lagerfeuer, morgens baden im See, man fühlt sich so lebendig, wissen Sie?« Ich geriet ins Schwärmen, merkte jedoch schnell, dass meinem Chef das Verständnis für meine Begeisterung fehlte.

»Baden im See? Gab es denn keine Dusche?«, fragte er, während er sich eine Zigarette anzündete.

Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Das war gar nicht nötig.«

»Das muss ja ein schlechtes Hotel gewesen sein«, brummte er und sah mich ungläubig an.

»Wir haben nicht im Hotel geschlafen.«

»Wo denn dann?«, fragte er nun etwas ungeduldig, bevor er tief an seiner Zigarette zog.

»In unseren eigenen Zelten, die wir jeden Abend an einem anderen Ort aufgebaut haben. Außerdem haben wir abends gemeinsam gekocht …« An Herrn Hagenkamps Blick sah ich, dass seine Aufmerksamkeit abschweifte, und wollte ihn mit einer Frage zurückholen: »Wohin reisen Sie denn gern?«

Er blickte mich an, überlegte kurz, stützte sich dann mit einer Hand an der Brüstung ab und sagte in die Nacht hinein: »Das lasse ich meine Frau entscheiden. Letztes Jahr waren wir in Ägypten. Allerdings wäre ich lieber zu Hause geblieben. Was soll ich da? Ich bevorzuge meinen eigenen Garten, da weiß ich, woran ich bin.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also schwieg ich. Nach langen, unangenehmen Sekunden der Stille murmelte ich etwas wie: »Das kann ich gut verstehen. Ich gehe dann mal wieder rein, mein Glas ist leer, bis gleich.«

Als ich zurück auf die Tanzfläche gehen wollte, ließ mich ein Gedanke innehalten. Mir wurde bewusst, dass ich gerade einen Dialog mit einer möglichen Zukunftsversion von mir selbst geführt hatte. Würde ich in gut zwanzig Jahren ebenfalls auf einem Balkon stehen, ohne Neugierde, ohne Entdeckergeist, und mir wünschen, von der ganzen Welt abgeschottet zu sein?

Meine Beziehung zu Herrn Hagenkamp änderte sich durch den kleinen, persönlichen Moment auf dem Balkon leider nicht. Die Showdown-Momente mit ihm und das generelle Gefühl, mich permanent verstellen zu müssen, um in das Arbeitsumfeld zu passen, schlugen sich zunehmend und zum ersten Mal in meinem Leben auf meine Gesundheit nieder und bereiteten mir heftigste Magen-Darm-Probleme.

Heute weiß ich, dass mir mein Körper signalisierte: Hier läufts nicht rund. Schau mal nach, ob du nicht etwas an der Situation ändern kannst. Doch ich hörte es nicht. Stattdessen schämte ich mich, über meine Krankheitssymptome zu sprechen, und ließ alle möglichen Untersuchungen über mich ergehen. Ich erinnere mich an eine Darmspiegelung, die der zuständige Arzt so schnell und rabiat durchführte, dass ich mich wie ein Stück Fleisch auf der Metzgertheke fühlte. Er interessierte sich nicht im Geringsten für meinen persönlichen Hintergrund, stellte keine Frage nach meinen Lebensumständen. Der Bericht, den man mir am Ende in die Hand drückte, war in hastigem Gekritzel verfasst, das sich nur mit größter Mühe entziffern ließ. Als Therapie sollte ich verschiedene Medikamente testen, von denen keines eine Linderung brachte, sodass ich mich ein halbes Jahr später erneut einer Spiegelung unterzog. Nun hieß es, ich hätte eine Autoimmunerkrankung, und der Darm sei chronisch entzündet.

Ich vermeide es bewusst, hier die schulmedizinische Diagnose aufzuschreiben. Denn irgendetwas in mir wehrte sich schon in dem Moment, in dem ich den Namen zum ersten Mal hörte, gegen die Anerkennung dieser medizinischen Zustandsbeschreibung. Die viel wichtigere Frage, die die Medizin allerdings nicht stellt und erst recht nicht beantwortet, ist, aus welchem Grund der Darm entzündet ist.

Man offenbarte mir, ich müsse lebenslang Medikamente einnehmen, welche die Krankheitserscheinungen unterdrücken. Bis heute verstehe ich nicht, warum die Schulmedizin das Paradoxe daran nicht sieht. Allein das Symptom einer Krankheit zu bekämpfen, ist in etwa so sinnvoll, wie Wasser aus einem überlaufenden Waschbecken zu schöpfen. Zunächst mag es helfen, die Überschwemmung einzudämmen. Doch wenn man es versäumt, den Wasserhahn abzudrehen, wird das Wasser stetig weiterlaufen. Wie heißt es so schön? Man muss das Übel bei der Wurzel packen. Hier jedoch sollten lediglich ein paar Blättchen gerupft werden. Eine Vorstellung, die von Anfang an ein Albtraum für mich war. Ich wollte so nicht leben müssen! Und mich quälte die Frage: Warum trifft mich das? Ich war doch bisher nie krank, woher kommt das auf einmal?

Eine mögliche Ursache könnten die drei Dosen einer FSME-Impfung gewesen sein, die ich nur wenige Wochen vor Ausbildungsbeginn verabreicht bekommen hatte.

In einigen Fällen können diese zu einer toxischen Überlastung führen und das Immunsystem in einen Zustand bringen, aus dem es sich nicht mehr erholen kann – eine Autoimmunerkrankung.

Nach vielen Jahren der Nachforschung, Gesprächen mit Experten und Menschen, die unter ähnlichen Symptomen leiden, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es höchstwahrscheinlich die Kombination aus dem Impfstoff plus der radikalen Lebensveränderung war – und der damit einhergehenden Angst, in einem System mit Menschen gefangen zu sein, mit denen ich mich weder gut noch inspiriert fühlte. Und dass mein »Leben« dadurch eher aufs Ende zuging, anstatt zu beginnen.

Mir ist klar geworden, dass ich mich nicht auf die Schulmedizin verlassen kann und meinen eigenen Weg finden muss. Nachdem ich jahrelang bis zu acht Tabletten pro Tag zu mir genommen hatte, beschloss ich irgendwann eigenhändig, zukünftig auf chemische Präparate zu verzichten und natürliche Alternativen zu finden – mit guten Ergebnissen. Denn ich habe verstanden, dass unser Körper der Spiegel unserer Seele ist. Er bringt unser Inneres zum Ausdruck und hilft uns, uns besser zu verstehen. Allerdings müssen wir auch hinhören, anstatt die Symptome mit Tabletten zu überdecken, mit einem vollen Arbeitstag oder uns von Alkohol, Trash-TV, Facebook, Instagram oder anderen Dingen abstumpfen zu lassen.

Bis heute fällt es mir schwer, über meinen gesundheitlichen Zustand zu sprechen. Und dann auch noch so öffentlich wie in diesem Buch. Doch ich spüre, wie wichtig es ist, sich auch verletzlich zu zeigen. Das Leben ist nicht immer eitel Sonnenschein, und wenn man seine Probleme überspielt, resultieren daraus zweifelhafte Geschichten und unechte zwischenmenschliche Verbindungen. Deshalb will ich gleich zu Beginn meiner Geschichte ehrlich mit der Tatsache umgehen, dass nicht alles rosarot ist – und dass man trotz (oder gerade wegen) schwerwiegender chronischer Beschwerden alles schaffen kann.

Mein rebellierender Darm führte zu einem rapiden Abbau meiner vorher sportlichen Konstitution. Je schlimmer die Symptome wurden, desto geschwächter und dünner wurde ich. Auch emotional empfand ich mich selbst plötzlich als ungewöhnlich labil.

Als ich in der Firma endlich in die nächste Abteilung wechselte, überrollte mich die erste schlimme Krankheitswelle, und ich hatte dauerhaft ein mieses Gefühl in der mittleren Körpergegend. Angefeuert wurden die Schmerzen durch die Tatsache, dass sich diese Abteilung vor allem durch Tratscherei auszeichnete. Sobald eine Person den Raum verließ, zogen die anderen über sie her. Das lief meiner Vorstellung vom Umgang mit Mitmenschen derart zuwider, dass ich die Situation nur schwer ertrug. Zumal jeder genau wusste: Sobald ich rausgehe, bin ich dran. Sogar Kollegen anderer Abteilungen kamen regelmäßig zu uns, wenn sie lästern wollten. Über dem ganzen Büro hing eine negative Energie, die deutlich zu spüren war.

Mein Körper, meine Seele wollten da sofort raus. Aber mein Verstand war noch »mittendrin«. Wenn der Kopf noch nicht versteht, muss der Körper deutlichere Signale senden, damit sich etwas ändert. Und mein Körper gab sie mir. Mehrmals war ich gezwungen, mich krankzumelden und tagelang zu Hause bleiben.

Trotz dieser eindeutigen Warnsignale erlaubte ich mir nicht, mich länger als unbedingt nötig zu erholen oder gar die Ausbildung abzubrechen. Ich hatte doch von klein auf gelernt, dass man abschließen muss, was man begonnen hat. Diese Konditionierung ließ mich durchhalten – nur um am Ende ein offiziell abgestempeltes Stück Papier zu bekommen, das mir bescheinigt, dass ich etwas leisten kann: Einschränkungen hinzunehmen, toxische Arbeitsbedingungen zu ertragen und mich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen.

Ironischerweise habe ich dieses »wertvolle« Zeugnis nie gebraucht. Bis zum heutigen Tag verstaubt es in einem Karton im Keller meiner Mutter. Dass man sein Leben so an die Wand fahren kann für etwas, das der Seele und dem Körper überhaupt nicht entspricht, war eine wichtige Lektion fürs Leben.

Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, wird mir klar, wie hilfreich es wahrscheinlich gewesen wäre, mehr über meine gesundheitlichen Beschwerden zu sprechen. Doch sogar vor meinen Freunden schämte ich mich viel zu sehr. Und wenn das Thema im Familienkreis aufkam, bügelte ich es sofort weg. Mit den damals online zu findenden Selbsthilfegruppen von Leidensgenossen konnte ich mich nicht identifizieren. Stattdessen durchforstete ich nächtelang das Internet. In der Medizin wird davon gesprochen, dass die Krankheit unheilbar ist. Lediglich eine Methode verspreche »Heilung«: die Entfernung des entzündeten Teils oder sogar des ganzen Dickdarms inklusive Legung eines künstlichen Ausgangs, an dem ein am Körper zu tragender Auffangbeutel angebracht wird, der den Darminhalt aufnimmt. Mehrere Ärzte erläuterten mir das Prozedere als mögliche, wenn auch letzte Option.

Ich war damals Anfang zwanzig, und in mir schrie es nur: Wie bitte?! Das bezeichnet die Medizin als Heilung? Unglaublich. Ein künstlicher Darmausgang? Ein Horrorszenario. Allein der Gedanke … Und was für ein Eingriff in den Körper! So weit würde ich es nie und nimmer kommen lassen, so viel stand fest.

Bei sehr schlimmen Krankheitsverläufen ist das irgendwann vielleicht wirklich der letzte Weg, um dem Erkrankten zumindest Linderung zu verschaffen. Trotzdem steigt in mir immer noch absolutes Unverständnis über die Anpreisung dieser Behandlungsmethode auf. Ein Körperteil ist krank? Schneiden wir es eben raus! Dabei ist doch die Frage nach der Ursache die viel wichtigere. Unser Körper hat enorme Selbstheilungskräfte, für deren Aktivierung lediglich die optimalen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen.

Ich bin davon überzeugt, dass man durch die Umstellung auf einen gesunden Lebensstil bereits enorm viel erreichen kann. Bevor man zu solch drastischen Methoden wie der Entfernung eines Organs greift, sollte man sich erst einmal detailliert mit all seinen Alltagsfaktoren auseinandersetzen und dort Bereitschaft entwickeln für einschneidende Veränderungen.

Genau dafür sind die meisten von uns jedoch zu sehr in ebendiesen Alltag eingebunden. Wo zwischen Büro, Handy, Tablet, Familie, Optimierung und Effizienz, wo zwischen all den Anforderungen, die die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die wir selbst an uns stellen, soll man die Zeit finden, sich ausgiebig um das eigene Wohlergehen zu kümmern? Unsere Verpflichtungen, die Sorge um Sicherheit und finanzielle Stabilität führen zu oft dazu, dass wir die Botschaften, die der Körper uns gibt, ignorieren.

Ich fragte mich, ob ich mit meiner Diagnose jemals wieder reisen könnte: Wie würde ich mit fremdem Essen zurechtkommen oder mit angeschlagenem Magen-Darm-Trakt in einem überfüllten Bus oder Flugzeug sitzen? Wo könnte ich gute medizinische Versorgung finden, wenn ich sie bräuchte? Ich hatte fast das Gefühl, dass mein Leben bereits vorbei war. Doch der Traum einer Weltreise begleitete mich schon seit meinem ersten Solotrip nach Frankreich, und ich hatte Geld gespart, seit ich zwölf war. Der Gedanke daran hielt mich über Wasser, auch wenn ich mich vor Schmerzen am Schreibtisch krümmte.

Trotz meiner kräftezehrenden Symptome zog ich die Ausbildung durch. Drei Jahre lang.

Am Ende bekam ich sogar eine Auszeichnung von der Handelskammer Bremen, weil ich als einer der Jahrgangsbesten abgeschnitten hatte. Mit dem Preisgeld und dem Erlös aus dem Verkauf meines geliebten silbernen 3er BMW Coupés finanzierte ich meine Weltreise. Als ich schließlich meinen Mitarbeiterausweis abgab und das Firmengelände zum letzten Mal verließ, fühlte ich mich endlich frei. Mein Körper jedoch trug weiterhin die Folgen dessen, was ich in Kauf genommen hatte, in sich. Vielleicht lebe ich deshalb immer noch so kompromisslos und lasse mir von kaum jemandem in meine Pläne reinreden. Wenn die Ausbildung für etwas gut war, dann für die klare Erkenntnis, wie ich mein Leben auf keinen Fall gestalten möchte.

Dennoch will ich nicht behaupten, dass alles an meiner Ausbildungszeit schlecht war. Das Wunderbare ist nämlich, dass mir das renommierte Unternehmen über Umwege die Lösung für mein Problem und den Weg in mein neues Leben aufgezeigt hat. Im dritten Ausbildungsjahr setzte mich die Firma endlich in meiner Wunschabteilung, dem Marketing, ein, und bald stand ein Event zur Neuvorstellung eines Modells an, bei dessen Durchführung ich helfen sollte.

Als ich mitbekam, dass der Marketingleiter einen Pianisten für das Event gebucht hatte, war ich enttäuscht, dass er nicht einfach mich gefragt hatte. Andererseits – wieso hätte er sollen? In der Firma wusste niemand von meinem Talent. Man überlege sich mal, wie viel ungenutztes Talent jeglicher Art in so großen Unternehmen schlummert.

Die anfängliche Enttäuschung wich rasch großer Freude, denn an dem Abend des Events lernte ich Dennis, auch bekannt als »Mister Piano«, kennen, der inzwischen ein enger Freund ist. Ich erinnere mich noch gut an unsere unverhoffte Begegnung: ein quirliger, gut gelaunter Entertainer, wenige Jahre älter als ich. Gut geschnittener Anzug. Hochgegelte, dunkle Haare. Dynamisch. Vor allem aber hatte er seinen eigenen Flügel zur Veranstaltung mitgebracht.

Ich war beeindruckt. Dies war das erste Mal, dass sich mir die Augen für die Möglichkeit öffneten, mit dem eigenen Instrument als One-Man-Show aufzutreten, und ich wollte unbedingt mit Dennis ins Gespräch kommen und am liebsten selbst einmal auf seinem Flügel spielen. Doch da war diese Angst. Was würden meine Vorgesetzten sagen, wenn ich mich an die Tasten setzte – immerhin war ein professioneller Musiker für viel Geld gebucht worden. Genauso fürchtete ich mich vor Ablehnung seinerseits, aber zum Glück gelang es mir, meinen inneren Schweinehund zu überwinden.

In einer Pause sprach ich Dennis an: »Hey, ich bin Joe. Das war echt ein cooler Auftritt! Ich spiele auch Klavier. Meinst du … ich, ähm, dürfte vielleicht auch mal ein Stück zum Besten geben?«

Ich hatte die Worte hastig hervorgesprudelt, wie man es macht, wenn man etwas hinter sich bringen will, bevor einen der Mut verlässt, und ich rechnete fest mit einer im besten Fall freundlichen Ablehnung. Umso überraschter war ich, als Mister Piano mich angrinste und erwiderte: »Klar, wieso nicht?«

Keine Minute später saß ich an seinem Flügel und ließ meine Finger über die Tasten fliegen. Nachdem mich einer der Kollegen entdeckt hatte, drehten auch andere erstaunt ihre Köpfe herum und tippten sich gegenseitig auf die Schultern. Einige kamen zu mir und pfiffen anerkennend.

Ich war glücklich – wie jedes Mal, wenn ich an einem Klavier saß. Und nun erlebte ich dieses Gefühl zum ersten Mal innerhalb der Firmenumgebung.

»Wow, für einen Autoheini bist du echt verdammt gut!«, sagte Dennis und setzte sich neben mich auf den Hocker. Er improvisierte zu meinen Tönen, und gemeinsam erfanden wir neue Melodien. Es klang phänomenal, und immer mehr meiner Kollegen und Vorgesetzten versammelten sich um den Flügel. Wir legten ein gelungenes Ende hin und ernteten begeisterten Applaus.

In diesem Moment habe ich mich von den Kollegen zum ersten Mal wirklich gesehen gefühlt. Ich jubelte innerlich: Die Musik war zurück in meinem Leben!

My Traveling Piano

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