Читать книгу Am französischen Ende der Nacht - Joerg Embs - Страница 4

2 | DEUX

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»Sie?«

»Ich. Ja. Wieso?«

»Ich … hatte …«, stammelte Jo und schnaufte erleichtert durch. Sein Gegenüber lächelte ebenso herzlich wie er es bei ihrem ersten Aufeinandertreffen Stunden zuvor bereits getan hatte. »Hübsch großes Schneckenhaus, das Sie da haben.«

»Ja. Zuweilen geht die Schnecke aber auch ganz gern einmal aus. Insbesondere wenn sie ihre Fühler nach einem Thema für die Predigt des kommenden Sonntags ausstreckt.«

»Fündig geworden?«, fragte Jo nun ebenfalls lächelnd.

»Jep!«, antwortete der ältere Herr und grinste wie ein Lausbub der soeben einen Streich ausgeheckt hatte. »Ich werde nach langer Pause wieder einmal mein Lieblingsthema predigen.«

Zur Antwort zog Jo fragend die Stirn kraus.

»Zeit!«, antwortete der Priester knapp. »Und Sie haben mich darauf gebracht«, fügte er an. In diesem Moment begannen die Glocken zu läuteten und er zog Jo bestimmt ins Innere der Kirche zurück und deutete mit dem Finger zur Seite. In der astronomischen Uhr setzte ein Räderwerk eine Vielzahl von Figuren in Bewegung. Engel kippten eine Sanduhr um und schlugen eine Glocke, Planeten umkreisten die Sonnen, der Tod schlug mit einem Knochen die Stunde.

»Wie meinten Sie das: ICH hätte Sie darauf gebracht?«.

»Nun, als ich vom Café wegspazierte, da hatte ich noch keine Idee für meine Predigt. Zudem wollten Sie mir einfach nicht aus dem Kopf gehen, denn ich war mir sicher Sie schon einmal gesehen zu haben. Nur wo, das wusste ich nicht mehr. Wie ich in unserem Gespräch herausfand, sind Sie weder Straßburger noch kannten Sie die Cathèdrale. In einem der Gottesdienste konnte ich Sie also nicht gesehen haben. Aber Ihr Gesicht war mir bekannt. Ohne Zweifel. Mit einem Mal wusste ich es. Und im selben Moment kannte ich auch das Thema der nächsten Sonntagspredigt: Zeit.«

»Ich fürchte hier liegt eine Verwechselung vor«, sagte Jo.

»Ich glaube nicht mein Sohn«, entgegnete der Herr, nun ganz der Priester, der er Kraft seines Amtes war. »Vorhin, als Du in die Vorhalle tratest, hattest Du jemand ganz anderen als mich erwartet. Vielleicht sogar befürchtet.«

»Woher wissen Sie?«, fragte Jo aufgeschreckt.

»Was hältst Du davon wenn wir ein Stückchen gehen?«, Er lächelte so warm und freundlich wie am Nachmittag und wies mit der Hand einladend vor sich. »Mein Name ist Pater Frédéric«, schob er hinterher.

»Jo«, sagte Jo und nickte einverständig. Und so setzten sie sich in Bewegung, streiften durch die nun vorabendlich leeren Gassen der Altstadt für die Jo keinen Blick mehr hatte.

»Es ist eine längere Geschichte, zuweilen klingt sie ein wenig phantastisch, wie ich zugeben muss und ich werde ein wenig ausholen müssen«, setzte Pater Frédéric an. Er stoppte kurz, eine Einrede seines Zuhörers abwartend, dann fuhr er fort. Dabei sprach er so ruhig wie er einher schritt, darauf bedacht seinen Zuhörer auf dem Weg nicht zu verlieren.

»Es ist nun ziemlich genau sechs Monate her, dass die Geschichte begann. Letztes Weihnachten, am heiligen Abend, um exakt zu sein. Die Mitternachtsmette war beendet, die letzten Gemeindemitglieder hatten die Kirche verlassen, der Küster alle Türen verschlossen und die Lichter gelöscht. Ich war ganz allein in der Kirche, gerade dabei den Tabernakel zu verschließen, als ein einzelner Windhauch die Kerze auf dem Altar ausblies. Ich dachte Monsieur Lemond hätte eine der seitlichen Türen vergessen und ging in den Westflügel, als ich eine Person bemerkte, die ganz außen in einer Bank hockte. Eigentlich habe ich nur ihre Augen gesehen, die mich fixierten. Es war seltsam. Es war, als sei gar niemand da, nur diese Augen die mir auf Schritt und Tritt folgten. Die Seitentür war abgeschlossen. Und als ich mich wieder umwendete war niemand mehr da. Der Platz an dem die Person gesessen hatte war leer. So lange ich auch suchte, sie blieb verschwunden, schien durch eine Ritze entwichen zu sein wie eine Kirchenmaus, denn sämtliche Türen waren fest verriegelt. Drei Wochen nach der ersten Treffen, es war Mitte Januar und bitterkalt draußen, bin ich ihr zum zweiten Mal begegnet. Wiederum nach dem Ende eines Gottesdienstes, wieder nachdem alle gegangen, ich ganz alleine in der Cathèdrale war. Ich habe meine Arbeit zu Ende gebracht. Zu meinem Erstaunen saß sie plötzlich in der ersten Reihe. Kein Knarren der Bank, keine Schritte, kein Rascheln der Kleidung, nichts hatte ihre Bewegungen verraten. Die Person saß vollkommen ruhig und starrte auf die Marienstatue, schien mich nicht zu beachten. Ich habe mich zu ihr gesetzt. Es war ein Mann. Er sprach nicht, hockte einfach nur da und sah weiter auf die Marienstatue. Ein Mann, dem Leben fern«.

»Ein Mann, dem Leben fern«, wiederholte Jo vergessen.

»Ja«, antwortete Pater Frédéric knapp.

Sie gingen ein Stück schweigend, hingen ihren Gedanken nach. Ein Auto bog in die schmale Gasse ein, zeichnete dabei ihre Schatten auf eine Häuserwand. Es waren drei. Jo drehte hektisch den Kopf. Niemand war zu erblicken.

»Du wirst ihn nicht sehen, wenn er nicht will, dass Du ihn siehst. Er hatte die Sinne eines wilden Tieres und lebt schon so lange auf der Flucht, dass er eine Bedrohung wittert, bevor sie zur Gefahr werden könnte.« Pater Frédéric stoppte kurz. »Er ist wie der Wind: man spürt, dass er da ist, aber man kann ihn nicht sehen, nur seinen Schatten.«

»Wissen Sie seinen Namen?«

»Nein. Aber ich glaube einen Teil seiner Geschichte zu kennen. Inzwischen.«

»Spannen Sie mich nicht so auf die Folter«, sagte Jo.

»Ich habe ihm die Kammer in der Küsterei angeboten in jener Nacht. Und seitdem ist er da. Den Großteil der Zeit sieht man ihn nicht, aber ich spüre, dass er da ist. Irgendwo im Dunkel der Nischen. Und an manchen Abenden, wenn die letzten Gläubigen gegangen und die Türen verriegelt sind, hocken wir zusammen eine Weile in der Kirche. Schweigend, denn er spricht nach wie vor kein Wort.«

In ihrem Rücken wurde eine Haustür geöffnet, Worte des Abschieds drangen zu ihnen, ein Lichtschein streifte sie, abermals fielen drei Schattenrisse auf eine Hausfassade. Den Blick geradeaus gerichtet schlenderten sie durch die abendlichen Straßen bis ein Baum bestandener kleiner Platz zum Verweilen einlud und Pater Frédéric fragend auf eine steinerne Bank am Rand des Platzes wies.

Für einige Momente saßen sie schweigend nebeneinander und beobachteten die Szenerie. Menschen kamen, Menschen gingen, Stühle wurden gerückt, weiß beschürzte Kellner trugen Speisen und Getränke an die Tische, zwei späte Spaziergänger kreuzten den Blick, der Duft nach Knoblauch und heißem Öl waberte heran, leise Jazzmusik drang ans Ohr.

»Wenn er nicht spricht, woher kennen Sie dann einen Teil seiner Geschichte?«

»An einem dieser Abende brachte er etwas mit, ungefähr so groß wie eine Postkarte, in ein schwarzes, samtenes Tuch gewickelt. Er legte es auf die Ablage vor sich und nach einer Weile schob er es mir zu. Eine Kiste wichtiger Dokumente hatte ich erwartet. Als ich den Stoff jedoch zurückschlug, kam ein in einen Schutzumschlag eingeschlagenes Buch zum Vorschein. Die Titelseite von einem Schwarz-Weiß-Foto geziert, eine serife Schrift gab den Titel mit ›Die Fenster der Zeit‹ an und nannte einen Mann namens Nathan Messner als Autor.«

»Komischer Titel«, murmelte Jo.

»Dachte ich zunächst auch. Aber dann fiel mir ein, dass ich schon einmal etwas über die Fenster der Zeit gelesen hatte. Wie gesagt, Zeit ist eines meiner Lieblingsthemen.«

»Und?«, drängte Jo.

»Träume sind Fenster der Zeit. Zuweilen lassen Sie uns die Zukunft schauen, häufig jedoch wendet sich der Blick der Vergangenheit zu«, deklamierte Pater Frédéric mit salbungsvoller Stimme, als bete er ein Vaterunser.

Jo kam es vor, als zögen ihn die Worte zurück in die Kirche, zurück in die harte Bank, zurück in seine Kinderträumen. Der Wind kam heran, atmete in seinen Nacken. Die Härchen stellten sich auf, sein Herz schlug hoch in den Hals, die Hände wurden ihm feucht, ein dicker Kloß rutschte trocken seine Kehle hinab, der Atem ging schubweise und schwer. Minuten verstrichen bis Jo im Zeitlupentempo den Kopf drehte und dem Mann hinter sich ins Angesicht sah. Nach mehr als dreißig Jahren hatte er ihn also doch noch eingeholt, der Schatten seiner Kinderträume.

»Zeigen Sie sich endlich!«, rief Jo ins Halblicht der Nacht hinein.

Wortlos entstieg ein Mann dem Schutz einer dunklen Nische und trat nahe. Völlig lautlos sein Gang, nicht einmal der Stoff seiner Kleidung raschelte. Der Temperatur trotzend trug er einen langen schwarzen Mantel, darunter einen Anzug gleicher Farbe, dazu einen breitkrempigen Hut der die Gesichtszüge in Unkenntlichkeit barg.

»Warum verbergen Sie ihr Gesicht?«

Mit einer fließenden Bewegung zog der Mann den Hut vom Kopf und begann langsam sein Gesicht dem Licht zuzudrehen, bis es im vollen Schein stand. Bei dessen Anblick riss es Jo den Atem aus dem Mund: zwei Augen, eine Nase, ein Mund, rein physiognomisch ein komplettes Menschengesicht, aber eines in das das Leben nichts hineingeschrieben hatte. Es war leer wie ein unbenutztes Blatt Papier. Ein unbenutztes Gesicht. Kein Lachen und Weinen, weder Freude noch Trauer hatten darin Spuren hinterlassen, noch nicht einmal die Zeit selbst.

Jo’s anfängliche Angst wich immer weiter unendlicher Traurigkeit, die Bestürzung machte einem bohrenden Gefühl der Hilflosigkeit Platz, Fragen schoben sich in dichten Scharen durch seinen Kopf wie tagsüber Ströme Touristen durch die Straßen und Gassen der umliegenden Altstadt. Antworten hingegen fanden sich ebenso selten ein wie Einheimische ins tagtägliche Gewühl an den Souvenirständen. Langsam aber stetig griff kalte Wut in seinem Inneren Raum, dass er am liebsten einen Stuhl durch eine Glasscheibe geworfen hätte, nur um das berstende Geräusch zu hören.

›Ein Mann, dem Leben fern‹, sprach Jo still in sich hinein und sah dem Unbekannten noch einmal ins Angesicht. Erneut zuckte er bei dessen Anblick zusammen, erschütterte ihn sein leeres Gesicht bis ins Mark. Dieses Antlitz, aus dem alle Spuren des Lebens ausradiert, das gelöscht war, das selbst keinerlei Spuren hinterließ. Wütend und verstört wendete er sich Pater Frédéric zu, brachte nur ein einziges Wort heraus: »Warum?«

Pater Frédéric hob den Finger vor die Lippen. Gemeinsam lauschten sie einem verzweifelt um Worte ringenden Schatten. Einzelne Silben, unverständliche Wortfetzen, heisere Flüsterlaute krochen aus seinem Mund, zu schwach und zu müde vom beschwerlichen Weg den sie gegangen waren um eine verständliche Antwort zu sein.

»Man hat ihm die Vergangenheit gestohlen«, sprang ihm Pater Frédéric bei. »Sein Gesicht ist Indiz der Tat, ist der Fingerabdruck den der Täter am Tatort hinterlassen hat.« Er legte eine kurze Pause ein. »Wer aber keine Vergangenheit besitzt, der verfügt auch über keine Zukunft, der hat noch nicht einmal eine Gegenwart, der hat gar kein Leben.« Neuerlich pausierte der Geistliche, bedeutungsschwer wie es Jo schien. »Du bist der Einzige der ihm helfen kann, Jo. Finde seine gestohlene Vergangenheit und gib sie ihm zurück bevor das Schicksal seinen Lauf vollendet hat, bevor es zu spät ist. Bitte.«

Der Schatten legte Jo ein schwarzes samtenes Bündel in die Hände. Mechanisch, wie hypnotisiert, schlug Jo die Stoffbahnen auseinander, entnahm ihnen das Buch. Er drehte und kippte das Druckwerk bis genug Licht darauf fiel und die Titelseite erkennbar wurde, blätterte dann ein paar Seiten vor und stieß auf eine Widmung: ›Für Jo‹.

Das Blatt flugs wendend las er eine zweite Zueignung: ›Für mich. Als ewige Mahnung daran, welcher Feigling ich gewesen bin. Nicht zu schauen, aus Angst zu sehen. Nicht zu fragen, aus Angst zu hören. Nicht nachzudenken, aus Angst zu verstehen. Nicht zu suchen, aus Angst zu finden.‹

Getroffen klappte Jo das Werk zu, es wog schwer in seinen Händen. Darin jene Zeilen, die sich in ihn hineinbohrten, als seien sie nur zu diesem Zweck geschrieben.

Gegenüber kamen immer noch Menschen, gingen immer noch Menschen, trugen die Kellner unverändert Speisen und Getränke an die Tische, weiterhin waberte der Duft nach Knoblauch und Öl heran, drangen leise Saxophonklänge ans Ohr. Auf der Uhr waren die Zeiger ein kleines Stückchen weitergewandert, die Erde hatte sich ein paar Grad weitergedreht, Sterne und Mond prangten nun hell am Firmament. Der ganz normale Gang der Dinge. Die Welt aber war nicht mehr dieselbe wie noch eine Minute zuvor. Jo sah wie sie sich ächzend um ihre eigene Achse drehte, eine bleierne Kugel hinter sich schleppend, ebenso wie Kellner und Restaurantgäste, wie Passanten und Musiker. Unter der Bank rumpelte die seine über das Pflaster. Sie schien groß und schwer.

»Was hat das alles mit mir zu tun?«, sagte Jo schwach.

»So wie ich es verstanden habe, hängt sein Leben nur noch am seidenen Faden einer Erinnerung, die in einem Buch geschrieben steht. Und nur Du kannst es wirklich lesen.«

»Warum ausgerechnet Ich? Warum fragt er nicht besser den Autor von diesem Schinken?«

»Glaube mir mein Sohn, Du bist der Einzige der ihm helfen kann!«

»Nein! Nein! Das kann ich nicht!«, brach es aus Jo heraus.

»Ich weiß, dass Du das kannst. Dieses Buch wird Dir dabei helfen«, entgegnete Pater Frédéric nachdrücklich.

»Nein! Das kann ich nicht!«, sagte Jo vehement.

Eine einzelne Wolke schob sich über den Himmel, verdeckte für Sekundenbruchteile Sterne und Mond, tauchte die Bank in absolute Finsternis. Als die Nacht wieder von Gestirnen am Firmament erleuchtet wurden, der Nachtwind die einsame Wolke mit sich genommen hatte, war sein Schatten mit ihnen gegangen. Nur ihre Silhouetten glitten zu zyklopischen Riesen verzerrt über die Hauswände am Ende des Platzes.

Schwer atmend lehnte sich Jo an den Kastanienbaum in seinem Rücken, in dessen Stamm sich noch ein Rest Sonnenglut gespeichert fand. Wohlig breitete sich die Wärme im Körper aus, seine Gedanken kreisten um die vorangegangene Stunde, das Buch als stilles Memorandum in seinen Händen. Minuten verstrichen, bevor er das Wort an Pater Frédéric richtete.

»Wie soll das gehen, die Vergangenheit zurück bringen, das ist unmöglich! Zeit ist exakt wie Mathematik, ist ein sich im Takt der Sekunden fortschreibendes Kontinuum, im ewigen Rhythmus folgt eine Sekunde der anderen. Sie kommen und gehen, versinken unwiederbringlich in den Schlund der Zeit. Ergo, die Vergangenheit zurück zu bringen ist eine Unmöglichkeit«, sagte Jo aufgeregt und gestikulierte wild mit den Händen.

»Ich fürchte diese chronologische Zeit ist nicht die, von der ich gesprochen habe«, entgegnete der Priester ruhig.

»Aber es gibt doch nur diese Eine!«, ereiferte sich Jo.

»Es gibt die Zeit, die in Sekunden, Minuten oder Stunden, in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren gemessen wird - dies ist die äußere Zeit. Und es gibt die Zeit, die aus Momenten und Augenblicken besteht - dies ist die innere, die gefühlte Zeit. Manches Mal sind sie untrennbar wie siamesische Zwillinge. Häufig jedoch sind sie wie Wüste und Meer, sie sind reich an sich und gleichzeitig arm am anderen. Zuzeiten besteht ein Augenblick nur noch aus Augen Blicken und sieht vorüberziehende Sekunden nicht mehr. So wie die Erde Wüste und Meer benötigt um im Gleichgewicht zu bleiben, so braucht der Mensch äußere und innere Zeit. Die Eine ermöglicht die Existenz in der menschlichen Gemeinschaft, die Andere füllt diese Existenz mit Leben.« Pater Frédéric unterbrach seinen Redefluss für einige Sekunden, dann fuhr er unvermittelt fort. »Soweit ich verstanden habe, wurde sein Gedächtnis auf unvorstellbar grausame Art und Weise eliminiert.« Wieder stoppte er. »Hast Du seinen Kopf angesehen?«, fragte er, scheinbar an niemanden gewandt, denn er fuhr sogleich fort. »Die Schläfen sind voller violett-bläulicher Narben. Seine Vergangenheit mit all seinen Erinnerungen fein säuberlich ausradiert, als hätte es sie nie gegeben. Einfach weg. Und damit der Boden auf dem die Gegenwart steht. Er existiert nur noch, eine Sekunde nach der anderen. Ohne festen Grund unter den Füßen aber versinkt sein Leben langsam im Orkus der Zeit - wie Du es so treffend genannt hast -, immer weiter im steten Takt der Sekunden. Dem Anschein nach unaufhaltsam.«

»Und nun?«

»Du bist wohl seine letzte Hoffnung Jo, der letzte Faden.«

»Ich?«, rief entsetzt Jo aus mit dem Finger auf seine Brust deutend. »Unmöglich! Warum soll ausgerechnet ich, Jo Boeger, ihm helfen können? Und wie?«

»Die Antworten auf Deine Fragen stehen in diesem Buch.«

»Sie haben es gelesen?«

»Ja.«

»Was steht drin?«

»Das musst Du selbst lesen, mein Sohn.«

Pater Frédéric bat Jo noch ein letztes Mal zu helfen, dann erhob er sich und schritt langsam von dannen. Jo aber blieb auf der Bank sitzen. Ratlos nachsinnend. Lange. Wie gern hätte er diese Bitte ausgeschlagen, wäre leichten Herzens aufgestanden, zum Auto zurückgeschlendert, nach Hause und in die Normalität des Alltag zurückgekehrt. Aber er konnte es nicht, brachte es einfach nicht übers Herz. Er konnte die Erlebnisse der letzten Stunden nicht ungeschehen machen, brachte die Bilder nicht mehr aus seinem Kopf. Längst war die Wärme aus dem Stamm entwichen, Kälte in Holz und Glieder gekrochen, als Jo sich letztlich doch erhob, um sich auf den Weg zu seinem Wagen zu machen.

»Warum immer ich?«, lamentierte er unaufhörlich vor sich hin, »Nein … Nein … Nein. Ich darf doch auch mal Nein sagen!«

Der VW stand verlassen inmitten des großen Parkplatzes, der nun viel größer wirkte als am Nachmittag. Das Verdeck glänzte feucht, die Scheiben waren beschlagen. Er öffnete die Tür, warf das Buch auf den Beifahrersitz, setzte sich hinters Steuer, drehte den Zündschlüssel und startete den Motor. Pfeifend nahm die Lüftung ihren Dienst auf, Instrumente und Schalter glimmten schwach, ein leises Surren kündete vom Einziehen einer Kassette in den Spieler. Jo drehte erneut den Zündschlüssel, das Surren stoppte, synchron erstarb das tuckernde Motorengeräusch. Kurzerhand öffnete er das Verdeck und schaute in den sternhellen Nachthimmel. Nun sah er, was er am Nachmittag nicht hatte sehen können. Die Finger tasteten nach dem Radio und starteten die Wiedergabe.

›Doch jetzt tut's nicht mehr weh, nee jetzt tut's nicht mehr weh … es ist vorbei bye, bye Junimond.‹

Rio Reiser sang und sang, vom Lieben, vom Zauberland, von Sternen und Mond, von der Nacht und Jo träumte sich mit offenen Augen den Sternen entgegen. Sekunden kamen und gingen, die Zeiger der Uhr drehten sich unermüdlich im Kreis, die Zeit ging, für Jo war es ein einziger Augenblick der blieb.

›Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?‹ fragte Rio Reiser nun zum x-ten Mal und Jo fragte mit belegter Stimme mit. Nein, die Welt wollte er nicht retten, aber ein Geist in der Flasche oder ein Loch in der Natur wollte er auch nicht sein. Er richtete sich im Sitz auf, langte das Buch vom Beifahrersitz, knipste das Lichtlein über dem Rückspiegel an, überblätterte mit zittrigen Fingern die bekannten Zeilen und begann im schwachen Funzellicht zu lesen.

Wie von einer Meute Jagdhunden gehetzt flogen seine Augen über den ersten Absatz. Schneller immer schneller hasteten sie vorwärts, Absatz für Absatz bis zum Ende der Seite. Für eine Sekunde hielt die Hatz inne, die Augen verharrten ungläubig auf dem letzten Punkt. Nein, nein, das konnte nicht sein. Wie konnte derjenige das wissen? Davon wissen konnten nur diejenigen, die dabei gewesen waren. Wer war dieser Autor, dieser Nathan Messner?

Die Finger zitterten wie erfrorenes Laub in einem Wintersturm, gefühllos und steif geworden blätterten sie die hinteren Umschlagklappe des Buches auf. Dort prangte unter einem kurzen Text das Konterfei des Autors. Der Blick gefror zu Eis, die Hände konnten das Buch nicht mehr halten, es entglitt und stürzte hinab in den Fußraum. Nur einen Wimpernschlag später krümmte sich Jo unter einem stechenden Schmerz. Die Wunde im Inneren, sie blutete wieder, ein Vierteljahrhundert danach - die Zeit hatte sie nicht geheilt.

Am französischen Ende der Nacht

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