Читать книгу Am französischen Ende der Nacht - Joerg Embs - Страница 7

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Barsch wummerte etwas gegen die Pforten des profanen und dank dessen gnädigen Traums. Zwei Schläge … Pause … erneut zwei Schläge … und wieder Pause. Vorsichtig hob Jo das rechte Lid. Der neue Tag war seltsam unterbelichtet, warf ein zartes, grau-weißes Streifenmuster auf die Wand, watteweiches Licht sickerte müde in den Raum, von einer Metalljalousie in dünne Scheiben geschnitten. Zu Ende waren Traum und Nacht, nicht aber das Wummern. Zwei Schläge, wie gehabt von einer Pause gefolgt. Aus weiter Ferne schleppte sich die Erinnerung heran, weit vor den Toren des Bewusstseins sank sie entkräftet danieder. Der Versuch sie zu vertreiben war demnach ein erfolgreicher gewesen. Ganz vorsichtig drehte Jo den Kopf, das Wummern kam von einem Ort jenseits einer weißen Regalwand. Er wälzte die Beine über die Bettkante, erhob sich und schwankte halbschlafend zur Tür. Davor stand ein grimmig dreinblickender Portier und pochte wild auf seine Armbanduhr.

»Ich bleibe!«, brummte Jo und schloss unter lautem Poltern leise die Zimmertür. Dann schlurfte er zur Schlafstatt retour und kroch zurück in Bett und Traum.

Der Mittag war eine Stunde jung, als Jo unwiderruflich erwachte. Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er bereits, dass der Heilschlaf des Vergessens ein vorübergehender gewesen war. Eine Gunst von Nacht und Alkohol, eine Gnade, deren Frist mit Tag und wiedererlangtem Bewusstsein abgelaufen war. Zurückgekehrt waren Geist und Verstand, die Augen aufgewacht, die Sicht auf die Bühne der Erinnerung von Dunkel und Dunst geklärt.

Noch einmal war es früher Samstag Abend, noch einmal lag er am Boden, noch einmal öffnete er die Augen und sah zu den Gesichter zweier Männer auf. Eines bekannt, eines unbekannt; eines erleichtert lächelnd, eines prüfend blickend; eines das eines Pförtners, eines das eines Pflegers, der ein Riechfläschchen unter seiner Nase hin und her schwenkte und unablässig: »Monsieur Messner«, sagte. Noch ein wenig weich in den Knien rappelte Jo sich auf, dankte wortlos nickend, griff die Papiertüte und ging aufrecht dahin. Hinter der nächste Hausecke knickten die Beine ein erstes Mal ein. Und in der Folge wieder und wieder. Stolpernd und taumelnd kämpfte sich Jo vorwärts, Meter um Meter. In seinem Kopf knisterten die Gedanken wie Überlandleitungen an einem nebelfeuchten Novembertag, Blitzen gleich zuckten Bilder der zurückliegenden Geschehnisse dazwischen, Wortfetzen verschmolzen zu einer Kakophonie des Schreckens. Die Geräusche ringsum wurden wieder und wieder verstärkt, eine achtlos dahingekickte Getränkedose wurde zu einer Rückkopplung mit tausenden Watt. Intuitiv presste er die Hände auf die Ohren, schleppte sich taumelnd vorwärts, derweil die Welt ihre Konturen verlor. Der Boden schwankte, legte sich in schroffe Verwerfungen, allenthalben brachen Spalten, Risse, Stolperstellen auf. Die Häuserzeilen rechts und links, der Himmel darüber verflüssigten sich und wenn er die Hand danach ausstreckte breiteten sich ringförmig Kreise aus, als hätte man einen Kiesel in einen See geworfen und das Bild verschwamm bis zur völligen Unkenntlichkeit. Vorwärts, immer weiter vorwärts befahl er seine Beine, weitergehen, bloß nicht stehen bleiben. Die Augen brannten im vergeblichen Bemühen das Bild scharf zu stellen, sein Atem ging schwer, den Nacken hinab liefen breite Ströme Schweiß, dazu griff Schwindel zunehmend Raum und die Beine verweigerten häufig den Dienst. Weiter, immer weiter lief er, rastete nur für Sekunden und nur wenn der Schwindel das Gleichgewicht zur Gänze raubte. Panisch blickte er sich um, wieder und wieder, wähnte sich verfolgt. Aber nie war ein Verfolger zu sehen. Anfänglich waren die Straßen praktisch menschenleer, später, in den belebten Gassen unweit des Zentrums waren es Anwohner, die, schwer bepackt, seinen Weg kreuzten. Die Rue sah er nicht mehr, hatte nur mehr die Richtung vor Augen und das Ziel im Sinn. Nordwärts zur Bastille wo der Wagen auf ihn wartete um ihn nach Hause zu bringen. Jo atmete einmal tief durch. Nach Hause, wo alles war wie es gewesen war, wie alles sein würde wie es gewesen war. Welcher Trost war dieser Gedanke, ein warmes Feuer in der Mitte der Eiswüste. Den schwindenden Sinnen zum Trotz beschleunigte Jo den Schritt. Weit konnte es nicht mehr sein, ein paar hundert Meter vielleicht, bald musste die neue alte Seinebrücke in Sicht kommen. Plötzlich, als sei er soeben dem Boden entwachsen, stand er vor ihm, sein Verfolger - es war Nathan Messner. Er war nur mehr wenige Schritte entfernt, schritt mächtig einher, eilte direkt auf ihn zu, als wollte er mitten durch ihn hindurch rennen, mit Furcht erregend aufgerissenen Augen und rasendem Wahnsinn im Blick. Jo beschleunigte abermals. Jedoch sein Gegenüber wich keinen Millimeter. Ein letzter entschlossener Schritt, ein dumpfer Schlag, knapp nachgefolgt von einem ebenso dumpfen Schmerz. Übelkeit kroch den Hals hinauf, der schwarze Vorhang einer beginnenden Bewusstlosigkeit begann sich langsam herabzusenken, blutwarme Tropfen sickerten auf die Stirn. Mit aller Macht kämpfte Jo gegen die drohende Ohnmacht an, riss den Kopf hoch, die Augen auf und mit einem Mal wurde seine Welt schwarz-weiß. So wie sie es 24 Jahre zuvor, an einem Septembersonntag des Jahres 1962, schon einmal geworden und lange Jahre geblieben war.

Eine ganze Nacht und ein halber Tag waren seither vergangen, bislang war sie nur ein Gedanke ohne Gefühl, ein Wissen ohne Emotion, seine neue, seine ewige Wahrheit. Es war vorbei. Aus und vorbei. Welchen Sinn machte es, vor einem Gegner davonzurennen, der schneller lief als der Schall, leiser als das Licht und ausdauernder als die Zeit? Keinen mehr, heute. Vorgestern, da hätte es noch einen gemacht, da war sein Leben noch ein anderes, da besaß er noch die Illusion es sei ein glückliches. Selbst gestern um diese Uhrzeit hätte es noch einen gemacht. Gestern war heute noch morgen. Gestern war die Gegenwart noch Zukunft. Gestern trug die Wahrheit noch alle Chancen in sich. Jetzt nicht mehr. Jetzt gab es nur noch eine Wahrheit, seine Wahrheit. Seine Wahrheit an der er nicht mehr vorbeischauen konnte. Und egal wohin er auch ging, seine Wahrheit war schon da, sie fand immer einen Spiegel in dem sie auf ihn warten konnte. Wenn sie keinen Spiegel fand, dann war ihr auch die offen stehende Glastür einer Telefonkabine recht. Sie eilte ihm voraus, sie folgte ihm nach, sie begleitete ihn wie ein Schatten. Wie ein solcher würde sie ihn auf Schritt und Tritt begleiten bis ans Ende seiner Tage - diese unabänderliche, diese ewige Wahrheit. Sie trug Nathan's Gesicht.

Es war schlimmer gekommen als in seinen schlimmsten Befürchtungen. Er war in einen Alptraum gefallen, der keinen Platz mehr ließ für Träume, noch nicht einmal für heimliche. Von draußen sickerte dieses puderige Licht in den Raum, das sich wie Watte um alles schmiegte und die Realität sonderbar unwirklich scheinen ließ. Es war die äußere Entsprechung der allumfassenden Fossilisation innen. Bisher traf die Wahrheit nur gedanklich zu, war im Gefühl noch nicht angelangt. Zum zweiten Mal in einem Leben hatte er seine Familie verloren - den Bruder an den Wahnsinn, die Eltern an den Tod, dieses Mal endgültig.

Auf dem Weg ins Bad riskierte Jo einen Blick durch die Lamellen. Die Welt trug heut ihr graues Kleid, war all ihrer Farben beraubt. Verborgen hinter einer dichten Wand aus Wolken und Nebel schleppte sich die Sonne über den Himmel, müde und erschöpft von Kräfte zehrenden Tagen. Kopf und Hand zogen sich ruckartig zurück, die Lamellen schnappten auf Position, die Füße schlurften Richtung Badezimmer, direkt unter einen nudelsiebgroßen Brausenkopf. Die unfreiwillig kalte Dusche brachte einen Nachklang des Rausches mit sich, die unfreiwillig heiße einen Anklang von Lebendigkeit. In steter Unberechenbarkeit wechselte der Wasserstrahl seine Temperatur, wohltemperiert nur für einen kurzen Moment im Durchgang von kalt nach heiß, von heiß nach kalt. Unbeteiligt ließ Jo das Wechselbad über sich ergehen. Schließlich stellte er das Wasser ab, langte ein Badetuch von der Stange, band es sich locker um die Hüften, drehte sich dem Waschbecken zu und hob die Augen in die Augen des Spiegels. Traurig blickten sie aus der beschlagenen Fläche zurück. Eigenmächtig erhob sich seine Hand, der Zeigefinger tastete nach vorn und berührte den seines Zwillings. Vereint zeichneten sie eine Brille um die halb blinden Augen. Regelrecht feindschaftlich hatte er ihm gegenüber gestanden, ohne ihm jemals begegnet zu sein, hatte ihn nicht ausstehen können, nein, nicht in der Art und Weise der jungen Frau, das nicht, aber deswegen nicht viel weniger, nur gänzlich anders. Zuwider war ihm Nathan dafür zu Sein, durch seine Existenz an den Grundfesten der eigenen Existenz zu rütteln. Er war ihm ein Feind, nur weil er war, was er war, was er auf immer sein würde, auf geduldigem Papier, jedoch niemals im wirklichen Leben. Dieses Leben hatte ihnen keine Chance gegeben, es würde ihnen zukünftig keine geben, denn der einzige Bruder den er je hatte, er war lebendig begraben hinter Gitterstäben.

Die Finger zogen zurück, die Hände sanken an die Körperseiten, wie von einer Schnur abgereiht begann Tropfen auf Tropfen die Wangen hinabzuperlen. Der Spiegel weinte.

Nein, nicht eine Suche endete hier, die Suche nach einer fremden eigenen Vergangenheit, nein, es war ein Leben, das hier endete, hier in diesem weiß gekachelten Badezimmer, es war sein Leben das hier endete. Sein Leben in dem er nie richtig angekommen war. Mit Ausnahme der ersten sieben und gemessen an der Summe seiner Jahre, zu wenigen luziden Momenten, in denen sein Innerstes kein fernes Land war, öde und unbewohnt, in denen er inmitten der inneren Ödnis einen blühenden Rosengarten angelegt sah. In jenen seltenen Momenten, zu selten, um ein ganzes Leben darauf zu bauen, war er ein anderer, einer der mit vertrauenden Augen in die Welt blickte, wie er es gekonnt hatte in einer glücklichen Kindheit, wie er es nicht mehr konnte am Ende jener Nacht, dem Ende seiner Kindheit. Nur Stunden vor dem Anbruch jenes Tages, dem er Monate entgegenfiebert hatte, der sein großer hatte werden sollen, an dem er ein Großer hatte werden wollen. Eine blausamtene Schultüte lag bereit, randvoll mit seinen heiß geliebten Karamellbonbons, die von denen drei genügten einen ganzen Nachmittag vorbeiziehen zu lassen, in süßgoldenen Träumen, hochfliegend wie die Schwalben unter das tiefblaue Himmelsdach des Sommers. Sie gewannen ein wenig ihrer Süße zurück, die Bonbons, mit der Zeit. Jene Zeit aber, in denen drei von ihnen genügten einen Nachmittag in süßgoldenen Träumen vorbeiziehen zu lassen war vorüber. Sie kehrte so wenig zurück wie das Vertrauen in den Blick. Ein Sonntag war es gewesen, ein Sonntag wie unzählige zuvor, wie nie mehr einer danach. Er hatte nicht geweint in jener Nacht. In jener nicht und auch in keiner anderen.

»AUFHÖREN! … SOFORT AUFHÖREN!«, brüllte Jo in den Spiegel, sich selbst ins Gesicht. »Es ist aus und vorbei. Hast Du das immer noch nicht kapiert? Hör endlich auf mit diesem Lamentum, ich ertrage es nicht länger, diese Hymne des ewig Betrogen, keine einzige Sekunde länger!«, Reflexartig schlug er die Hände auf die Ohren, presste sie schraubstockfest darauf, sie rauschten von Spannung und Blut. Er taumelte, stieß rücklings hart an die kalten glatten Fliesen, das Badetuch löste sich von den Hüften und glitt zu Boden. »Nicht das Leben, nicht die Anderen, ICH ICH ICH bin es gewesen. Nicht Anna und Elias haben mir die Kindheit geraubt, ICH bin es gewesen. Nicht Marleen hat mich betrogen, ICH bin es gewesen. Nicht Frank hat mich hintergangen, ICH bin es gewesen. ICH bin es immer gewesen, niemand anderer als ICH selbst. ICH, Jo Boeger. Jo Boeger der Feigling. Der nicht gefragt hat, aus Angst zu hören; Der nicht nachgedacht hat, aus Angst zu verstehen; Der nicht gesucht hat, aus Angst zu finden!«

Getroffen, erschüttert, die Arme eng um sich geschlungen, stand Jo an die nackten Fliesen gelehnt, starrte wie paralysiert auf einen einzelnen Wassertropfen der auf seinen Unterarm geplitscht war. Ein zweiter folgte, ein dritter, ein x-ter. In steter Folge plitschte Tropfen auf Tropfen auf den Arm. Jo stippte mit dem Zeigefinger hinein, führte ihn zum Mund, die Tropfen schmeckten salzig. Und während sich diese Erkenntnis breit machte, weiteten sich die Tropfen zu Rinnsalen, zu Bächen, zu breiten Strömen. Wie von einer fremden Hand geschüttelt begann er am ganzen Körper zu zittern. Eisige Kälte kroch ihm in die Knochen wie einem streunenden Hund. Zu erschöpft um zu fliehen, zu müde um zu denken, zu wach um zu schlafen, sank er dem Badetuch hinterdrein, kippte zur Seite und blieb zitternd liegen und weinte ein Vierteljahrhundert alte Tränen.

Jo tat nichts. Jo dachte nichts. Jo fühlte nichts. Jo lag nur da, wach zwar, aber ohnmächtig, denn mit den Tränen strömte der letzte Rest Kraft, der letzte Rest Willenskraft aus ihm heraus. Er lag nur da, starrte vor sich auf die Fliesen, deren Weiß sukzessive grau und schmutzig wurde, sah die Schatten darauf lichter werden, sah Schatten und Fliesen schließlich zu einer einheitlich mausgrauen Fläche verschmelzen. Mit einem einzigen Handstreich löschte ein nahendes Unwetter das letzte Licht aus dem Himmel, rief mit Donnergrollen seine Regentschaft aus. Regen warf sich wütend gegen die Scheiben und ein Gewitter ging an den Steilhängen der Nacht hernieder, als wollte es den Himmel einreißen.

Plötzlich stand er vor ihm, übergroß und mächtig, der Moment, den er gefürchtet hatte. Im Schutze der Dunkelheit hatte er sich lautlos genähert wie ein Schiff in der Nacht, der Moment emotionaler Bewusstwerdung, in dem die Realität nach innen durchschlug, nicht länger an einem Bollwerk namens Verstand von dannen gewiesen wurde. Noch war Zeit zur Gegenwehr, einige Körnchen weilten noch oberhalb des Nadelöhrs. Jo sah tatenlos zu wie sie hindurchrieselten. Die Zeit des Ankämpfens war vorüber. Eine nächste Runde würde es nicht geben, nicht für ihn. K.O. in der 24-ten. Jo Boeger hatte aufgegeben, wollte nur noch liegen bleiben, einfach liegen bleiben, hatte keine Kraft, keinen Willen mehr die Fäuste zu heben. Sollte kommen was da kommen wollte.

Es kam mit voller Wucht, griff Jo mit glühenden Fingern mitten ins Herz. Ein stummer Schrei, ein ohnmächtiges Aufbäumen, seine Hände krampften sich zusammen, dass die Haut über den Knöcheln weiß wurde. Erbarmungslos stocherten und wühlten die glühenden Finger, rissen die toten Illusionen aus seinem Fleisch, schnitten ihm Buchstabe für Buchstabe seine ewige Wahrheit ins Herz: Zum zweiten Mal in einem Leben habe ich meine Familie verloren - den Bruder an den Wahnsinn, die Eltern an den Tod, dieses Mal endgültig. Es war nicht länger nur ein wortmächtiger dramatischer Gedanke, nun war das Drama schmerzträchtig gefühlt, nun blutete die Wunde in seinem Inneren wirklich. Und jede Sekunde träufelte die Realität neuerlich wie konzentrierte Salzlösung in die klaffenden Schnitte. Wimmernd, zur Kugel zusammengrollt, lag Jo nach wie vor nackt auf dem kalten Fliesenboden, hatte keine Kraft sich zu erheben. Wellen von Schmerzen liefen durch seinen Körper, das Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen, der Schmerzen Dünung war sein Maß. Einmal war der Welle Tal breit, die Höhe gering, rollte sie fast sanft durch sein Inneres, ein andermal wiederum türmte sich die Welle zu einem mannshohen Brecher auf, als wollten sie ihn innerlich entzwei reißen.

Nach schier unendlichen Gezeiten folgte einem flachen Wellental nur mehr ein nächstes flaches Wellental. Jo blieb noch eine geraume Weile liegen, auf den nächsten Brecher wartend. Aber es sollte keiner mehr kommen. Die Ebbe setzte ein und brachte eine unbekannte Stille mit sich. Der Lärm der Welt ertrank in dieser Stille, mucksmäuschenstill war es. Der Straßenlärm, das Röcheln der Klimaanlage, das Husten des Kühlschrankes, die nachlaufende Lüftung, sie alle langten gerade einmal bis an die äußeren Gehörgänge, nicht weiter, sie drangen nicht zum Bewusstsein durch, denn Jo lauschte hingegeben seiner inneren Stille.

Einzeln lösten sich die Minuten aus dem Gefieder der Zeit, sanken sanft hinab auf der Gegenwart Grund. Ohne Hetze, ohne Hast, eine nach der anderen, in ihrer Leere so voll, in ihrer Armut so reich. Momente, die nichts sein mussten als Momente des Seins - kein Zwischenspiel, kein Vertreib der Zeit. Schwer wie er war sank er tief hinein in die daunenweiche Endlosigkeit vorbeiziehender Stunden. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass er auf diesen Moment gewartet hatte. Diesen Moment, der es unmöglich machte fort zu fahren wie bisher. Jahre, Jahrzehnte, hatte er auf ihn gewartet. Vielleicht schon immer. Womöglich schon seit seiner Kindheit, als er gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte, als er gespürt hatte, dass die Träume von der Frau, die manchmal eine Nacht lang an seinem Bett wachte und Geschichten erzählte, mehr waren als Kinderträume und ihre Geschichten, erzählt in einer fremden Sprache, in Worten wie Karamellbonbons, die gleichen waren wie die, die Elias immer erzählte wenn er an seinem Bett Wache hielt. Vom lieben Gott und seiner Liebe zu den Menschen sprachen sie, erwärmten damit die kältesten, erhellten die schwärzesten Nächte. Und manchmal erzählten sie davon, dass auch der liebe Gott ab und an einmal müde wurde und ein kleines Nickerchen machte, dass in diesen Stunden Väter und Mütter an seiner Stelle über den Schlaf ihrer Kinder wachten. So wie er, Elias, über Jo’s Schlaf wachte, so wie Jo eines Tages über einen Schlaf wachen würde, weil sich der liebe Gott auf einen verließ, und weil jeder einen Schlaf brauchte über den er wachen konnte, über den er wachen wollte. Die Nächte in denen die Frau über seinem Schlaf Wache hielt, in denen er diese Worte aus einem anderen Mund, in einer anderen Sprache hörte, waren die seltenen Nächte in denen er mit Elias allein zu Hause war, waren die seltenen Nächte in denen Anna bei ihrer Schwester in der fernen Stadt nächtigte.

Am französischen Ende der Nacht

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