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4 | QUATTRE

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Das Autobahnende war erreicht, Paris lag unmittelbar vor ihm. Die Morgendämmerung schlich auf nebelgrauen Füßen in die Stadt und Jo hinter ihr her, immer an der Seine entlang, immer weiter Richtung Zentrum. Er saß in seinem Wagen wie in einem bequemen Fauteuil und die opulente Seineschöne entstieg langsam ihrem Nebelbett, entblätterte kunstvoll ihre Sehenswürdigkeiten, eine nach der anderen entwand sich dem schleiernen Nachtgewand, gab sich seinen Blicken preis, letzte Geheimnisse in lichtgrauen Brodem verbergend.

Notre-Dame, Louvre, Tuilerien, Orangerie, Place de la Concorde. »Sieh wie schön, wie wunderschön ich bin«, schien Paris ihm wieder und wieder zuzurufen und winkte lockend mit dem Finger. Obelisk, Arc de Triomphe, Tour Eiffel. Den Reizen dieser Augenweide zu verfallen wäre wahrlich keine Kunst, insbesondere zu einer Tageszeit, zu der man sich der Illusion hingeben konnte, das Werben der Schönen von der Seine gelte einem ganz allein. Jo unterdessen fuhr blindlings kreuz und quer durch die Stadt, Auge und Herz für ihre Anmut unempfänglich. Mit verliebten Augen betrachtet mochte sie ja ganz hübsch sein, diese Stadt der Liebe, aber mit seinen nicht. Am Ziel der Reise war er nun angekommen, zu einer Entscheidung jedoch noch nicht gelangt. Er wagte nicht zu stoppen, saß mit einer Mischung aus Trauer und Schmerz hinter dem Volant, fuhr um des Fahrens, um des Gefühls der Fortbewegung, der damit verbundenen Sicherheit willen, der Wagen zum Faradayschen Käfig gegen den Unbill des Lebens erwachsen.

Auf den Straßen gingen verschlafen dreinblickende Menschen ihren Arbeitsplätzen zu, letzte Nachtschwärmer schwankend ihren Betten. Irgendwo im dichten Dschungel aus Ruen und Avenuen, aus Quais und Boulevards wohnte Nathan Messner. Der Mann den er nicht suchen wollte, aber finden musste. Am Ende der Straße erspähte Jo eine Telefonzelle, gegenüber auf dem Eck ein Bistro. Mechanisch bugsierte er den VW in eine Lücke am Rand der Rue Bosquet und stieg aus. Der erste Schritt war getan, der Wagen parkte inmitten des Großstadtdschungels und Jo stand verloren daneben. Nun gab es kein Zurück mehr. Er zwang sich zu gehen, einen kleinen Schritt nach dem anderen setzend, ließ er die Telefonzelle links liegen und wandte sich dem Bistro zu. Es war noch früh und es hatte keine Eile - nach über 30 Jahren.

›Ob wir wohl Ähnlichkeit besitzen, über die reinen Äußerlichkeiten hinaus?‹ fragte sich Jo bevor er die Tür aufstieß, an einem Tisch am Fenster Platz nahm, Kaffee und Croissant orderte.

Zweieinhalb Stunden später grübelte er noch immer über dieser Frage, sein Blick wanderte beständig zwischen Telefonzelle und der Uhr über dem Tresen hin und her. Behäbig wie zwei schläfrige Schnecken krochen die Zeiger über das Zifferblatt. Jo griff nach dem Buch, schlug es auf der letzten Seite auf. Er trug eine Brille, Nathan Messner, das Gestell wuchtig, als wollte er seine Augen dahinter verschanzen. Abgesehen davon hätte er selbst ihn nicht von sich zu unterscheiden gewusst. Die Haare waren an der ein oder anderen Stelle vielleicht etwas dünner, das Gesicht eventuell ein wenig voller. Jedoch, das konnten auch Unterschiede sein, die sein Auge in diese Fotografie hineinsehen wollte. Nathan Messner sah irgendwie zufriedener aus, womöglich sogar glücklich. Nicht weil er lächelte, sondern wie. Und ab diesem Moment mochte Jo ihn noch weniger. Er winkte dem Kellner, um seine beiden Kaffee und die drei Croissants zu begleichen und stakste auf tönernen Beinen der Telefonzelle zu.

»Men … Meo … Mep … Mer … Mer … Mer«, mit zittrigen Fingern fuhr Jo die eng beschriebenen Reihen entlang, ein letzter Mer, dann folgten die Messners. Albert, Bernard, Catherine, Jeanne, N., Pierre. Jo schob den Finger zurück auf Anfang, ging die Reihe noch einmal durch. »N.« murmelte er vor sich hin »N. Messner, 182, Rue du Borrégo.«

Er notierte Adresse und Telefonnummer, dann lenkte er seine Schritte in die Richtung, in der er die Innenstadt vermutete. Wahllos ging er Straßen auf und ab. Die aufkeimende Nervosität hieß ihn laufen, nahm die Suche nach einem Kiosk oder einer Buchhandlung, nach einem Stadtführer zum willkommenen Vorwand.

Eineinhalb Stunden später, es war kurz nach neun, ging Jo durch eine Straße, die so gar nichts gemein hatte mit der Rue du Borrégo seiner Vorstellung. Eine hübsche baumbestandene Allee hatte er sich ausgemalt. Altehrwürdige Wohnhäuser hatte er erwartet, die Fassaden mit allerlei Stuck verziert, als konkurrierten sie über die Jahrhunderte hinweg miteinander wie hochwohlgeborene Damen auf einem Ball. Dicht an dicht drückten sich an Ihrer statt schmale Häuschen aneinander, in unendlich langen Zeilen, schmutzig und grau. Am Straßenrand wand sich eine rostige, blecherne Schlange geradewegs dem Horizont zu. Händler und Kunden warfen sich nette Grüße über die Straße. Ein Viertel der Handwerker und Tante-Emma-Läden, der Arbeiter und einfachen Leute. Laut und lebhaft ging es zu, fast wie auf einer Dorfstraße.

Nr. 182, hier wohnte Nathan. Messner stand auf dem Klingelschild. Jo läutete schneller als der Mut hätte sinken können. Und nach ein paar Momenten noch ein zweites, ein drittes Mal. Kein Laut drang aus dem Inneren, keinerlei Zeichen der Reaktion oder des Lebens waren zu vernehmen. Unschlüssig, mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung, harrte Jo vor der Tür aus, ein Gefühl, als wäre soeben der gefürchtete Zahnarzttermin auf später verschoben worden. Und nun? Nun würde er am späten Nachmittag noch einmal herkommen. Der Zahn war faul, die vorübergehende Absenz des Arztes konnte sicherlich nicht das Ende der Schmerzen bedeuten. Vorübergehend mochte die Freude betäubend wirken, aber die Pein würde zurückkehren, ebenso wie der Arzt.

Eine alte Dame rief ihm von gegenüber einige schnelle Sätze zu. Eine Vielzahl Worte, die er weder verstand, noch deren Bedeutung er enträtseln konnte. Jo zuckte mit den Schultern, hob entschuldigend die Arme und wandte sich von der Tür ab. Mit schwerem Schritt und hängenden Schultern machte er sich auf den Rückweg, trottete der Metrostation entgegen. Nun hatte er einen ganzen Haufen Tag vor sich und keinen Plan ihn abzutragen. Was macht man mit acht Stunden, deren einziger Sinn ist vorüber zu gehen? Wie bringt man einen Tag rum, wenn bereits fünf winzigkleine Minuten die Geduld auf eine arge Belastungsprobe stellen? Zu einer Mauer geschalt, zementen, meterhoch und unüberwindbar türmten sich die Stunden vor ihm auf, als der Eingang der Metrostation in Sicht kam. Jo lenkte seinen Schritt daran vorbei. Er hatte a) kein Ziel, und b) schon gar keines das er möglichst schnell erreichen wollte. Doch, 17 Uhr. Aber da half keine Métro. Er beschloß zu Fuß zu gehen, spazierte die Rue du Faubourg du Temple entlang, bog spontan in den Quai de Valmy, folgte dem Canal Saint Martin stadtauswärts. Er ging und ging und ging. Rechter Hand strömte der Kanal, linker Hand glitten Fassaden an ihm vorüber, als endlose Zeile. Bilder eines Films, der das Auge nicht fesselte, weil nichts das Auge bannte. Nach innen gerichtet war sein Blick. Jo stöberte in Erinnerungen wie in Fotoalben lange zurückliegender Epochen. Er suchte. Er suchte vergebens. Spuren von Nathan fanden sich auf keinem der Bilder.

An der Place de Stalingrad überquerte er den Kanal, folgte seinem Lauf auf der anderen Seite stadteinwärts. Ein Blick auf eine Uhr, zehn nach zehn, erst zehn nach zehn. So weit war er nun gegangen und doch kaum vorwärts gekommen. Auf Höhe der Rue Louis Blanc setzte er sich auf eine Parkbank nieder, er war müde. Müde vom kilometerweisen Gehen. Müde von der schlaflosen Nacht. Müde vom pausenlosen Denken. Hinlegen, nur ein bißchen hinlegen. Aber das ging doch nicht, er konnte sich doch nicht einfach auf einer Parkbank lang machen. Eine kurze Ewigkeit von fünfzehn Minuten später hatte die Müdigkeit die Oberhand gewonnen, ging es doch. Als Jo wieder zu sich kam, war es Mittag, war es der vorangekündigt heiße Tag geworden. Die Sonne brannte aus einem wolkenlos blauen Himmel, Schweiß stand ihm auf der Stirn, gegenüber versprachen rote, weit ausladende Schirme ein wenig Schatten und ein kühles Getränk. Noch Fünf Stunden.

Jo blätterte lustlos im Reiseführer, beobachtete Gäste und Passanten, aber recht gelingen wollte ihm die Zerstreuung an diesem Tag nicht. Er pfefferte den Reiseführer auf den Tisch und winkte dem Kellner, um zu zahlen. So ging es nicht weiter, dachte er und langte den Reiseführer vom Boden, wog ihn unschlüssig in der Hand, dann schlug Jo wahllos auf. ›Saint-Germain-des-Prés‹ las er und der Plan der kommenden Stunden war beschlossene Sache. Noch ein rascher Blick in Stadt- und Métroplan, dann marschierte er los. In Richtung Stalingrad, wo er den Zug der Linie 5 bestieg. Noch viereinhalb.

Es dauerte bis Blanche, bis Jo bemerkte, dass er im falschen Zug saß. Genervt stieg er aus, genervt trottete er durch die labyrinthischen Gänge. Exakt fünf Töne waren es, die ihn der Tristesse entrissen. Fünf Töne, mit kristallener Klarheit gespielt, brachen sie durch seine Gedanken wie die ersten Sonnenstrahlen durch die dunkle Wolkendecke eines verhangenen Herbsttages. Jo stoppte, lehnte sich an die kalte Fliesenwand und schloss die Augen. Sommerzeit und das Leben war leicht, Fische sprangen, und die Baumwolle stand hoch, was war sein Vater reich und sah seine Mutter gut aus. Gershwin. Akzeptabel auch für den Geschmack eines breiten Publikums, einer Zuhörerschaft wie man sie auf Straßen findet, an Fast- und Junkfood gewöhnt. Der Musiker selbst alles Andere als das, ein wahrer Feinkosthändler der Zunft. Zweifelsohne. So sehr Jo der Szene entwachsen, so sehr er aus der Übung gekommen war, ein Lachshäppchen wusste er noch immer von einem Fishburger zu unterscheiden. Was suchte ein Profi wie der hier im Untergrund? Die Töne hallten von den gefliesten Wänden wieder, kamen von links, von rechts, von hinten, von vorn, von oben und von unten. Wo aber war deren Ursprung? Jo streifte durch die Röhren wie ein C-Dur Akkord durch den Tieftöner einer Hifi-Anlage. Zuweilen klangen die Töne so nah, dass er meinte, sie aus der Luft greifen zu können, den Saxophonspieler hinter der nächsten Ecke anzutreffen. Der Untergrund gab sein musikalisches Geheimnis nicht preis. Unablässig warf der Musiker Perlen auf das Trottoir und Jo wünschte, dass sich jemand fände, sie aufzuheben. Letztlich gab er die Suche auf, blieb stehen und lauschte entrückt bis der letzte Ton verhallt war, ihn kreisende Gedanken in die Realität zurück rückten. Noch vier.

Schließlich erspähte er im Gewimmel sogar ein Schild zum richtigen Bahnsteig, entschied jedoch in diesem Viertel zu bleiben. Saint-Germain oder Montmartre, was machte das für einen Unterschied? Keinen! Deren Sinn und Zweck war derselbe: Zeit totzuschlagen. Er verließ die Station und schlenderte die Rue Lepic hügelan. Ziellos stöberte er durch eine Buchhandlung, einen Plattenladen, eine Boutique, blätterte durch diverse Bildbände, hörte diverse Platten Probe, griff diverse Anzüge von diversen Kleiderständern. Die reine Notwendigkeit füllte schließlich eine papierne Tüte, diverse Kosmetikartikel, ein T-Shirt und ein frisches Oberhemd. Noch zweidreiviertel.

Ein kurzer Gang durch kleine Gässchen, über die Place du Tertre zur Sacré-Cœur, immer den Lemmingen hinterher, dann hatte das touristische Programm sein schnelles Ende gefunden. Statt länger mit Krethi und Plethi von Top-Ten-Sehenswürdigkeit zu Top-Ten-Sehenswürdigkeit zu traben, suchte sich Jo lieber ein schattiges Plätzchen und stahl sich davon. Wie er es in Kindertagen oft getan hatte, wenn die Welt der Erwachsenen ihren langen Schatten auf die seine warf. Wenn er, ausstaffiert wie ein Pfingstochse, artig am Wohnzimmertisch der Tante sitzen musste, statt auf die Bäume im Garten zu klettern. Wer hatte Nathan zugeblinzelt in solchen Momenten? Hatte es auch für ihn einen Elias gegeben? Jo atmete tief durch, ein Gähnen mühsam unterdrückend. Hier standen jene alten, noblen, ehrwürdigen Jugendstilhäuser mit ihren hohen Räumen, in die er seinen Bruder imaginiert hatte, an einem alten, schweren Eichentisch sitzend. Freundlich und hell war es, Nathans Arbeitszimmer, großzügig und gemütlich in der Schlichtheit der Einrichtung. Den Wänden entlang raumhohe Regale voll alter Bücher, der Schreibtisch übergroß, zentral im Raum platziert, darauf nur seine Schreibmaschine und eine goldene Tischlampe, deren Glanz stumpf geworden war im Lauf der gemeinsamen Jahre. Auf dem Boden lange Dielen, eichen und alt wie der Tisch, knarrend unter der Last müßig gehender Schritte eines nachdenklichen Mannes. Genau so stellte er sich das Ambiente vor, in dem sein Bruder seine Kinder gebar. Vergessen langte Jo eines davon aus der papiernen Tüte, in der er es seit Stunden durch die Stadt trug, zusammen mit seinen wenigen Einkäufen. Zögerlich klappte er das Buch auf, stieß auf eine handschriftliche Notiz, die im schummrigen Licht der vorangegangenen Nacht nicht zu sehen gewesen war. ›Colbert‹ stand auf der linken Seite, der Rückseite des Buchdeckels zu lesen, darunter einige Zeilen in Latein.

»Quis est in vobis qui audiat«, sagte Jo halblaut vor sich hin.

»Hoc adtendat et auscultet futura«, vollendete eine fremde Stimme das Zitat.

Irritiert hob Jo den Kopf, fiel kopfüber aus seinem Tagtraum, als er des Mannes gewahr wurde, der vor der Bank stand, keine zwei Schritte entfernt, den Blick geradeaus gerichtet, knapp an Jo vorbei. Ein Stutzer, der Fotografie eines aristokratischen Briten entsprungen, ein moderner Dandy, ein überdauerter Dorian Gray. Der Anzug schwarz, das Hemd blütenweiß mit gestärktem Kragen, beides sicherlich von kunstfertiger Hand geschneidert, Schuhwerk und Hut in Manufaktur gefertigt. Dazu Ledergamaschen und ein Gehstock mit silbernem Knauf. Die Haut von seltsamer Beschaffenheit, bleich, fast wächsern. Unbewegt harrte der Herr auf ein Zeichen der Einladung, die Hände auf seinen Gehstock gestützt. Behäbig schwenkte Jo die Hand hin und her, flink wie die Zunge eines Chamäleons schnellte der Stock empor, stoppte millimetergenau davor.

»Entschuld … Excuse … Par …«, stammelte Jo.

»Was dachten Sie denn, dass ich blind sei?«, brummte der Herr, »Aber ja das bin ich, wenngleich das nicht bedeutet, dass ich nicht sehen kann. Sie sitzen auf meinem Platz!«

»Oh, Entschuldigung«, antwortete Jo, rückte zur Seite und bot mit knapper Bewegung den Sitz an. Verstohlen zog er die Hand wieder ein, sagte stattdessen: »Bitte sehr.«

»Danke sehr.«

»Wo haben Sie so gut deutsch gelernt?«, fragte Jo neugierig.

»Wo haben Sie so gut deutsch gelernt?«, fragte sein Nachbar.

»Zuhause und in der Schule«, antwortete Jo verwirrt.

»Zuhause und in der Schule«, wiederholte sein Nebensitzer.

Auf eine Fortsetzung wartete Jo vergeblich. Der Herr starrte schweigend vor sich hin, an einer Konversation offenbar nicht interessiert. Die Wiederholung sollte wohl seine Antwort sein. ›Blasierter Lack‹, nölte Jo in sich hinein und fiel seinerseits in Schweigen, wandte seine Aufmerksamkeit den lateinischen Zeilen zu. Was hatten die Worte zu bedeuten? Wer hatte die Notiz hinterlassen? Der namenlose Mann? Pater Frédéric? Ein unbekannter Dritter? Und warum hatte er oder sie die Worte notiert? Nach Paris gekommen war er um Antworten, Gewissheit zu finden - stattdessen fanden sich weiter Fragen und Ungereimtheiten. Statt hinaus, führte der Weg immer weiter hinein in den Morast unbeantworteter Fragen. Grübelnd versank er tief in stiller Wortlosigkeit, von seinem Banknachbarn keine weitere Notiz nehmend.

»Ein Bibelzitat«, sagte der unvermittelt, brummend wie zuvor.

»Ein Bibelzitat«, wiederholte Jo gedehnt als zöge er sich an den Worten langsam in die Wirklichkeit zurück.

»Wer ist unter euch, der das zu Ohren nimmt, der aufmerkt und es hört für künftige Zeiten?«, rezitierte der Herr. »Jesaja, Kapitel 42, Vers 23«, fügte er an. »Es ist selten, dass ein junger Mensch wie Sie im Buch der Bücher liest.«

»Ich lese nicht in der Bibel. Und ein so junger Mann wie Sie meinen, bin ich auch nicht mehr. Wir dürften ungefähr gleich alt sein.«

»Jetzt haben Sie uns beide beleidigt!«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung!«

»Akzeptiert!«, sagte der Herr und streckte Jo die Hand hin, die wächsernen Gesichtszüge von einem weit entfernten Verwandten eines Schmunzeln gestreift: »Benoît Soulaire.«

»Jo Boeger«, sagte Jo bass erstaunt die Hand ergreifend. Saß da noch derselbe neben ihm auf der Bank? Wohin war jener eitle, selbstgefällige Lack entschwunden? Wo der Stenz geblieben? Er hatte sich in Nichts aufgelöst, als hätte sich Benoît's inneres Kaleidoskop eben ein wenig gedreht. Die Scherben des Ich zu einem neuen Bild gefügt, offerierte sich nun ein gänzlich anderes Wesen. Jo blickte ihm eindringlich ins Gesicht. »Aber blind sind Sie schon?«

»Wer von seinen Mitmenschen in Ruhe gelassen werden will, der muss sich schon etwas einfallen lassen«, entgegnete Benoît und beugte sich Jo zu, legte sanft den Finger auf die Lippen: »Psst, verraten Sie meine kleine Maskerade nicht.«

»Ich werde mich hüten, nun, da ich zu den Auserwählten zähle. Außerdem wüsste ich nicht wem ich davon berichten sollte.«

»Ihr erster Besuch in Paris?«

»Mein zweiter …«

»… aber nicht Ihr letzter?«

»Wer weiß.«

»Eine Liebe?«

»Eine gestohlene Vergangenheit.«

»Adieu Tristesse, bonjour l'Extraordinaire«, rief Benoît nun laut und begeistert aus und warf impulsiv die Arme in den Himmel. Das Kaleidoskop hatte sich neuerlich gedreht. »Eine gestohlene Vergangenheit«, repetierte er, als lese er die Speisekarte eines Sternerestaurants. »Für Sekunden hatte ich befürchtet, Sie würden mich letztlich doch noch enttäuschen, mich mit der Trivialität einer gewöhnlichen Liebe langweilen. Eine gestohlene Vergangenheit«, sagte er voller Glückseligkeit noch einmal vor sich hin und drängte Jo mit der Erzählung zu beginnen.

»Das ist eine längere Geschichte«, gab Jo zu bedenken.

»Zeit habe ich soviel Sie wollen!«, antwortete Benoît, vollführte mit dem Stock eine Bewegung, als fegte er schmutziges Geschirr vom Tisch, um dem Nachtisch Platz zu schaffen.

Jo hob stockend an, hielt je und je inne, um sich zu versichern, ob Benoît weiter zuhören mochte. Je länger Jo sprach desto mehr kam die Rede in Fluss, seine Pausen wurden weniger. Hatte er zu Beginn eher in groben Zügen berichtet, sachlich noch dazu, wurde die Schilderung, durch die Attitüde seines Zuhörers befeuert, im Fortgang zunehmend detailverliebter. Nach und nach offenbarte er die Geschichte, von seinem Nachbar nicht ein einziges Mal unterbrochen. Jo war es, als durchlebte er die Begegnung des Vorabends ein zweites Mal, als würde sie durch die Erzählung davon wahrer, als streifte sie das Stigma der Phantasterei dadurch endgültig von sich ab.

»Nun sitze ich hier und warte, dass es endlich spät genug ist für den zweiten Versuch«, sagte Jo und seine Berichterstattung war beendet. Von Benoît’s überschäumender Begeisterung war nichts mehr zu spüren, sie schien sich im Gang der Erzählung verloren zu haben. Wieder hatte sich das Kaleidoskop gedreht, wieder saß ein Anderer neben Jo. Einer, dem irgend etwas eine Unwucht in die Gedanken geschlagen hatte, dessen Freude wie verflogen war, der mit seinem Stock Zeichen in den Staub malte. Ohne konkrete Form, ohne tieferen Sinn.

»Haben Sie keine Angst vor dem was Sie erfahren könnten?«

»Oh doch. Mehrfach habe ich mich gefragt, ob es nicht besser wäre einfach nach Hause zu fahren und so zu tun, als wäre alles nur ein Traum gewesen - nichts weiter als ein schöner Traum, der ein schöner Traum bleiben soll.«

Dann hockten sie schweigend nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. Minutenlang. Jeder für sich allein und doch irgendwie gemeinsam. Einem unbedarft vorbeigehenden Passanten mochte es scheinen, als hätten sie jahrelang Übung in dieser Kunstfertigkeit.

»Seltsam, wie sonderbar nahe ein völlig Fremder einem engen Freund manchmal ist. Beiden erzählt man von Dingen die man keinem anderen beichten würde«, sagte Jo. Es war mehr ein laut gesprochener Gedanke.

»Vielleicht sind wir einander gar nicht so fremd, vielleicht sind wir enge Freunde, die sich noch nicht kennen gelernt haben«, entgegnete Benoît. Ebenfalls eher laut vor sich hin denkend.

Eine leichte Brise kam auf, strich raschelnd durch die Hecken, wirbelte ein wenig Staub auf und verwischte die Zeichnungen.

»Haben Sie Geschwister, Benoît?«

»Keine, so weit mir bekannt ist.«

Von der gegenüberliegenden Seite stöckelte eine Frau auf das kiesgraue Carré und setzte sich linker Hand auf einer Bank nieder, dem Platz an Noblesse ebenbürtig. Ganz in weiß, ganz elegant, ganz ihrer Ausstrahlung bewusst. Ein Hosenanzug, ein leichter Sommermantel, hochhackige Pumps, die Haare unter einem weit ausladenden Hut verborgen, die stolzen Züge dadurch wohl beschattet. Seit unendlichen Augenblicken das erste Zucken der Welt, das die Abschottung ihrer Zweisamkeit zu durchdringen, das Interesse auf sich zu lenken vermochte. Nun schlug sie die Beine übereinander, gab schlanke Fesseln zur Anbetung frei. Viele Meter entfernt und doch als säße sie zwischen ihnen.

»Sie ist wunderschön!«, flüsterte Jo.

»Beschreiben Sie sie mir, bitte«, flüsterte Benoît seinerseits.

Konzentriert, der Schwere seiner Aufgabe bewusst, tat Jo wie er gebeten worden war, bemüht um Worte, die mächtens waren der Dame Anmut auf Flügeln in den Himmel zu tragen, nicht unter ihrer Schönheit Last kläglich zu Boden niederzusinken.

»Belle!«, raunte Benoît vergessen, als kommentierte er das Bild in seinem Kopf. Er schnaufte einmal tief durch, dann schloss er die Schleusentore zum Diesseits und tauchte hinaus in eine ferne Gedankenwelt.

Irgendwo in der näheren Umgebung läuteten Kirchenglocken die volle Stunde, erst vier, dann drei Schläge. Noch zwei Stunden. Jo versenkte sich neuerlich in die Betrachtung seines Buches, die Hitze des Nachmittags übersprang den Schlagbalken der kühlen Enklave, die der Schatten inmitten des Sonnenreiches ausgerufen hatte. Menschen, Tiere, Pflanzen, Gedanken und Träume, alles und jedes, dessen die Glut habhaft werden konnte, wurde in einen Zustand schläfriger Trägheit versetzt und Jo wurden die Lider schwer und schwerer, sanken letztlich hinab, dem Auge ein Spiel aus Orange- und Rottönen offerierend.

Jo dämmert vor sich hin bis er, von plötzlicher Unruhe gepackt, die Lider wieder hob. Benoît rutschte, vor sich hin knurrend, auf seinem Platz hin und her, die Schleusentore zum Diesseits hatten sich wieder gehoben. Ein kurzer Blick in sein Gesicht und Jo musste erschreckt feststellen, dass eine vierte Drehung des Kaleidoskops die Hebung verursacht hatte. Eine letzte, wie sich unmittelbar darauf herausstellte, eine, die alles wieder auf Anfang drehte. Benoît erhob sich wortlos, ging zögernd ein paar Schritte, wandte sich dann noch einmal Jo zu: »Fahren Sie nach Hause, solange die Wahrheit noch Raum für Träume lässt. Kehren Sie um, derweil Sie noch wegzusehen vermögen. Wachen Sie auf, bevor aus Ihrem Traum ein Alptraum wird!«

»Benoît …?«, rief Jo ihm verstört nach. Aber Benoît sprach nicht mehr, Antwort gaben nur mehr seine sich entfernenden knirschenden Schritte im Kies.

Was sollte er von diesem Benoît halten? Von einem Mann, dessen Kleidung so sonderbar war wie seine Ansichten, der seine Gemütsverfassungen wechselte wie ein launiger Apriltag die Jahreszeiten - Winter, Frühling, Sommer und Herbst, alles in kaum einer Stunde. Frostig war er gekommen, frostig war er gegangen. Was wusste er? Er, der so ungern sprach und so aufmerksam zuhörte, als sei ebendies seine Profession. Was wusste Benoît, das er nicht wusste?

Dünn und dünner wurde der Geduldsfaden, die Ungewissheit nagte stetig daran. Reflexartig ergriff Jo das Buch, hob es vor die Augen. Wenn in Pater Frédéric’s Worten nur ein Funken Wahrheit gesteckt hatte, dann fanden sich hierin Antworten auf all seine Fragen, schwarz-auf-weiß. Noch zauderte er, so verlockend die Aussicht war, so beängstigend war sie auch. Sollte er oder sollte er nicht? Die Gedanken drehten sich unablässig wie Fähnchen im Wind, Spielbälle Zephirs. Unfähig einen Entschluss zu fällen, ließ Jo den Blick umherschweifen.

Sie sah herüber, lächelte ihn an, als sei er ein Passbildautomat. Eindeutig ihm galt ihr Lächeln, niemand anderer war zugegen. Er legte das Buch zur Seite und ihre Blicke verschränkten sich ineinander und Jo fühlte sich taxiert. Genau wie von Pater Frédéric, vom Mann ohne Namen, von Benoît und doch ganz anders. Ein letzter, ein reizender Blick, dann erhob sie sich und verließ den Platz wie sie ihn betreten hatte: ganz in weiß, ganz elegant, ganz ihrer Ausstrahlung bewusst.

Lange sah Jo ihr nach, noch als ihr wehender Mantel längst im Dunkel einer Galerie verschwunden war und nicht zurückkehrte. In der Rückenlehne der Bank hing ein luftig leichtes Stück Stoff, ein seidenes Halstuch. Schlaff hing es herab, als weigerte sich der Wind mit ihm zu spielen. Jo ging die zehn Schritte hinüber, sah einmal rundum, dann pickte er geschwind den Schal aus den hölzernen Stäben. Ein Gefühl, als pflückte er die verbotene Baumfrucht von den Zweigen. Erst in der Anonymität der Metrostation wagte Jo davon zu kosten. Oh wie süß und schwer war dieser Duft, wie dünn und leicht der Stoff. Auf der Haut ein gesponnenes Versprechen, auf den Lippen der Kuss eines Engels. Die Sinnen benebelt, vergaß Jo momenteweise den Grund seines Aufenthaltes. Eine dichte Menschenmenge drängte in die Röhren, eine Nasevoll des betörenden Dufts mit sich bringend. Hektisch wandte Jo den Kopf nach links und rechts. Sie war in der Nähe. Mehr Menschen strömten herein, die Enge nahm zu, die Intensität des Duftes ebenfalls, ein Schubsen, ein Stolpern, eine Hand im Rücken, dann waren Menschen und Duft vorübergezogen und Jo stand wieder allein im Eingang der Station. Aus einem der Gänge hallten kristallhelle Schläge, Takk … Takk … Takk, immer leiser werdend, Takk … Takk … Takk, in stoischem Gleichmaß schlug Metall auf Keramik, ein Gehstock auf die Fliesen.

Es war erst kurz nach halb vier, eineinhalb Stunden früher als geplant. Um weitere Zeit totzuschlagen mangelte es ihm an Werkzeug, zudem gab es keinen triftigen Grund länger zu warten. Diese Uhrzeit war ebenso gut oder schlecht wie eine spätere. Konzentriert widmete sich Jo dem Linienplan, fuhr mit dem Finger die Strecke ab: die Linie 2 bis Belleville, die 11 bis Jourdain, das restliche Stück zu Fuß.

Kaum eine Viertelstunde später schritt Jo erneut durch die Rue du Borrégo, näherte sich dem Haus mit der Nr. 182. Die Straße war noch belebter als am Morgen, den Eindruck einer Dorfstraße verstärkend. Trotz zweimaligen Klingelns blieb die Haustür auch dieses Mal geschlossen, obschon Stimmen und Musik aus dem Wohnungsinneren nach draußen drangen. Ein drittes, ein viertes Klingeln, dann flog die Tür mit einem Ruck auf und das feucht glänzende Gesicht einer jungen Frau erschien im Rahmen. Ein Baby hing ihr vor der Brust, ein zweites kam auf allen Vieren durch den Flur gekrabbelt, ein drittes brüllte im uneinsehbaren Teil der Behausung. Ein Schwall dicker Luft waberte an der jungen Frau vorbei, suchte ihren Weg ins Freie. Nach saurer Milch roch sie, nach altem Schweiß und kaltem Rauch.

»Nathan Messner?«, fragte Jo unsicher geworden.

So zögerlich die Tür eben noch geöffnet worden war, so wild entschlossen wurde sie ihm nun vor der Nase zugeknallt. Wortlos, dafür mit umso mehr Ressentiment und Schwung. Die Wucht dieser Feindseligkeit schleuderte Jo förmlich auf die Straße zurück. Wie vor den Kopf geschlagen stand er in der Lücke zwischen zwei klapprigen Fahrzeugen. Die Tür flog auf, Jo zuckte einen Schritt rückwärts, im Rahmen erschien ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau, in Zornesröte entflammt.

»SALPÊTRIÈRE!«, schrie sie und ein sardonisches Grienen verzog ihre Züge, gefolgt von einem Schwall galliger Worte, die keiner Übersetzung bedurften. Hass, abgrundtiefer Hass spricht alle Sprachen. Immer dunkleren Niederungen zu stieg das Krakeel in seinem Rücken, peitschte ihn förmlich der Haltestelle der Untergrundbahn zu. Noch als Jo längst ihrer Sicht entzogen war, ging das Zetergeschrei mit unverminderter Heftigkeit weiter. Ein Damm war gebrochen, aufgestaute Gewalten brachen sich wortmächtig Bahn und niemand war zugegen, ihnen Einhalt zu gebieten. Egal wem die Schimpfworte galten, sie trafen seinen Rücken, machten ihn gemein mit dem Täter, machten ihn zu seinem Alter Ego.

Und tatsächlich, zum ersten Mal seit Jo von Nathan Messner wusste, empfand er so etwas wie Verbundenheit mit ihm. Er war kein enger vertrauter Freund – nein, das war er nicht. Er war auch kein Bruder - nicht im Geiste, nicht im Fleische. Nathan Messner war derjenige mit dem Jo eine enge Lebens- und Schicksalsgemeinschaft bildete.

Endlich waren die Räume des Untergrundes erreicht. Gerüche, Geräusche, Menschen - alles wimmelte, alles wuselte, hin und her, kreuz und quer. Oh wie wohl tat die Lebendigkeit dieses Gewusels. Seit gut zehn Minuten stand Jo an dessen Rand, in Reiseführer und Stadtplan stöbernd. Eine Salpêtrière konnte er nicht finden und die Versuche einen Passanten zu fragen, hatten ihm bislang nur wissendes Schmunzeln verschiedenster Couleur eingebracht, stehen geblieben war niemand. Entnervt ließ Jo den Plan sinken - kein Hinweis zu finden. Ein Strom Menschen ergoss sich aus dem Röhrensystem in den Vorraum.

»Salpêtrière?«, fragte Jo in die vorbeiströmende Menge hinein. Aber auch diese Saat blieb fruchtlos. Wieder blieb niemand stehen, wieder beschränkte sich die Ernte auf schmunzelnde Gesichter. Eine afrikanischstämmige junge Frau scherte aus dem Strom aus, näherte sich zielstrebig. Ein Baby hing ihr vor der Brust, ein Kleinkind trippelte an der Hand neben ihr her. Jo wich ungewollt einen Schritt zurück.

»Salpêtrière?«, fragte sie.

»Oui!«, antwortete Jo überrascht.

»Français?«

»Non!«

Ohne großes Aufhebens zog sie Jo vor den großen Metroplan und deutete auf eine Station. »Glacière«, las Jo und die junge Frau nickte lächelnd.

»Saint-Anne, Rue Cabanis«, sagte sie, als diktiere sie es Jo ins Notizbuch, verschob den Finger ein minimales Stück, über einem cremegelben Punkt in einer cremegelben Fläche zuckte er ein klein wenig zurück, schnellte auf die Karte pochend vor, zuckte zurück, schnellte pochend vor, zuckte zurück, schnellte pochend vor. Tokk … Tokk … Tokk. Lag es dort wirklich, das Ende seiner Suche? In Montparnasse, im Dreieck der Stationen Glaciere, Cité Universitaire, Maison Blanche. Und was würde er finden? Den Anfang seines Lebens? Das Ende seines persönlichen Regenbogens? Daran, dass ihn auch etwas ganz anderes erwarten könnte, wagte er noch nicht einmal ansatzweise zu denken.

Schwerlich nur löste Jo seinen Blick von dem Plan. Es galt eine Entscheidung zu fällen. Hier und jetzt war seine letzte Chance auszusteigen. Benoît's mahnende Worte drängten heran. »Fahren Sie nach Hause, solange die Wahrheit noch Platz für Träume lässt. Kehren Sie um, derweil Sie noch wegzusehen vermögen. Wachen Sie auf, bevor aus Ihrem Traum ein Alptraum wird!«

Nein, eine Wahl gab es nicht mehr, für den Ausstieg war es zu spät, der Zug fuhr und er würde sitzen bleiben. Bis zur Endstation, bis zum Depot, wenn es sein musste.

»Monsieur!«, riss ihn eine piepsige Stimme aus den Gedanken und eine kleine Hand zupfte aufgeregt an seinem Hosenbein. Jo wandte den Kopf und die Metrostation erwachte aus ihrem Dornröschenschlaf. Alles wimmelte, alles wuselte, hin und her, kreuz und quer - Gerüche, Geräusche, Menschen. Jetzt nur in entgegengesetzter Richtung, in das System der Röhren hinein. Schon war das Rattern der einfahrenden Métro zu vernehmen.

»Allez! Vite!«, riefen Mutter und Tochter und Jo sprintete los, dem Strom Menschen hinterher. Hinter dem Drehkreuz hielt er kurz inne. »Merci!«, brüllte Jo über die Köpfe der letzten Nachzügler hinweg und ehe er sich versah schwenkte auch er seine Hand hin und her, hoch in der Luft.

Goncourt … République … Arts et Métiers … Rambuteau. Bahnhof folgte auf Bahnhof. Hotel de Ville … Châtelet. Hier musste er umsteigen, in die Linie 4 Richtung Porte d'Orléans. Das schien ihm die schnellste Verbindung zu sein. Mit den Augen eilte Jo die Linie entlang, die Stationen zählend. Bei 7 endete die Zahlenreihe abrupt. »Vavin«, las er halblaut vor sich hin. Vavin, das hatte er doch schon einmal gelesen oder gehört heute. Nur wo? In welchem Zusammenhang? Benoît? Hatte er nicht etwas dergleichen im Gespräch erwähnt? Später, dafür war auch später noch ausreichend Zeit. Jetzt galt es möglichst schnell in die Rue Cabanis zu gelangen, nach Saint-Anne. Jo nahm sein Tun wieder auf, brachte die Planung zielstrebig zu Ende und eine gute Viertelstunde später näherte er sich in schnellen Schritten seinem Ziel. Zur Linken die Straße von Bäumen bestanden, hübsch indes nur der Baumbestand, die Straße selbst von dieser Titulierung weit entfernt. Hinter hohen Kastanien ragten um ein vielfaches höhere Wohnkasernen in den Himmel. Fenster reihte sich an Fenster, Zeile über Zeile, Gebäude an Gebäude soweit das Auge reichte. Zur Rechten dasselbe ohne Grün. Eine Straßenkreuzung, gegenüber ein parkähnliches Anwesen, über der Mauerkrone linste der Dachfirst einer Villa durch dichtes Blattwerk. Angespannt überquerte er die Rue, ging an der hochragenden Mauer entlang. Ein klassizistisches Portal, ein schmiedeeisernes Tor, ein schattiger Kiesweg hinein in den Park und endlich auch die baumbestandene Allee. Jo schnaufte erleichtert durch, tief, mehrfach, ein flüchtiges Strahlen huschte über sein Gesicht. Er konnte nicht umhin, die Hand über den hellen, glatten Stein streichen zu lassen. Alles würde gut werden jetzt. Entschlossen schob er das Tor auf und tat einige erste Schritte in den Park. Linker Hand ein flacher Pavillon, aus wesentlich neuerer Zeit als die übrigen Gebäude. In der kalten Modernität aus Stahl und Glas wollte er sich so überhaupt nicht in das Ensemble der historischen Gemäuer einfügen. Im Inneren saß ein Pförtner, wachsam jede Bewegung verfolgend.

»Nathan Messner?«, fragte Jo durch die Luke in das Aquarium hinein, worauf der Mann begann, überaus geschäftig in einem großen Folianten zu blättern. Die Stirn von Gewissenhaftigkeit in tiefe Falten gelegt, die Augen vor Eifer funkelnd, huschten flinke Finger über eng beschriebene Seiten, voller Zeilen und Spalten, voller Namen und Kürzel. Eine Buchhaltung! Eine Buchhaltung wovon?

Die suchenden Augen waren wohl fündig geworden. Sie folgten dem Zeigefinger nach rechts bis dieser stoppte, zitternd auf einem Feld verharrte, kniffen sich eng zusammen, als die Stirn sich in immer tiefere Falten legte, der Mann sich geräuschvoll räusperte, blieben noch aufs Papier gesenkt, als er einen Satz hervorstieß. Hastig. Knapp. Kaum mehr als zwei oder drei Worte konnten es gewesen sein. Nur zögerlich sahen die Augen von den Papieren auf, suchten Jo's. Der Blick eines Arztes, der hängenden Kopfes aus dem Not-OP trat und mit dem Körper mehr sprach als der Mund zu sagen vermochte.

»Psychiatrie, Station fermé«, sagte der Pförtner und senkte den Blick zurück auf seine Unterlagen. Ein Augenblinzeln später hob er ihn wieder, nachdem eine Stirn gegen die Scheibe des Aquariums gekippt war.

›1 … 2 … 3‹ Vom Leben angezählt stand Jo gegen das kühle Glas gelehnt. Nur Zentimeter vor ihm hockte Hiobs Diener, verkrochen in das Pförtnerhaus wie ein Arzt hinter medizinischen Fachausdrücken. ›4 … 5 … 6‹ Egal hinter was man sich versteckte, hinter dicken Scheiben aus Glas oder Worten, die nackte Tatsache blieb doch immer ein und dieselbe: Nathan lebte und doch war er tot, begraben hinter Gittern einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung für den Rest seines Lebens, für den Rest eines Rests Leben, das kein Leben mehr sein konnte. ›7 … 8 … 9‹ Benoît hatte Recht behalten, er hatte ihn gewarnt, er hatte es gewusst! Jo wirbelte herum, ein Schopf dunkler Haare wischte an seinem Gesichtfeld vorbei, der Besitzerin konnte er gerade noch ausweichen, ihrem Begleiter nicht mehr, krachte frontal in ihn hinein.

Jo stammelte eine Entschuldigung, der Mann fluchte, die Frau hielt den Kopf leicht gesenkt und sich die Hand vors Gesicht, ein Paar dunkler Augen, dunkel wie Eierbriketts lugten frech zwischen schlanken Fingern hervor. Linkisch begann Jo seine Siebensachen einzusammeln und in die Tüte zurückzustopfen, deren Griff war beim Zusammenprall abgerissen. Toilettenartikel, Wäsche, ein T-Shirt, ein Oberhemd, der gesamte Inhalt der Tüte lag auf dem Weg verstreut. Nein! … das Buch! … wo war das Buch? Wie irr drehte sich Jo im Kreis, hastete mal hierhin, mal dorthin, stand für einen kurzen Augenblick still, drehte die Tüte kopfüber, schüttelte den Inhalt in den Staub. Still und sanft, wie Herbstlaub aus den Bäumen, schwebte ein kleiner Fetzen Zeitungspapier zu Boden, rollte verspielt um die eigene Achse. Ein letzter Tanz mit der Luft, bevor es in den ewigen Kreislauf eintrat. Vergilbt war es, von der Sonne verbrannt, ausgelaugt von der Zeit. Behutsam, hob Jo es auf, fast zärtlich strich er die Falten glatt. Eine kurze Zeitungsmeldung, kaum mehr als eine Randnotiz. Die Augen überflogen die Überschrift und das Papier begann in der ruhigen Sommerluft des Nachmittags zu erzittern wie ein Blatt unter der Schwere eines Wintersturms. ›Les Morts du Vert Galant‹, lautete sie. Es folgte kaum eine Handvoll Zeilen, darin sich neben unverständlichen Worten auch drei Namen fanden. Der einer ihm unbekannten Frau, Feodore de Gaspard, der eines nie gehörten Ortes, Neuilly-sur-Seine, zu guter Letzt der eines wildfremden Mannes, wohlvertraut klingend: Paul Boeger.

›10!‹ dachte Jo, dann erloschen die Lichter und die Nacht fiel herab, als wollte sie ihn auf ewig unter sich begraben.

Am französischen Ende der Nacht

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