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7 | SEPT

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Es war ein Ort aus einer anderen, einer vergangenen Zeit, dieser alte Friedhof von Neuilly-sur-Seine, morbide schön.

Ein verwunschener Garten, Wege und Grünfläche atmeten Geschichte aus, die steinernen Zeugen darin zerfielen leise zu Staub, von moosbewachsenen hohen Säulen lächelten Engelsfiguren, denen Flügelspitzen fehlten, erhaben herab. Wie Skulpturen standen aufwendige Grabsteine in langen Reihen. Menschen schlenderten hindurch, andere saßen lesend auf Bänken in der Sonne, Schmetterlinge flatterten von Blume zu Blume, Eichhörnchen rannten die Stämme auf und ab, spielten Fangen. Ein stiller Ort, an dem Leben und Tod einander die Hände reichten.

Bangen Herzens schritt Jo die Reihen ab. Ein Großteil der Inschriften war nicht mehr zu entziffern, die Buchstaben von Generationen Wind und Wetter herausgewaschen aus dem Stein. Vereinzelt war noch ein Name, eine Jahreszahl zu enträtseln. Diese Gräber und Steine waren samt und sonders wesentlich älter als diejenigen, die Jo suchte. Die jüngsten entstammten dem Ende des zurückliegenden Jahrhunderts. Bereits auf dem Rückweg begriffen weckte eine schwarz gekleidete alte Frau sein Interesse. Reglos saß sie auf einer Bank, den Blick starr auf ein Grab gerichtet. Von einem unbestimmten Gefühl gestoppt unterbrach Jo seinen Gang, blieb in einiger Entfernung stehen. Die alte Frau erhob sich mühevoll, kam ganz bedächtig auf ihn zu, setzte einen Fuß vor den anderen, als müsste sie sich bei jedem neuerlich dazu überreden. Auf seiner Höhe angelangt

verlangsamte sich der bedächtige Schritt bis er zu einem bewegten Stehen geworden war. Aus dunklen Höhlen, dunkler als ihre Kleidung, sah sie ihm durchdringend ins Gesicht, löste die rechte Hand vom Griff der Handtasche, hob sie in der gleichen Bedächtigkeit, wie sie die Füße vorwärts trugen, Schritt für Schritt, nur dem Willen der Gewohnheit gehorchend, unwiderstehlich an Jo vorbei.

Er sah ihr den kurzen Weg bis zum Ausgang nach, dann ging er hinüber zur Bank, setzte sich nieder wo die alte Frau zuvor gesessen hatte, betrachtete was sie zuvor betrachtet hatte. Eine liegende junge Frau, in Stein gemeißelt, ein Strauß frischer Wiesenblumen lag in ihrem Arm. Eine gefühlte Stunde lang saß er dort, bevor er näher trat. Keine Inschrift. Kein Name. Kein Datum. Der Stein aber war längst nicht so angegriffen wie der der umstehenden Gräber. Weiß wie Schnee musste er gewesen sein. Nun war er grau und in den Faltenwürfen des steinernen Kleides hausten die ersten Flechten. Dahinter linsten verwitterte Holzstücke aus dem hohen Gras. Das bemerkenswerteste unter ihnen war gut einen halben Meter lang, am Ende spitz zulaufend, modrig schwarz, Klumpen Erde hafteten daran. Die Überreste eines Grabkreuzes. Keine Inschrift. Kein Name. Kein Datum. Schon im Gehen begriffen bemerkte Jo, dass der Steinmetz winzige Zeichen in den rückseitigen Sockel des Grabes geritzt hatte. Ein Name. Feodore de Gaspard. Alarmiert stapfte er durch das kniehohe Gras, durchmaß systematisch die ausgedehnte Grünfläche. In ihrer Mitte, ein gutes Stück vom Grab Feodore de Gaspard‘s entfernt, weit ab von Wegen und neugierig schlendernden Menschen, fand er, wonach er gesucht hatte. Ein schlichtes Kreuz, gekippt von der Zeit, von niemandem aufgerichtet. Der Schutzlack abgeblättert, das Holz grau, ausgelaugt, Namen und Daten zahlreiche Jahre nach der Erstellung schwerlich zu entziffern. Aber möglich. Paul Boeger. Nur drei Schritte entfernt ruhte ein zweites im Gras, dem ersten zum Verwechseln ähnlich. Jean Messner. Schwer atmend, die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt in die Hand gestützt, stand Jo inmitten des parkähnlichen Friedhofs und schaute in die Abgründe der Geschichte. Schmetterlinge flatterten von Blume zu Blume, Eichhörnchen rannten die Stämme auf und ab, spielten Fangen.

Er verließ den alten Friedhof von Neuilly-sur-Seine in dem Gefühl einer dreifachen Trauerfeier beigewohnt zu haben, fast vier Jahrzehnte nach deren tatsächlichem Stattfinden, insbesondere in der bestimmten Empfindung für zwei der Bestatteten in all den Jahren der erste Trauergast gewesen zu sein. Feodore de Gaspard, Paul Boeger, Jean Messner, gestorben am 12.06.1959. Am selben Tag. Warum hatte die Zeitung den Tod Jean Messner's nicht vermeldet, nur den seiner mutmaslichen Eltern? Es wurde immer verworrener. Wer war dieser Jean Messner? Der Vater von Nathan? Ein Freund seines Vaters Paul? Ein guter Bekannter seiner Mutter Feodore? Warum lagen die Gräber von Paul und Jean so weit von dem Feodore's entfernt? Warum gab es keine Inschrift an ihrem Grab? Wer war die Frau die davor gesessen hatte? Ihre Mutter? Hatte sie die Blumen hingelegt?

Fragen über Fragen über Fragen. Und je länger Jo lief desto mehr wurden es. Er nahm nicht die Métro, ließ den Eingang links liegen, spazierte lieber die schnurgerade Avenue Charles de Gaulle stadteinwärts. Mit ein wenig Phantasie konnte man am Horizont den Arc de Triomphe im Dunst der Stadt ausmachen. ›Moment mal! Halt! Stopp! Das ist ja nicht möglich!‹ Abrupt blieb Jo stehen. Mit Nathan teilte er das Aussehen, mit Paul den Namen. Ergo, Jean konnte nicht Nathans leiblicher Vater sein. Er konnte nur dessen Adoptivvater sein. Jo ging einige Schritte, blieb neuerlich stehen. Ein Gedanke hatte sich herangeschlichen, ganz still und ganz leise. ›Oder andersrum.‹

»Oder andersrum!«, sagte Jo vor sich hin und nahm seinen Gang wieder auf. Gemächlich, aber zielgerichtet. An der Porte Maillot betrat er den Untergrund, nahm die nächste Métro und fuhr bis Concorde, weiter bis Abesses. Von dort war es nur ein kurzes Stück Weg zum Square Willete, wo er Stunde um Stunde das Auftauchen eines dandylike gekleideten Strohhalms abwartete. Vergeblich.

Was hatte er erwartet? Etwa Benoît auf Anhieb zu finden? Paris war eine Großstadt, eine Metropole, kein Flecken auf der schwäbischen Alb, Häuschen gerade genug an der Zahl, um den Flecken zu einem Dorf zu machen. Zu einem Dorf mit achthunderteinunddreißig Einheimischen, die allesamt miteinander verwandt waren, mit Dorfschule samt Lehrer und seiner Familie. Dorfstraße Nr. 12, dort war er aufgewachsen, Haus Nr. 10 die Kirche, Nr. 12 die Schule, gleichzeitig das Haus des Lehrers. In der Heimat seiner Kindheit wäre es kein Problem gewesen Benoît zu finden. Fast musste Jo schmunzeln bei diesem Gedanken. Fast.

»Morgen wieder«, munterte Jo sich selbst auf, vernahm eine grummelige Stimme die ihn an ganz profane, menschliche Grundbedürfnisse erinnerte. Der Reiseführer pries einen Imbiss ganz in der Nähe in den höchsten Tönen an. Die lange Schlange Wartender schien ihm recht zu geben. Jo reihte sich geduldig in die Warteschlange, eine gute halbe Stunde später lobend in die Fangemeinde. In den Straßen des Montmartre wurde der Vorhang für den vierten Akt hochgezogen. Die Läden und Boutiquen leerten sich, deren Besitzer ließen die Rollgitter herunter, verriegelten die Schlösser und begaben sich in eine der ungezählten Bars, wo sich die Hetze des Tages so wundervoll in einem Glas Pastis auflösen ließ. In öligen Schlieren kreiste des Tages Hast im Glas - erst schnell, dann langsamer, letztlich träge, bevor sie sich gänzlich in einer flüssigen, stark nach Anis duftende Wolke verflüchtigte. Der Abend war bereitet, die Nacht konnte kommen. Nach fremden Gewürzen dufteten sie, nach scharf Gebratenem, nach Öl, nach Fisch und frischem Gemüse. Ansteckende Fröhlichkeit, die Lust am Leben füllte Straßen und Gassen, Stimmen und Musik schwirrten durcheinander, verwoben sich zu einem Netz, in das man sich fallen lassen konnte, dem schwerlich zu entrinnen war, von dem Jo sich gern gefangen nehmen, die muffigen Gedanken zerstreuen ließ. Seit vier Tagen sprach er ausschließlich mit einem Partner, dessen Gesprächen er mittlerweile reichlich überdrüssig war: sich selbst.

Ziellos stromerte er durch die Altstadtgassen, immer der Nase nach. Unversehens verfing sich ein süßlich-schwerer Duft darin. Eindeutig ein Parfum, ein Damenduft, elegant und markant und exklusiv, so exklusiv wie dessen Trägerin.

Ein Spiel. Ein Spiel, aus auf- und abtauchen, aus führen und geführt werden, aus streifenden Blicken und Gesten, aus unschuldigen Andeutungen, das Spiel der Verführung. Einige zeitlang währte dieses Spiel, führte von übervollen Straßen in zunehmend menschenleere, von pulsierenden Boulevards in verschlafene Ruen, von taghellem Schein in das schummrige Zwielicht einer Passage hinein, bevor es an deren Ende endete. Eben noch war die Galerie erfüllt vom Klang ihrer Schritte, dem luftig leichten Gang auf hohen Hacken. Nun war sie verschwunden. Jo stand im Licht des Abends, suchte die Rue ab, sie war verschwunden, war wie vom Erdboden verschluckt, spurlos, hatte ihm nur den Klang ihres Gangs zurückgelassen.

Am französischen Ende der Nacht

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