Читать книгу Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder, Christian Friedrich Hebbel - Страница 136

III.

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Inhaltsverzeichnis

Die Empfindbarkeit der Griechen zu sanften Thränen, ist zu sehr bekannt in Aeußerungen, als daß man, wie Herr Leßing ein einzelnes Beispiel, und dazu aus einer bloßen Vermuthung1 nehmen dörfte, die hier vielleicht nicht beweiset, was sie beweisen soll. Griechen und Trojaner sammlen ihre Todten. Beide vergießen heiße Thränen; aber den Trojanern verbietet dieß Priamus. Warum verbietet ers ihnen? Er besorgt, sagt die Dacier, sie würden sich zu sehr erweichen, und morgen mit wenigerm Muth an den Streit gehen. »Warum aber, fragt Herr Leßing, muß nur Priamus dieses besorgen? Der Sinn des Dichters geht tiefer. Er will uns lehren, daß nur der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer seyn könne; indem der ungesittete Trojaner, um es zu seyn, alle Menschlichkeit vorher ersticken müsse.« Zu hart für die armen Trojaner! Kann Priamus nicht ihren Thränen Einhalt thun wollen, nicht aus ungesitteter Barbarei, sondern weil die Thränen der Trojaner, seiner Kinder, fressender waren, als die Thränen der Griechen. Diese waren Angreifende, und stritten um der Ehre wegen; ihnen wards also leichter, neuen Muth zu fassen, und Agamemnon brauchte deßwegen keine Besorgniß. Die Trojaner aber litten: sie waren Angefallene, die nicht der Ehre so wohl als der Sicherheit, ihres Lebens wegen stritten,2 die sich in Bedrängniß fühlten, und halb in Verzweiflung, eines Räubers wegen, ihre Kinder und Männer verlieren, eines Räubers wegen die Ihrigen begraben mußten. Hier empörten sich die Empfindungen der Bedrängten, hier flossen heiße Thränen der murrenden Unschuld. Und Priamus ließ sie nicht weinen! Warum? weil er ein ungesitteter Barbar war, und seine Trojaner als solche kannte, die nicht zugleich weinen und streiten könnten? Wie wenn er sie zurückgehalten hätte, als ein Vater seiner unglücklichen Stadt, und seines unglückbringenden Sohns? damit sie nicht in einem Schicksale, das ihm selbst so zu Herzen gieng, gar murren oder verzweifeln möchten? – Doch wenn das auch nicht: noch sind die Trojaner keine Lappländer, keine Scythen: denn sie weinen ja um die Ihrigen, und Priamus befürchtet eben ein zu weiches Herz, zu tief einfressende Thränen. Gerade also das Gegentheil! – Doch aus solchen Deutungen kann man immer machen, was man will, und eine bloße Allegorie; »der Sinn des Dichters geht tiefer,« kann uns endlich so tief führen, daß der Boden sinkt.

Die ganze Dichtkunst der Griechen hat zu viel Spuren dieser Empfindbarkeit ihrer Nation zu Schmerz und Thränen, als daß man bloß muthmaßen dörfte, und sie ist einem großen Theile nach gleichsam ein ganzer lebender Abdruck dieses Gefühls, dieser weichen Seele. Lasset uns diesen Theil die elegische Poesie nennen; aber niemand verstehe hier unter diesem Namen jenen hinkenden Affen, der sich nach unsern weisen Lehrbüchern der Poesie bloß im Sylbenmaas unterscheiden soll: sondern Elegie sei mir hier die klagende Dichtkunst, die versus querimoniae nach Horaz, sie mögen sich finden, wo sie wollen, in Epopee und Ode, in Trauerspiel, oder Idylle; denn jede dieser Gattungen kann Elegisch werden. In solchem Verstande hat die Elegie ein eignes Gebiet in der Menschlichen Seele, nämlich die Empfindbarkeit des Schmerzes und der Betrübniß: man kann also aus ihr über Völker und Zeiten hinaus sehen, und hier wird sich durch Vergleichungen auch die den Griechen eigne Stelle finden. Ich stecke einige Gesichtspunkte ab.

1. Nicht jedes Volk hat für milde Betrübnisse ein gleich zartes Herz; bei manchem haben selbst die Klagen eine rohe Vestigkeit, ein Heldenmäßiges Brausen, in welches sie verschlungen werden, und ein solches wird, bei sonst großen Dichtern, mit der Sprache dieser weichen Thränen sehr unbekannt seyn können. So die nordischen Skandinavier, die auch bei Trauerfällen vom Heroismus gestält, kaum kurze Seufzer ausstießen und – schwiegen; wenn sie sangen, so war ihr Gesang kaum die milde Elegische Thräne.

Der König Regner Lodbrog stirbt3: er stirbt unter den entsetzlichsten Schmerzen. Stirbt er in Elegien? Läßt er der gequälten sterbenden Menschheit, dem von seinen Söhnen entfernten brechenden Vaterherze sein Recht wiederfahren? Eine einzige weiche Thräne hätte den Nachfolger Odins entweihet. Er stirbt im Triumphsliede, im Andenken an seine Thaten, voll Heldenfreude, voll Rache, voll Muth, voll himmlischer Hoffnung. »Wir haben mit Säbelstreichen gefochten, so endet sein Gesang, o wüßten meine Söhne die Plagen, die ich erdulde; wüßten sie, daß giftige Nattern mir den Busen zerfleischen – wie heftig würden sie sich nach grausamen Schlachten sehnen! Denn die Mutter, die ich ihnen gab, hat ihnen ein männliches Herz hinterlassen.

Wir haben mit Säbelstreichen gefochten; doch jetzt – nahet sich mein letzter Augenblick. Bald wird das Schwert meiner Söhne ins Blut des Ella getaucht seyn: ihr Zorn wird entflammen, und diese muthige Jugend die Ruhe nicht weiter dulden.

Wir haben mit Säbelstreichen gefochten in ein und funfzig Schlachten, wo die Fahnen flogen. Von meiner Jugend an lernte ich, die Spitzen der Lanzen mit Blute färben, und nie hätte ich einen tapferern König, als ich bin, zu finden geglaubt. – Aber es ist Zeit, aufzuhören: Odin sendet schon die Göttinnen mich in seinen Pallast zu führen. Da werde ich auf dem erhabensten Platze sitzend Bier mit den Göttern trinken. Die Stunden meines Lebens sind verflossen, ich sterbe lächelnd! –« Das beste Beispiel zu Herrn Leßings Bemerkung über den harten nordischen Heldenmuth.

Ein anderes aus einer der besten kritischen Schriften4 unsrer Zeit. Aßbiørn Prude, der heldenmüthige Däne, in den Händen seines Feindes, der mit langsamer Wuth in seinen Eingeweiden wühlet – wehklaget er, seufzet er? Er denkt an seine Mutter, an alle Freuden seiner Jugend, und seines männlichen Alters; er fühlt seine ganze Pein, aber als Held: so stirbt er. – So stirbt der Eskimaux5 an seinem Marterpfal. Freund, und Vaterland, Kinder und Mutter, alles, was ihm auf seiner Welt das liebste ist, ruffet er in seinem Sterbegesange; aber, um über sie zu weinen, um den Zoll der Menschlichkeit zu entrichten? Eine einzige weiche Thräne würde den Helden, sein ganzes Geschlecht, und seinen Freund und sein Vaterland entehren. Kein Ach also entwischt ihm, selbst unter den grausamsten Schmerzen: gesenget und gebrannt singt er seinen Martergesang. Er wird zum desto langsamern Tode losgebunden, und – raucht mit Scherz und Spott seine Pfeife Tobak mit andern: die Martern fangen wieder an; er spottet, schweigt, wird ihr Lehrer in neuen Qualen, singt und stirbt im Triumphe. So der Eskimaux!

Wo also das Herz eines Volkes Kieselstein ist: da schlägt der heftigste Schmerz, er treffe nun Leib oder Seele, nichts als heroische Funken; denn woher sollte dem Kieselstein eine zarte Elegische Thräne kommen? Der Heldennmth, die Liebe zum Vaterlande, und zum Ruhme seines Stammes, das heroische Bündniß mit seinem Freunde, der sein Rachengel seyn soll: die ganze Bildung einer rohen und starken Natur zum unerschütterten Nachfolger Odins und anderer thränenlosen Helden, die ihrem Volk, ihrer Republick, eben den Geist der Tapferkeit einflößen – dieß alles betäubte Menschlichkeit und Gefühl und Thränen.

2. Nun laßt diesen Heldenmuth, diese Liebe zum Vaterlande, und zum Ruhme seines Stammes, dieß Gefühl für Freundschaft, und die unverhüllte Offenheit der Seele – laßt diese edle und große Gesinnungen sich alle ohne solche Verschanzung und Verhärtung äußern: die größte Tapferkeit wird sich alsdenn immer als die empfindbarste Menschheit zeigen. »Nach ihren Thaten werden solche Leute Geschöpfe höherer Art seyn; nach ihren Empfindungen Menschen.«

Und sollte es nur unter den Griechen diese Doppelgeschöpfe höherer Art, diese Heldenmenschen, diese Semonen gegeben haben? Und unsre Ureltern wären Barbarn, und alle nordische Barbarn in diesem Stück Unmenschen gewesen? Menschliches Gefühl muß jedem einwohnen, der ein Mensch ist; es muß, wo es erstickt, wo es in rohe Tapferkeit verschlungen werden soll, erst von tausend Beispielen, von einem großen unter einer Nation lebenden Vorbilde, von dem ganzen Geiste des Volks, und durch alle Eindrücke der Erziehung von Jugend auf gewaltig bestürmt, und dahin endlich gerissen werden, daß es mit diesen Beispielen wetteifre, daß es diesem großen Vorbilde, das den Geist dieses Volks bestimmet, folge. Wo dies nicht ist: da wird sich die unverhüllte Natur zeigen; die Empfindungen der Menschheit werden sich in ein Heldengewand kleiden, und der Sinn des Helden sich wiederum der menschlichen Thräne nicht schämen – es sei unter einem Volke, wo es wolle!

Und wie? wenn wir ein solches Volk auch mitten unter nordischen Gebirgen; mitten unter Barbarn, selbst unter dem Namen eines Barbarischen Volks begriffen, und mit nichts als Kriegen beschäftigt, auffänden? und welches doch gleich fern von Griechenland, als von seinen Sitten, alle die menschliche Empfindbarkeit zeigte, die kaum ein Grieche gezeigt hat – bliebe da noch der Gegensatz so ganz vest: »Unsere nordische Urältern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegen sehen, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuths. Nicht so der Grieche!«6 Wenn ich nun hier einfiele und fortführe: »Nicht so der Schotte, der Celte, der Irre! er äußerte seine Schmerzen und Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege zur Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten.« So hätte ich für meine Barbarn alles gesagt, was L. von seinen Griechen, im Contrast mit den nordischen Barbarn, und doch für meine nordische Barbarn noch nicht gnug.

Ich kenne kein Poetisches Volk der Erde, welches große und sanfte Empfindungen, so sehr in Eine Gesinnung verbunden, und in Einer Seele den Heroismus des Helden- und Menschengefühls so ganz gehabt hätte, als die – alten Schotten, nach Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Gesänge. Eine sichere Maasgabe, da die Ursprünglichkeit dieser Lieder bewiesen, und das ganze Leben der Nation bekannt ist, als ein Leben, das unter Thaten, Empfindungen und Gesängen verstrich, und wo die Gesänge eben zu nichts bestimmt waren, als diese Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies also vorausgesetzt: und in jedem Bardenliede zeigt sich ein Volk, dessen Seele ganz der Tapferkeit und einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, dessen Denkart überhaupt von einem Heldenernst eine gewisse Melancholische Farbe erhalten, und diese auch auf seine weichen Empfindungen verbreitete. Die meisten Stücke der hersischen Dichtkunst kann ich nicht besser, als feierliche Trauergesänge nennen, an die nichts im Alterthume, und was diese Seite des Gefühls betrift, selbst nichts im griechischen Alterthume reicht.

Schilrick7 scheidet von seiner geliebten Vinvela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er verläßt sie: sie bleibt allein: er wird vielleicht fallen; aber Vinvela wird sein gedenken. Ich kenne kein Stück, das an Süßigkeit der Liebe, und an Entschlossenheit des Scheidenden einen solchen Abschied, zwoer so edlen und so fühlbaren Personen, mit fünf Worten des Dialogs so rührend besänge. Ich nehme Leßingen seine Worte auf die Griechen: »Hier der Schotte! Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer: er schämte sich keiner seiner menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten.« Und dieser Schotte war ein Barbar von einem nordischen Gebirge.

Schilrick trauret um seine entfernte Vinvela:8 sie erscheint, sie spricht im sausenden Lüftchen: »Ich hörte von deinem Tode: ich hörte und trauerte um dich, Schilrick. Vor Gram um dich gab ich den Geist auf. Schilrick, ich liege erblaßt im Grabe.« »Sie flieht, sie fährt davon, wie der graue Nebel im Winde. Schilrick klagt sie: die sanfteste, feierlichste Elegie der Liebe! – Nur ein Schotte, würde ich im Leßingschen Enthusiasmus sagen, nur ein Schotte kann zugleich weinen und tapfer seyn!«

Was geht über das Gedicht: Colma, Comala:9 an Wahrheit und Einfalt, an Süßigkeit und Hoheit, an Stärke und Zartheit der Gedanken, der Empfindungen, des Ausdrucks, an Inhalt und Einkleidung; was geht an allem diesem über die Elegischen Liebesgesänge dieser Nation, die sich durch nichts, als an Bardenliedern voll tragischer Heldenthaten und voll tragischer Heldenliebe ergötzten? Nichts, selbst aus dem griechischen Alterthume nichts! Die Liebe der Griechen, ihre sanften Empfindungen und Klagen, sind weicher und wortströmend, wenn ich sie mit diesen Barbarn vergleiche, bei denen die Liebe in stolzer, in heldenstolzer Seele wohnte, sich zu einer sanften Schwärmerei, zu einer erhabnen Heldenzärtlichkeit hob, und auch in den Elegien der Liebe durch große Gesinnungen rühret, und bezaubert. Die gewässerten Klagen unsrer Elegisten ermüden mein Ohr; aber dort, in diesem feierlichen Alterthume, dort tönet eine Melancholie der Liebe, die uns lehret, daß »nicht blos der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer seyn könne,« der barbarische Schotte könne es besser.

Vielleicht aber war dies nur so mit Einer Empfindung der Menschlichkeit, indeß alle andre von Tapferkeit erstickt werden mußten? Wie kann doch Eine Statt finden, ohne zugleich Allen Raum zu machen? Die Elegische Stimme der Schotten ist in der Vater-in der Geschlechtsliebe eben so süß und tapfer, als in der Weiberliebe. Man weiß, was in den alten Zeiten der Ruhm des Stammes galt: eine Empfindung, die bis auf den dummen Ahnenstolz aus den Seelen unserer Zeiten weggeschwemmt zu seyn scheinet. Wo fließen edlere Thränen, als wenn der Sohn Fingals, Ossian,10 das Andenken seiner Söhne und seines Vaters, ihrer Thaten und ihres Todes erneuret – wo sind edlere Thränen, als diese auf den Wangen des Greises, der »gleich einer alten Eiche dasteht: aber der Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe bei den Flügeln des Nords. Allein, allein soll ich an meinem Orte zu Staube werden.« So klagt der tapfere Ossian, und so läßt derselbe den Arnim, so den grauhaarigen Carryl klagen: so klagen die Helden, die Väter ihrer Stämme. Alle Empfindungen der Helden und der Menschen, z.E. Vaterlands- und Geschlechter- Freundes- und Weiber- und Menschenliebe – alle leben in den Gedichten dieses Volks, wie in Abdrücken ihrer Seele.

Und so war es wohl nicht der Grieche allein, der zugleich weinen und tapfer seyn konnte.11 So war nicht jeder, der Barbar heißt, der in einem rauhen Klima wohnte, und die Bildung der Griechen nicht kannte, von der Art, »daß er, um tapfer zu seyn, alle Menschlichkeit ersticken müßte.« So lag es also wohl nicht an der National-Seele, am Temperament, am Clima, am Gesittetseyn der Griechen, wenn sie beides verbanden: Und so müssen also andre Gründe seyn, die diese Mischung von Heldenthum und Menschlichkeit bei ihnen und bei den Barbarn hervorbrachten, oder nicht hervorbrachten. Sollten uns diese Gründe nicht auf den Weg bringen: worinn und woher auch die Griechen so empfindbar gewesen?

1 Laok. p. 7.

2 Χρειοῖ ἀναγκαίῃ, πρό τε παίδων καὶ πρὸ γυναῖκων. Iliad ϑ, 57.

3 Mallets Geschichte von Dännem. p. 112. 113.

4 Briefe über die Merkwürd. der Litterat. p. 112. 113.

5 Geschichte von Amerika, Th. I. p. 404.

6 Laok. p. 6.

7 Fragmente der alten Hochschottl. Dichtk. p. 1.

8 Ebendas. p. 4.

9 Ebenbas. p. 81.

10 Eben das. p. 17. 21 u.s.

11 Laok. p. 6.

Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang

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