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ACHTE HOMILIE. * Kap. III, V. 9—31. *

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1.

Kap. III, V. 9—31.

V. 9: „Wie nun? Haben wir etwas voraus? Ganz und gar nicht. Wir haben ja schon oben bewiesen, daß alle, Juden und Heiden, unter Sünde stehen“, V. 10: „wie geschrieben steht: Nicht einer ist gerecht“, V. 11: „nicht einer ist verständig, nicht einer sucht Gott.“ V. 12: „Alle sind abgewichen, allesamt taugen nichts, keiner handelt recht, auch nicht einer.“ V. 13: „Ein offenes Grab ist ihr Schlund, mit ihren Zungen reden sie trägerisch, Natterngift birgt sich hinter ihren Lippen“; V. 14: „von Flächen und Gehässigkeiten ist voll ihr Mund“; V. 15: „ihre Füße sind eilig, Blut zu vergießen“; V. 16: „Leid und Elend ist auf ihren Wegen“; V. 17: „den Weg des Friedens kennen sie nicht.“ V. 18: „Gottesfurcht ist nicht vor ihren Augen.“

Angeklagt hat der Apostel die Juden, angeklagt die Heiden. Es erübrigt nun zu sprechen von der Gerechtigkeit durch den Glauben. Denn wenn das Naturgesetz nichts nütze war noch auch das geschriebene mehr leistete, sondern wenn beide die, welche danach lebten, nur mehr belasteten und nur umso strafwürdiger erscheinen ließen, dann blieb notwendig nichts übrig als das Heil aus Gnade. Sprich uns also davon, Paulus, und zeig’ es uns! Aber noch traut er sich nicht, weil er die Frechheit der Juden kennt. Er bringt darum die Rede wieder auf die Anklagen gegen sie. Er führt zunächst David als Ankläger vor, der weitläufig dasselbe sagt, was Isaias alles in Kürze vorbringt. Damit legt er ihnen einen gewaltigen Zaum an, damit sie nicht aus können und damit keiner seiner Zuhörer, wenn die Rede auf den Glauben kommen wird, sich ihr entschlagen könne, weil im vorhinein festgenommen durch die Anklagen der Propheten. Drei Vorwürfe sind es, die ihnen der Prophet macht: daß sie alle Böses getan hätten; daß sie nicht einmal ab und zu etwas Gutes getan, sondern nur reine Bosheit verübt hätten, und daß sie dies alles mit aller Absicht getan hätten. Ferner, damit sie nicht sagen könnten: „Wie, wenn etwa das auf andere gemeint ist?“ fährt er fort:

V. 19: „Wir wissen aber, daß alles, was das Gesetz sagt, zu denen gesprochen ist, die unter dem Gesetze stehen.“

Darum führt er nach Isaias, der nach ihrem eigenen Zugeständnis gegen sie aufgetreten war, David an, um zu zeigen, daß dessen Worte dieselbe Folgerung zulassen. Was lag denn für eine Notwendigkeit vor, will er sagen, daß der Prophet, der zu eurer Besserung gesandt war, andern Vorwürfe mache? Und auch das Gesetz war nicht anderen gegeben, sondern euch. Warum sagt er aber nicht: „Wir wissen, daß alles, was der Prophet sagt, sondern; „was das Gesetz sagt“? Weil Paulus das ganze Alte Testament „Gesetz“ zu nennen pflegt. So sagt er an einer andern Stelle: „Hört ihr nicht das Gesetz, daß Abraham zwei Söhne hatte?“ 94 Hier nennt er die Psalmen Gesetz, indem er spricht: „Wir wissen, daß alles, was das Gesetz sagt, zu denen gesprochen ist, die unter dem Gesetze stehen.“ — Dann zeigt er, daß das nicht bloß der Anklage wegen gesagt sei, sondern wieder zu dem Zwecke, damit das Gesetz dem Glauben den Weg bahne. Darin stimmen Altes und Neues Testament zusammen, daß die Anklagen und Vorwürfe überhaupt dazu erhoben werden, damit dadurch bei den Hörern dem Glauben eine herrliche Pforte eröffnet werde. Da nämlich den Juden gerade ihre hohe Meinung von sich selbst zum Verderben war — dasselbe sagt er weiter unten: „Da sie die Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen, und bloß ihre eigene aufrecht erhalten wollen, so unterstellen sie sich nicht der Gerechtigkeit Gottes 95 —, so haben Gesetz und Propheten im voraus ihren Stolz gefällt und ihre Einbildung niedergehalten, damit sie zur Einsicht ihrer eigenen Sünden kämen, ihre ganze Anmaßung ablegten und, sich der äußersten Gefahr bewußt, mit aller Bereitwilligkeit dem entgegeneilten, der ihnen Hinwegnahme ihrer Sünden brachte, und Gnade erlangten durch den Glauben. Das deutet Paulus auch hier an, wenn er spricht: „Wir wissen, daß alles, was das Gesetz sagt, zu denen gesprochen ist, die unter dem Gesetze stehen,

damit jeglicher Mund zum Schweigen gebracht werde und die ganze Welt Gott (auf Gnade und Ungnade) anheimgegeben werde.“

— Hier zeigt er nämlich, daß die Juden gar nicht Ursache haben, sich auf ihre (guten) Werke zu verlassen, und daß sie nur mit Worten unverschämt prahlen. Darum gebraucht er auch passend die Redewendung: „damit jeder Mund zum Schweigen gebracht werde“; er drückt damit aus ihre unverschämte, grenzenlose Prahlerei und das geflissentliche Zügeln ihrer Zunge; denn wie ein nicht eingedämmter Strom ließ sie sich gehen; aber der Prophet brachte sie zum Schweigen. Wenn Paulus sagt: „Damit jeder Mund zum Schweigen gebracht werde“, sagt er nicht, daß sie darum gesündigt hätten, damit ihr Mund zum Schweigen gebracht werde, sondern sie seien darum gescholten worden, damit sie nicht vergessen sollten, daß sie eben damit gesündigt hatten.

„Und damit die ganze Welt Gott (auf Gnade und Ungnade) anheimgegeben werde.“ Der Apostel sagt nicht: „der Jude“, sondern: „die ganze Welt“; denn der Satz: „damit jeglicher Mund zum Schweigen gebracht werde“ ist auf jene (die Juden) gemünzt, wenn es auch nicht offen ausgesprochen wird, damit die Rede nicht zu herb ausfalle. Das andere aber: „Damit die ganze Welt sich vor Gott schuldig gebe“, ist sowohl von den Juden wie auch von den Heiden gesagt. Es trägt dies nicht wenig dazu bei, dem Hochmut jener (der Juden) einen Dämpfer aufzusetzen, wenn sie auch hier keinen Vorzug bekommen vor den Heiden, sondern in gleicher Weise als verloren erklärt werden gemäß der Heilslehre (des Neuen Bundes). „Auf Gnade und Ungnade anheimgegeben“ (ὑπόδικος) wird eigentlich nur jener genannt, der außerstande ist, sich selbst zu verteidigen, sondern der Hilfe eines andern bedarf. Das war ja der Zustand von uns allen: Wir waren verloren in bezug auf unser Seelenheil.

V. 20: „Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ 96.

Wieder versetzt der Apostel dem Gesetz einen Hieb, freilich mit Schonung. Denn das Gesagte ist keine Anklage gegen das Gesetz, sondern gegen die leichtfertige Auffassung desselben durch die Juden. Gleichwohl zielt er hier darauf ab, nachzuweisen, daß es stark an innerer Schwäche leide, weil er ja später die Rede auf den Glauben überleiten will. Wenn du auf das Gesetz stolz bist, will er sagen, so gereicht dir dasselbe vielmehr zur Beschämung. Er sagt das aber nicht so scharf, sondern wieder mild: „Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Also ist auch die Strafe größer, aber durch die Schuld der Juden. Denn das Gesetz trug dazu bei, dich die Sünde erkennen zu lassen. Deine Sache war es, sie zu fliehen. Hast du sie nun nicht geflohen, so hast du deine Strafe nur erschwert, und der Wegweiser „Gesetz“ hat dich nur auf den Weg zu größerer Bestrafung geführt.

2.

Nachdem nun der Apostel die Furcht gesteigert hat, kommt er im folgenden auf die Gnade, und nachdem er ein großes Verlangen nach Sündenvergebung geweckt hat, sagt er:

V. 21: „Jetzt aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeit von Gott geoffenbart worden.“ Etwas Großes spricht er hier aus, etwas, das einer langen Auseinandersetzung bedarf. Denn wenn die der Strafe nicht entgingen, welche unter dem Gesetze lebten, ja sogar eine noch schwerere Belastung davon hatten, wie kommt es, daß man ohne Gesetz nicht bloß der Strafe entgehen, sondern auch gerecht werden kann? Zwei Hauptpunkte stellt er hier auf: Gerechtfertigt werden und ohne Gesetz eines solchen Gutes teilhaftig werden. Darum sagt er nicht einfach „Gerechtigkeit“, sondern „Gerechtigkeit von Gott“; aus der Würde der Person macht er klar sowohl den größeren Wert des Geschenkes als auch die Möglichkeit, es zu gewähren; denn Gott ist ja alles möglich. Auch sagt er nicht: „sie wurde gegeben“, sondern: „sie wurde geoffenbart“; damit vermeidet er den Vorwurf, daß es sich um etwas Neues handle. „Geoffenbart“ besagt nämlich, daß etwas von früher her da ist, aber verborgen war und nun zur Schau gestellt wird. Doch nicht allein das, sondern auch die folgenden Worte drücken aus, daß es sich um nichts Neues handle. Nachdem er nämlich gesagt hat: „sie wurde geoffenbart“, fährt er fort:

„bezeugt vom Gesetz und den Propheten“

— Laß dich nicht dadurch beunruhigen, will er sagen, daß die Gerechtigkeit von Gott erst jetzt gegeben wurde, und laß dich nicht irremachen (durch die Meinung), als sei sie etwas Neues und Fremdartiges; haben von ihr ja doch Gesetz sowohl wie Propheten im voraus gesprochen. Zum Teil hat er es durch die vorausgegangene Auseinandersetzung klar gemacht, zum Teil will er es erst tun. Oben hat er den Habakuk angeführt, der da spricht: „Der Gerechte wird leben aus dem Glauben“ 97; weiter unten wird er Abraham und David uns dasselbe sagen lassen. Denn das Wort dieser Persönlichkeiten galt bei den Juden viel; war ja der eine Patriarch und Prophet, der andere ein König und Prophet, und beiden war die frohe Botschaft (von der Gnade im Neuen Testament) zuteil geworden. Darum tut auch Matthäus am Anfang seines Evangeliums beider zuvörderst Erwähnung, und dann erst führt er die Stamm- eltern nach der Reihenfolge auf. Nachdem er nämlich gesagt hat: „Buch der Abstammung Jesu Christi“, nennt er nach Abraham nicht gleich den Isaak und Jakob, sondern sofort nach Abraham erwähnt er David; dabei ist auffallend, daß er vor Abraham den David setzt, indem er so sagt: „des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“; und dann beginnt er aufzuzählen den Isaak, den Jakob und alle die folgenden. Darum führt sie auch hier der Apostel ausdrücklich an und sagt: „Gerechtigkeit von Gott, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“. Damit aber niemand sage: „Wie sollen wir gerettet werden, ohne selbst dazu etwas mitgewirkt zu haben?“ zeigt er, daß auch wir nichts Geringes dazu beigetragen haben, ich meine den Glauben. Nachdem er also gesagt hat: „Gerechtigkeit Gottes“, fährt er fort:

V. 22: „Durch den Glauben für alle und über alle, die da glauben.“

Hier könnte wieder der Jude in Aufregung geraten, da er keine Vorzugsstellung neben den andern bekommt, sondern einfach der ganzen übrigen Welt beigezählt wird. Um dies zu vermeiden, schreckt ihn der Apostel wieder mit Furcht, indem er fortfährt:

*„Denn es ist kein Unterschied.“

V. 23: „Denn alle haben gesündigt.“ *

Sag’ mir also nicht: Der ist ein Grieche, der ein Skythe, der ein Thrakier. Wir befinden uns alle in derselben Lage. Magst du auch das Gesetz überkommen haben, so hast du aus dem Gesetze nur eins gelernt, (nämlich) die Sünde zu erkennen (d. h. zu erkennen, was Sünde ist), nicht aber, ihr zu entgehen. Damit die Juden ferner nicht sagen können: „Wenn wir auch gesündigt haben, so doch nicht so wie jene“, fährt er fort:

„und entbehren alle des Ruhmes vor Gott“

— Hast du auch nicht genau so gesündigt wie andere, so entbehrst du doch genau so des Ruhmes vor Gott; denn du gehörst einmal unter die, welche (Gott) beleidigt haben; solchen aber gebührt nicht Ruhm, sondern Beschämung. Aber fürchte dich nicht! Ich habe das gesagt, nicht um dich in Verzweiflung zu stürzen, son- dern um dir die Barmherzigkeit des Herrn kundzutun. Er fährt daher fort:

*V. 24: „Gerechtfertigt geschenkweise durch seine Gnade, durch die Erlösung in Christo Jesu“,

V. 25: „den Gott im voraus bestimmt hatte zum Sühnopfer durch den Glauben in seinem Blute zum Erweis seiner Gerechtigkeit.“ *

Beachte, durch wie vielfache Beweisgründe er das, was er gesagt hat, bekräftigt! Den ersten Beweisgrund nimmt er her von der Würde der Person; denn nicht ein Mensch ist der, welcher solches bewirkt, daß ihm die Kraft dazu fehlen könnte, sondern Gott, der alles vermag; von Gott ist ja die Gerechtigkeit, sagt er. Den zweiten nimmt er her vom Gesetz und den Propheten. Erschrick nicht, wenn du hörst „ohne Gesetz“! Denn im Gesetze selbst ist im Schatten dasselbe enthalten. Den dritten (Beweisgrund) nimmt er her von den Opfern des Alten Bundes; deswegen sagt er: „in seinem Blute“; damit erinnert er sie an die damals geopferten Schafe und Kälber. Denn wenn das Schlachten unvernünftiger Tiere, will er sagen, von Sünden lösen konnte, um wieviel mehr wird es dieses Blut imstande sein. Er sagt auch nicht einfach „Lösung“ (λυτρώσεως), sondern „Erlösung“ (ἀπολυτρώσεως) als wollte er andeuten, wir sollten nicht mehr in dieselbe Knechtschaft kommen. Auch „Sühnopfer“ nennt er ihn deswegen, weil er ausdrücken will, daß, wenn das Vorbild solche Kraft hatte, die Wahrheit dieselbe Wirkung in viel höherem Maße haben werde. Um wieder auszudrücken, daß es sich dabei um nichts Neues und Nie-Dagewesenes handle, sagt er, es sei „im voraus bestimmt“ gewesen; und zwar sagt er: „Gott hatte ihn im voraus bestimmt“, und zeigt damit an, daß es ein Werk des Vaters sei, in gleicher Weise aber auch eins des Sohnes. Der Vater hatte es im voraus bestimmt, und der Sohn hat das Ganze mit seinem Blute zur Vollendung gebracht. — „Zum Erweis seiner Gerechtigkeit.“ Was heißt: „Erweis der Gerechtigkeit“? Gleichwie (bei Gott) „Erweis seines Reichtums“ besagt, daß er nicht bloß selbst reich sei, sondern auch andere reich mache, „Erweis des Lebens“, daß er nicht bloß selbst lebe, sondern auch Tote zum Leben erwecke, und „Erweis seiner Kraft“, daß er nicht bloß selbst Kraft besitze, sondern auch Schwachen Kraft verleihe: so besagt „Erweis seiner Gerechtigkeit“, daß er nicht bloß selbst gerecht ist, sondern auch andere, die im Sündenelend liegen, im Augenblick gerecht machen könne. So deutet der Apostel selbst, was unter „Erweis“ zu verstehen sei, wenn er fortfährt:

V. 26: „damit er selbst gerecht sei und gerecht mache den, der den Glauben hat an Jesus.“

3.

Also nur nicht unschlüssig sein! Nicht aus den Werken (nämlich des alttestamentlichen Gesetzes), sondern vom Glauben (kommt die Rechtfertigung). Auch der Gerechtigkeit, die von Gott kommt, ja nicht ausweichen wollen! Denn zweifach ist das Gute an ihr, einmal daß sie leicht zu erwerben ist, und dann, daß sie allen zugänglich ist. Auch kein Sichschämen und kein Erröten! Denn wenn Gott selbst ankündigt, was er an dir tun will, ja wenn er sich, sozusagen, eine Ehre daraus macht und sich’s zum Ruhme gereichen läßt, warum sollst du dich dessen schämen und das zu verbergen trachten, was dein Herr sich zur Ehre rechnet? — Nachdem der Apostel also im Zuhörer den Mut gehoben hat, indem er das, was früher geschehen ist, einen Erweis der Gerechtigkeit Gottes nennt, drängt er wieder den, der lässig und säumig ist, zu kommen, durch Furcht dazu, indem er spricht:

„Wegen unserer eigenen Ohnmacht infolge der früher geschehenen Sünden.“

Beachte, wie der Apostel die Juden beständig an ihre Verirrungen erinnert! Oben sagt er: „Denn durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde“; dann wieder: „Alle haben gesündigt“; hier aber tut er es noch kräftiger. Er sagt nämlich nicht: „wegen der Sünden“, sondern: „wegen der Ohnmacht“ 98 d. i. des todähnlichen Zustandes (infolge der früheren Sünden). Es gab nämlich gar keine Hoffnung mehr, (aus eigener Kraft) gesund zu werden, sondern wie ein gichtgelähmter Körper einer Hand von oben bedarf, so auch die in todähnlichem Zustand befindliche Seele. Und noch schlimmer, der Apostel vergrößert den Vorwurf, indem er die Ursachen (warum die Seele in todähnliche Ohnmacht gesunken sei) angibt. Wieso? Er sagt, der Ohnmachtszustand sei eingetreten bei Gottes Langmut. Ihr habt keinen Grund, euch auszureden, will er sagen, als hättet ihr nicht viel Langmut und Erbarmen von Seiten Gottes genossen. Die Worte: „in der gegenwärtigen Zeit“ enthalten den Hinweis auf Gottes Langmut und Liebe. Zu einer Zeit, will er sagen, als wir bereits aufgegeben waren, als uns das Urteil schon gesprochen war, als das Übel den Höhepunkt und die Sünden das Übermaß erreicht hatten, da zeigte er seine Macht, damit du erkennen lernst, welche Fülle von Gerechtigkeit bei ihm wohnt. Denn wäre dies gleich im Anfang geschehen, so wäre es uns nicht so wunderbar und unerwartet vorgekommen wie jetzt, wo alle ärztliche Kunst an ihr Ende gekommen war.

V.27: „Wo ist also das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.“

Paulus bemüht sich sehr, zu zeigen, daß der Glaube eine größere Kraft entfaltete, als sich das Gesetz je vorstellen konnte. Nachdem er nämlich gesagt hat, Gott rechtfertige den Menschen durch den Glauben, kommt er wieder zurück auf das Gesetz. Und er sagt nicht: „Wo sind also die guten Werke der Juden? Wo das Rechttun?“ sondern: „Wo ist das Rühmen?“ Überall bringt er zum Ausdruck, daß sie bloß großtun, als hät- ten sie etwas vor den andern voraus, daß sie aber kein entsprechendes Werk vorweisen können. Auf die Frage: „Wo ist also das Rühmen?“ antwortet er nicht: „Es ist verschwunden und ist dahin“, sondern: „Es ist ausgeschlossen“, was mehr die Nebendeutung hat: Es ist nicht mehr an der Zeit; es ist nämlich nicht die Zeit dazu. Denn gleichwie, wenn das Gericht bevorsteht, keine Zeit mehr ist zur Umkehr, auch nicht beim besten Willen dazu, so hatten auch jene keine Zeit mehr, ihr Rechttun nach dem Gesetze (als Schutz) vor sich zu halten, nachdem einmal das Urteil gefällt war, das auf Verwerfung aller lautete, und als derjenige schon angekommen war, welcher dieses Unheil durch die Gnade zum Guten wenden sollte. Wenn es je am Platze war, sich auf die eigenen guten Werke zu verlassen, so war die Zeit dazu vor seiner (des Erlösers) Ankunft. Nachdem aber er angekommen war, der die Rettung durch den Glauben brachte, war die Zeit vorüber, wo man selbst darum kämpfen mußte. Wie alles eigene Bemühen als vergeblich erwiesen war, brachte er die Rettung durch die Gnade. Darum kam er erst jetzt, damit man nicht sagen könne: Wenn er am Anfang erschienen wäre, so wäre es trotzdem möglich gewesen, durch das Gesetz Rettung zu erlangen und durch eigene Arbeit und gute Werke. Um eine solche Keckheit in die Schranken zu weisen, hält er sich solange bei diesem Gedanken auf. Es soll ganz klar aus allem (was er sagt) hervorgehen, daß sie (die Juden) sich selbst nicht genügten, sondern daß sie durch seine (des Erlösers) Gnade gerettet werden mußten. Darum fährt er auch oben nach den Worten „zum Erweis der Gerechtigkeit“ fort: „in der gegenwärtigen Zeit“. Wenn manche dies nicht zugeben, so handeln sie etwa so, wie ein Verbrecher, der, außerstande, sich vor Gericht reinzuwaschen, verurteilt wird und seiner Bestrafung entgegensieht; dann aber, durch einen Gnadenakt des Königs freigelassen, nach seiner Freilassung die Unverschämtheit hat, sich zu rühmen und zu behaupten, er habe überhaupt nichts verbrochen. Bevor der Gnadenerweis gegeben wurde, hätte er dies beweisen müssen; nachdem er aber einmal da ist, gibt es kein Rühmen mehr. Derselbe Fall trifft bei den Juden zu. Von Haus aus waren sie verloren; darum kam für sie der Erlöser. Durch sein bloßes Kommen machte er ihrem Rühmen ein Ende; denn wer vorgibt, ein „Lehrer der Unmündigen“ zu sein auf das Gesetz pocht und sich einen „Erzieher der Verstandesschwachen“ nennt, dabei aber ebenso eines andern bedarf, der ihn belehrt und ihm Rettung bringt, der hat doch wohl keine Ursache, sich zu rühmen. Wenn schon vorher „die Beschneidung zur Vorhaut geworden war“, so um so mehr jetzt, da sie als ausgeschaltet erscheint sowohl für die Zeit vorher wie für die nachher. Das deutet der Apostel an durch das Wort „ausgeschlossen“ und zugleich auch das Wie. Wie wurde also (ihr Rühmen) ausgeschlossen? Durch welches Gesetz? Durch das der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.

4.

Sieh, auch den Glauben nennt der Apostel „Gesetz“. Er behält dieselben Namen bei, um den Schein der Neuheit zu vermeiden. Was ist das für ein Gesetz, das des Glaubens? Gerettet werden durch Gnade. Hier legt er den Finger auf die Macht Gottes, der nicht bloß rettet, sondern auch rechtfertigt und verherrlicht, und das ohne Werke (unsererseits) dazu nötig zu haben, sondern er verlangt nur Glauben. Das sagt er aber, um den zum Glauben gekommenen Juden bescheiden zu machen, und um den noch nicht zum Glauben gekommenen niederzudrücken und ihn so zum Kommen zu bewegen. Denn sollte der Jude, welcher bereits Rettung (durch den Glauben) erlangt hat, sich noch immer etwas einbilden auf sein Gesetz, so muß er nun hören, daß eben dieses Gesetz ihm den Mund schließt, daß es ihn anklagt, daß es ihm die Rettung abspricht und das Rühmen ausschließt. Der andere aber, der noch nicht zum Glauben gekommen ist, wird eben dadurch gedemütigt und wird leichter sich zum Glauben bekehren lassen. Siehst du da das Wesen des Glaubens? Wie er ein Aufgeben der früheren Heilshoffnung (auf Grund der guten Werke) ist und nicht einmal mehr ein Rühmen damit gestattet?

V. 28: „Wir halten also dafür, daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde ohne Werke des Gesetzes.“

Nachdem der Apostel dargelegt hat, daß die Heiden, wenn sie den Glauben angenommen haben, den Juden sogar über sind, spricht er mit aller Offenheit weiter über den Glauben und berichtigt einige Vorstellungen, welche die Juden beunruhigten. Zwei Dinge waren es besonders, welche die Juden verwirrten: Erstens, wieso es möglich sein solle, ohne Werke (des alttestamentlichen Gesetzes) Rettung zu finden, da doch sie mitsamt ihren Werken keine hatten finden können; und zweitens, ob es gerecht sei, daß die Unbeschnittenen ihnen gleichgestellt werden sollten, die sie doch so lange Zeit die Führung durch das Gesetz genossen hatten. Das zweite verwirrte sie noch mehr als das erste. Darum wendet er sich diesem Punkte besonders zu, nachdem er den ersten erledigt hat. So verwirrend war jenes zweite für die Juden, daß sie sogar später noch, als sie den Glauben schon angenommen hatten, dem Petrus Vorstellungen machten wegen des (heidnischen Hauptmanns) Kornelius und dem, was damit im Zusammenhange stand. Er sagt also: „Wir halten also dafür, daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde ohne Werke des Gesetzes.“ Er sagt nicht: „Der Jude“ oder „der, welcher unter dem Gesetze steht“, sondern er wählt ein Wort von weitem Umfange und öffnet angelweit die Tore zum ewigen Heil. Er wendet nämlich das Wort an, welches die Natur bezeichnet und sagt: „Der Mensch“.

Hierauf nimmt er von da aus Gelegenheit, einen Einwand zu lösen, der ihm eigentlich nicht gemacht wird. Es lag aber doch nahe, daß die Juden, wenn sie hörten, der Glaube mache alle Menschen gerecht, sich darüber aufhielten und daran Anstoß nähmen; darum fährt er fort:

V. 29: „Ist er denn bloß ein Gott der Juden?“

Er will damit etwa sagen: Warum kommt es dir denn ungehörig vor, daß alle Menschen Rettung finden sollen? Ist denn Gott beschränkt auf einen Teil (der Menschheit)? Er will so dartun, daß sie in ihrem Be- streben, die Heiden beiseite zu schieben, eigentlich eher die Ehre Gottes schmälern, wenn sie nämlich nicht zugeben wollen, daß er der Gott aller sei. Ist er aber der Gott aller, dann trägt er auch Vorsorge für alle; trägt er aber Vorsorge für alle, dann muß er auch alle in gleicher Weise Rettung finden lassen durch den Glauben. Darum sagt der Apostel: „Ist er denn bloß ein Gott der Juden,

nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden.“

— Er ist nicht beschränkt auf einen Teil (der Menschheit), wie (die Götter) in den Fabeln der Griechen, sondern er ist allen gemeinschaftlich und einer. Darum fährt er fort:

V. 30: „Weil ja Gott einer ist.“

D. h. er ist ein und derselbe Herr über diese wie über jene. Und sprichst du mir von der alten Zeit, so (sage ich) auch damals gab es eine göttliche Leitung aller, wenn auch die Art und Weise verschieden war. Dir (dem Juden) war das geschriebene Gesetz gegeben, jenem (dem Heiden) das natürliche Gesetz. Diese, die Heiden, waren darum nicht schlechter daran, ja sie konnten sogar, wenn sie wollten, den Juden über sein. Dies deutet der Apostel an, wenn er fortfährt:

„(Gott), welcher sowohl die Beschneidung aus dem Glauben rechtfertigt wie auch die Unbeschnittenheit durch den Glauben.“

Damit bringt er ihnen das in Erinnerung, was er früher über Unbeschnittenheit und Beschneidung gesagt hat; er hatte ihnen nämlich klar gemacht, daß zwischen beiden kein Unterschied bestanden habe. Wenn aber früher keiner bestanden hat, um wieviel mehr werden sie jetzt gleich sein? Diesen Gedanken will er nun noch klarer herausarbeiten; er zeigt nämlich, wie beide in gleicher Weise des Glaubens bedürfen.

V. 31: „Tun wir also das Gesetz ab“,

fährt er fort,

„durch den Glauben? Das sei ferne! Im Gegenteil wir machen es fest.“ Siehst du da des Apostels Klugheit, die auf so Verschiedenes bedacht ist, daß man es kaum sagen kann? Durch den Ausdruck „wir machen es (das Gesetz) fest“ zeigt er an, daß es nicht feststand, sondern in Auflösung begriffen war. Beachte dabei auch die überragende Geisteskraft des Paulus und mit welcher Geschicklichkeit er sein Ziel zu erreichen weiß! Hier tut er nämlich dar, daß der Glaube dem Gesetze nicht bloß nicht zum Untergange gereiche, sondern daß er ihm sogar eine Stütze sei, wie andererseits das Gesetz dem Glauben als Vorläufer diente. Denn jenes gab im voraus Zeugnis von diesem — „er war bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“, heißt es ja — und dieser — der Glaube — machte jenes — das Gesetz — fest, da es im Wanken war. Wieso machte er es fest? fragt man. Nun, was war die Aufgabe des Gesetzes, und weswegen geschah alles (unter seiner Herrschaft)? Um den Menschen gerecht zu machen. Aber das brachte das Gesetz nicht zustande. Denn „wir waren Sünder allzumal“, heißt es. Der Glaube kam und vollbrachte es; denn wie einer glaubte, wurde er auch gerecht. Damit war des Gesetzes Zweck erreicht. Worauf alles im Gesetze hinauslief, das brachte der Glaube zur Erfüllung. Er hat es also nicht abgetan, sondern zur Vollendung geführt. — Drei Dinge hat also der Apostel hier dargetan: (Erstens,) daß es möglich ist, auch ohne Gesetz gerechtfertigt zu werden; zweitens, daß das Gesetz die Rechtfertigung nicht zuwege brachte, und drittens, daß der Glaube nicht im Widerspruch steht mit dem Gesetze. Weil gerade das letztere die Juden besonders beängstigte — der vermeintliche Gegensatz zwischen Glauben und Gesetz —, darum zeigt er mehr, als es der Jude wünschen kann, daß nicht nur kein Gegensatz bestehe, sondern daß beide — Glaube und Gesetz — einträchtig auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Das hörten ja die Juden gerade gerne.

5.

Ein so großer Gnadenerweis, wie der ist, daß wir gerechtfertigt worden sind, erfordert aber auch einen Wandel darnach. Zeigen wir einen Eifer, wie er eines solchen Geschenkes würdig ist! Wir bekunden ihn aber, wenn wir die Mutter aller Tugenden, die Liebe, mit allem Eifer wahren. Die Liebe besteht nicht in leeren Worten, nicht in freundlichen Grüßen allein, sondern sie erweist sich darin, daß man durch Werke hervorleuchtet wie: die Armut lindern, den Kranken mitfühlend Dienste leisten, von Gefahren befreien, Bedrängten beistehen, weinen mit den Weinenden, sich freuen mit den Fröhlichen. Auch das letztere ist ein Liebeserweis. Man könnte meinen, es sei dies etwas Kleines, dieses Sichfreuen mit den Fröhlichen; und doch ist es eigentlich etwas Großes und erfordert die Einsicht eines Weisen; und wir werden viele finden, die Beschwerlicheres vollbringen, doch in diesem Punkte versagen. Viele weinen mit den Weinenden, sie freuen sich aber nicht mit den Fröhlichen, sondern vergießen Tränen, wenn andere sich freuen. Das ist aber Mißgunst und Neid. Es ist darum kein geringes gutes Werk, sich zu freuen, wenn sich der Mitbruder freut, sondern es ist größere Tugend als das erstere; ja, es ist nicht allein mehr als das Weinen mit den Weinenden, sondern sogar mehr als das Beistehen in Gefahren. Schon viele nämlich, die mit andern, die in Gefahr waren, sich selbst Gefahren unterzogen, empfanden Schmerz darüber, daß andere in Ehre und Ansehen standen. Das heißt, sich von Mißgunst beherrschen lassen. Und doch kostet jenes Mühe und Anstrengung, dieses aber nur einen inneren Akt des Willens. Trotzdem bringen viele, die jenes Schwerere vermögen, dieses Leichtere nicht zustande, sondern sie grämen sich ab und möchten vergehen, wenn sie mitansehen müssen, daß andere in Ehren stehen, wenn sie Zeuge sein müssen, wie der Kirche genützt wird durch Predigt oder auf irgendeine andere Weise 99. Kann es wohl etwas Verwerflicheres geben? Ein solcher kämpft übrigens nicht bloß gegen seinen Bruder an, sondern auch gegen den Willen Gottes. Bedenke das daher und mache dieser (Seelen-) Krankheit ein Ende! Tust du es schon nicht aus Wohlwollen gegen deinen Nächsten, so mache dich doch frei von tausend Übeln aus Wohlwollen gegen dich selbst! Was bringst du Krieg in deine Gedankenwelt? Was erfüllst du mit Aufruhr die Seele? Was entfesselst du einen solchen Sturm in ihr? Was bringst du alles drunter und drüber? Wie kannst du in solcher Verfassung um Nachlaß der Sünden bitten? Denn wenn Gott solchen nicht die Sünden vergibt, welche die gegen sie begangenen nicht nachsehen, wie wird er denen Verzeihung gewähren, die andern Unrecht zuzufügen trachten, die ihnen selbst keines angetan haben? Das ist ja doch ein Beweis äußerster Bosheit. Solche führen in Gemeinschaft mit dem Teufel Krieg gegen die Kirche. Ja sogar noch viel schlimmer ist so etwas; denn gegen den Teufel kann man auf der Wache sein; solche aber tragen die Maske der Freundschaft und legen heimlich Feuer an. Freilich stürzen sie sich dabei zuerst selbst hinein; sie leiden an einer Krankheit, die nicht nur kein Mitleid erregen kann, sondern eher zum Lachen herausfordert. Sag’ mir, warum weinst du bloß und zitterst und bist niedergeschlagen? Was ist Schreckliches geschehen? daß deinem Mitbruder Auszeichnung und Ehre und Ruhm zuteil wird? Solltest du dich da nicht bekränzen, dich freuen und Gott preisen, daß ein Glied von dir ausgezeichnet und geehrt wird? Aber nein, du grämst dich, daß Gott geehrt wird. Siehst du, wohin dein Krieg zielt? Aber nicht daß Gott, sagst du, sondern daß dein Bruder geehrt wird. Aber durch diesen geht ja die Ehre weiter bis auf Gott hinauf und folglich — auch der durch dich entfachte Krieg. — Aber nein, sagst du, das macht mich nicht betrübt, sondern ich möchte, daß Gott durch mich geehrt werde. Dann freue dich, wenn dein Bruder Ruhm genießt, und Gott wird durch dich (wiederum) geehrt, wenn nämlich alle sagen: Gelobt sei Gott, der solche Diener hat, die ganz frei sind von aller Mißgunst und sich gegenseitig freuen über das ihnen zuteil gewordene Gute! Doch was rede ich von Bruder? Wenn er auch dein Partei- und persönlicher Feind wäre, und Gott würde durch ihn geehrt, so müßtest du ihn dir eben deswegen zum Freunde machen. Du aber machst dir den Freund zum Feind weil Gott geehrt wird durch die Ehrung jenes. Wenn jemand deinen Körper von einer Krankheit geheilt hätte, der vorher dein Feind war, du würdest ihn hernach unter deine besten Freunde rechnen. Dagegen erachtest du einen, der früher dein Freund war als deinen Feind, weil er den Leib Christi, das ist die Kirche, verherrlicht? Wie könntest du auf eine andere Weise so deutlich zum Ausdruck bringen, daß dein Krieg Christus gilt? Darum wenn auch einer Wunder wirkte, wenn er auch ein jungfräuliches Leben führte, wenn er fastete, wenn er auf der bloßen Erde schliefe! und wenn er durch solche Tugend bis an die Engel hinaufreichte, so ist er doch, wenn er mit diesem Laster behaftet ist, ein größerer Verbrecher als alle und ein ärgerer Gesetzesverletzer als ein Ehebrecher, ein Hurer, ein Dieb oder ein Ehrabschneider.

6.

Und damit niemand meine Rede einer Übertreibung beschuldige, so möchte ich gerne eine Frage an euch stellen. Wenn jemand Feuer und eine Hacke nähme und dieses (Gottes-) Haus anzündete und den Altar zerstörte, würde ihn nicht jedermann von den Anwesenden mit Steinwürfen davonjagen als einen Verbrecher und Frevler? Was nun, wenn jemand eine noch gefräßigere Flamme als gewöhnliches Feuer — ich meine den Neid — hereinbringt, eine Flamme, die zwar nicht Häuser aus Steinen zerstört und einen goldenen Altar zernichtet, dafür aber etwas Kostbareres als die Mauern und den Altar zerstört und verwüstet, das von unseren Lehrern aufgerichtete (geistige) Gebäude, wie soll der einer Verzeihung würdig sein? Es wende mir niemand ein: Er versucht es öfter nur, bringt es aber nicht zustande. Nach der Absicht wird die Tat beurteilt. So hat auch Saul den David getötet, wenngleich es ihm nicht gelang. Bedenkst du denn nicht, frage ich, daß du den Schafen Christi nachstellst, wenn du dem Hirten Krieg ansagst, jenen Schafen, für die Christus sein Blut vergossen hat, und für die er uns (Hirten) alles zu tun und zu leiden befahl? Denkst du denn nicht daran, daß dein Herr deine Ehre gesucht hat und nicht die seinige, du aber nicht die Ehre deines Herrn suchst, sondern deine eigene? Und doch, wenn du seine suchtest, dann würdest du auch deine finden; suchst du aber deine statt seine, wirst du niemals auch jene genießen.

Welches Heilmittel gibt es nun dafür? — Wir wollen alle gemeinsam beten und einmütig für sie unsere Stimme erheben, wie für die Besessenen 100. Sie sind ja um so viel schlimmer daran als diese, als ihre Raserei eine freiwillige ist. Gebet braucht diese Krankheit und viel Fürbitte. Denn wenn schon der, welcher seinen Bruder nicht liebt, wenn er auch sein Vermögen hingibt, wenn er auch im Glanz der Märtyrerkrone erstrahlt, doch nichts Besonderes gilt, bedenke, welcher Strafe der würdig sein wird, welcher gegen einen andern feindselig auftritt, der ihm gar kein Unrecht zugefügt hat! Ein solcher ist schlechter als die Heiden. Denn wenn wir schon vor diesen nichts voraus haben, wenn wir bloß die lieben, welche uns lieben, wo, sag’ mir, wird erst der seinen Platz bekommen, welcher die mit Mißgunst verfolgt, welche ihn lieben? Sogar schlimmer als Kriegführen ist das mißgünstige Verfolgen. Denn wer Krieg führt, steht davon ab, sobald die Ursache des Krieges geschwunden ist. Der Mißgünstige dagegen wird nie zum Freunde. Der Kriegführende geht offen vor, der Mißgünstige versteckt; jener hat oft einen plausiblen Grund zum Kriege, dieser keinen andern als Wut und teuflische Gesinnung. Womit soll man eine solche Seele vergleichen? Mit welcher Schlange? mit welcher Natter? mit welchem Wurme? mit welchem Insekt? Es gibt nichts Verworfeneres, nichts Schlechteres als eine solche Seele. Das, ja das ist es, was die kirchlichen Gemeinden verwüstet, was die Glaubensspaltungen erzeugt, was die Bruderhand (des Kain) bewaffnet und sie mit dem Blute des Gerechten benetzt und die Gesetze der Natur nicht geachtet und dem Tode die Tore geöff- net und jenen Fluch verwirklicht hat und jenen Unseligen nicht denken ließ, weder an die gemeinsame Abstammung noch an die Eltern noch an etwas anderes sondern ihn so in Wut versetzte und zu solcher Raserei antrieb, daß er auch dem Rufe Gottes nicht nachgab, der sprach: „Er soll nach dir sich wenden, und du sollst über ihn herrschen“ 101. Und wiewohl er ihm die Sünde nachließ und den Bruder ihm unterstellte, blieb doch diese Krankheit so unheilbar, daß ihr Gift trotz aller möglichen Heilmittel hervorbrach. Weswegen grämst du dich dann (Kain), du unseligster unter allen Menschen? Daß Gott geehrt wird? Aber das ist ja teuflisches Denken. Oder daß dein Bruder bei ihm in Gunst steht? Aber es liegt ja an dir, ihn darin noch einzuholen. Willst du ihn (im Wettstreit) besiegen, so töte ihn doch nicht; schaffe ihn nicht aus dem Wege, sondern laß ihn leben, damit dir die Möglichkeit eines Wettstreites bleibe, und trage den Sieg davon über deinen lebenden Nebenbuhler. So wird dir eine strahlende Siegeskrone werden. Tötest du ihn aber, so erklärst du dich damit selbst als Überwundener. Doch von all dem will der Neid nichts wissen. Was strebst du nach Ehre in solcher Einsamkeit? Sie waren ja die einzigen zwei, die damals die Erde bewohnten. Doch nichts von all dem hielt ihn zurück. Das alles schlug er sich aus dem Sinn und trat auf die Seite Satans zum Kampfe; denn dieser war neben Kain damals der Führer im Kampfe. Nicht genug daran, daß der Mensch zum Sterben verurteilt war, suchte er durch die Art des Todes das Schauspiel noch tragischer zu machen und überredete zum Brudermorde. Er, der niemals genug Elend auf uns gehäuft sieht, trieb und drängte, daß der Richterspruch ins Werk gesetzt werde. Wie jemand, der seinen Feind gefesselt und zum Tode verurteilt sieht, darnach lechzt, ihn noch, bevor er aus der Stadt hinausgeführt wird, drinnen tot zu sehen und die Zeit (bis zur Ausführung des Urteils) nicht erwarten kann, so machte es damals der Teufel. Trotzdem er gehört hatte, daß der Mensch zur Erde zurückkehren werde, gelüstete es ihn doch, noch etwas mehr zu sehen: den Sohn früher gestorben als der Vater, den Bruder als den Mörder des Bruders, einen vorzeitigen, gewaltsamen Tod.

7.

Siehst du, zu was Großem der Neid führt? Wie er die unersättliche Gier des Teufels befriedigt und ihm ein Mahl vorgesetzt hat, wie er sich’s wünschte? Fliehen wir darum diese Krankheit! Es ist unmöglich, es ist unmöglich, jenem Feuer zu entrinnen, das dem Teufel bereitet ist, wenn wir uns nicht frei machen von diesem Siechtum. Wir werden uns aber freimachen davon, wenn wir uns zu Gemüte führen, wie sehr Christus uns geliebt hat, er, dessen Gebot es ist, daß wir einander lieben. Wie hat doch er uns geliebt! Sein kostbares Blut hat er dahingegeben für uns, seine Feinde, die wir ihm das größte Unrecht angetan hatten. Handle auch du so deinem Bruder gegenüber! Das ist ja sein Wort: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander lieb habet, wie ich euch geliebt habe“ 102. Doch vielmehr, bei diesem Maßstab bleibt es nicht. Er hat das für seine Feinde getan; du willst dein Blut nicht hingeben für deinen Bruder? (Nun gut,) aber was vergießt du sein Blut und handelst so dem Gebote (Christi) gerade entgegen? Ferner, was er tat, tat er nicht aus Schuldigkeit; du aber erfüllst eine Schuldigkeit, wenn du es tust. Auch jener Knecht, der zehntausend Talente geschenkt erhielt und hundert Denare davon einforderte, wurde nicht bloß dafür gestraft, daß er (das Geld) einforderte, sondern dafür, daß er durch die Wohltat nicht besser geworden war; daß er seinem Herrn, der den Anfang gemacht hatte (mit dem Schenken), nicht nachfolgte und auch seinerseits die Schuld schenkte. Denn er hätte seinem Mitknecht gegenüber nur seine Schuldigkeit getan, wenn er so gehandelt hätte. Bei allem, was wir tun, erfüllen wir ja nur eine Schuldigkeit, wenn wir es tun. Darum hat er selbst gesagt: „Wenn ihr alles getan habt, so saget: Wir sind unnütze Knechte; denn was wir zu tun schuldig waren, haben wir getan.“ 103 Mögen wir also ein Liebeswerk verrichten, mögen wir Geld ausspenden an die Bedürftigen, so erfüllen wir nur eine Pflicht, nicht nur weil er selbst im Wohltun (uns) vorangegangen ist, sondern auch weil wir nur das, was ihm gehört, austeilen. Was beraubst du dich also selbst dessen, worüber du nach seinem Willen (wirklich) Herr sein sollst; darum hat er dir ja geboten, es einem andern zu geben, damit es auf diese Weise wirklich dein Besitz werde. Solange du es nämlich selbst behältst, ist es nicht dein Besitz; gibst du es aber einem andern, dann bekommst du es eigentlich erst in deinen wirklichen Besitz. Übrigens, welche Liebesgabe käme der seinigen gleich? Er gab sein Blut hin für seine Feinde, wir nicht einmal unser Geld für den Wohltäter; er das Blut, das sein eigenes war, wir nicht das Geld, das gar nicht uns gehört; er vor uns, wir nicht einmal nach ihm; er für unser Heil, wir nicht einmal zu unserem eigenen Nutzen; denn ihm kommt nichts zugute von unserer Liebestat, sondern der ganze Gewinn fällt uns zu. Das ist ja der Grund, warum uns befohlen ist, das unsrige wegzuschenken, damit wir nicht darum kommen. Wenn jemand einem kleinen Knaben ein Geldstück schenkt, so trägt er ihm auf, es sorgfältig einzustecken oder es seinem Diener zur Aufbewahrung zu übergeben, damit nicht jeder, der Lust hat, es ihm raube; so macht es Gott mit uns. Gib, spricht er, dem Bedürftigen, damit dir nicht dein Vermögen ein anderer abnehme, etwa ein Schmarotzer oder der Teufel oder ein Dieb oder zu allerletzt der Tod. Solange du es in der Hand hast, ist es nicht sicher verwahrt; gibst du es aber mir vermittelst der Armen, so hüte ich alles mit Sorgfalt und stelle es dir zu seiner Zeit zurück mit reichen Zinsen. Ich nehme es in Empfang, nicht um es dir zu nehmen, sondern um es zu vermehren, um es mit der größten Sorgfalt zu hüten, um es dir aufzubewahren für jene Zeit, wo niemand mehr leihen, niemand mehr Erbarmen üben wird. Was gäbe es für ein größeres Ungeheuer, als wir wären, wenn wir nach solchen Anerbietungen uns dennoch nicht herbeiließen, ihm zu leihen? So werden wir dann mutterseelenallein und nackt und arm bei ihm ankom- men, ohne das, was uns anvertraut war, weil wir es ihm nicht in Verwahrung gegeben haben, der es am sorgfältigsten gehütet hätte; und dafür werden wir die äußerste Strafe erleiden. Was werden wir auf die Anklage erwidern können, um dem Untergang vorzubeugen? Welchen Verteidigungsgrund vorbringen? Welche Entschuldigung? Warum gabst du nichts? (wird es heißen.) Mißtrautest du, daß du zurückbekommen würdest? Was hat das aber für einen Sinn? Wie sollte der, welcher dir gab, ohne daß du ihm gegeben hattest, dir nachher nicht geben, nachdem er es empfangen hat? Aber der Anblick (des Geldes) macht dir Freude? Gib es also eben darum um so bereitwilliger hin, damit du dort um so mehr Freude genießest, wo dir niemand das deine rauben wird; behältst du es aber, so hast du tausenderlei Gefahren zu bestehen. Denn wie ein Hund, der einem Knaben ein Stück Brot oder Kuchen aus der Hand reißen will, so geht der Teufel die Reichen an. Übergeben wir also (unsern Besitz) dem Vater! Sieht das der Teufel, so macht er sich gleich davon; wenn er gewichen sein wird, dann wird dir der Vater alles zurückgeben im zukünftigen Leben, wo jener (dir) nicht mehr nachstellen kann. Wahrhaftig, es ist kein Unterschied zwischen kleinen Knaben, die von Hunden belästigt werden, und den Reichen; alles rings um sie bellt sie an, zupft und zieht an ihnen, nicht bloß Menschen, sondern auch unheilvolle Leidenschaften: Schwelgerei, Trunkenheit, Schmarotzerei und Genußsucht jeder Art. Wenn wir Geld ausleihen wollen, da suchen wir uns Leute aus, die viel Zinsen geben und sich so dankbar erweisen; hier aber machen wir das Gegenteil: Gott, der so erkenntlich ist, daß er nicht nur ein Hundertstel, sondern hundertfach zurückgibt, den lassen wir fahren und suchen dafür Schuldner, die uns nicht einmal das Kapital zurückgeben.

8.

Was gibt uns denn der Bauch zurück, der das meiste verschlingt? Kot und Unrat. Was der Ehrgeiz? Neid und Mißgunst. Was die Habsucht? Kummer und Sorge. Was die Genußsucht? Die Hölle und den giftigen Wurm. Das sind die Schuldner der Reichen; die Zinsen, die sie zahlen, sind Beschwernisse im Diesseits und Verderben im Jenseits. Solchen, sagen wir, wollen wir unser Geld leihen bei solcher Gefahr, und Christus wollen wir es nicht anvertrauen, der dafür den Himmel anbietet, unsterbliches Leben, unaussprechliche Güter? Was für eine Entschuldigung werden wir haben? Warum gibst du es nicht dem, der es gewiß zurückgibt und mehr zurückgibt? Etwa, weil er es erst nach langer Zeit zurückgibt? Er gibt es ja (oft) schon im Diesseits zurück. Untrüglich ist sein Wort: „Suchet zuerst das Himmelreich, so wird euch das alles obendrein gegeben werden“ 104. Sieh da ein Übermaß von Wohlwollen! Das Jenseitige, spricht er, wird dir ungemindert aufgehoben, das Diesseitige gebe ich obendrein als Zulage. Außerdem vermehrt dir ein Empfang nach langer Zeit den Reichtum; die Zinsen davon werden um so größer. So sehen wir ja auch Geldverleiher ähnlich handeln; sie verborgen ihr Geld lieber an solche, die es erst nach langer Zeit zurückzahlen. Wer nämlich gleich das Ganze zurückgibt, der unterbricht den Fortlauf der Zinsen; wer es dagegen für längere Zeit behält, der macht damit den Ertrag größer. Also bei Menschen sehen wir einen Aufschub (der Zahlung) nicht ungerne, ja wir führen einen solchen sogar absichtlich herbei; bei Gott dagegen benehmen wir uns so engherzig, daß wir zögern und Bedenken tragen? Und doch gibt er uns, wie gesagt, schon im Diesseits (manches) aus dem angeführten Grunde, den größeren Rest aber hebt er uns fürs Jenseits auf und sichert uns so das Ganze. Die Größe dessen, was uns dort gegeben werden wird, und die Schönheit des dort zu erwartenden Geschenkes geht bei weitem über die Nichtigkeit des gegenwärtigen Lebens. Ist es doch gar nicht möglich, in dieser vergänglichen und hinfälligen Leiblichkeit jener unvergänglichen Kronen teilhaftig zu werden und in diesem geräuschvollen, sturmbewegten, wechselvollen und mühereichen irdischen Dasein jenes unwandelbaren und ungestörten Glückes zu genießen. Wenn ein Schuldner, während du dich in einem fremden Lande befändest ohne Diener und ohne sonstige Möglichkeit, etwas heimzuschaffen, dir ankündigte, er wolle dir (dort) dein Kapital zurückerstatten, so würdest du inständig bitten, er möge es nicht in der Fremde, sondern zu Hause tun. Jene geistigen, unsagbar (großen) Güter dagegen willst du schon im Diesseits in Empfang nehmen? Welche Torheit! Wenn du sie hienieden bekommst, so bekommst du nur Vergängliches; wenn du aber die Zeit im Jenseits abwartest, dann wird dir Gott Unvergängliches und Unverlierbares geben; wenn du (deinen Lohn) hienieden (ausgezahlt) bekommst, bekommst du Blei, wenn aber dort, so gediegenes Gold. Dabei hat er dir aber die gegenwärtigen Güter nicht entzogen; denn jener Verheißung hat er eine andere beigefügt, indem er sagt, daß, wer dem Jenseitigen nachstrebt, hundertfach in dieser Welt empfangen und das ewige Leben als seinen Anteil erhalten wird“ 105.

Eure Schuld ist es darum, wenn ihr nicht hundertfach zurückbekommt, weil ihr dem nicht geborgt habt, der die Macht hat, so vielfach zurückzugeben. Alle haben so viel bekommen, die ihm gegeben haben, auch wenn sie nur wenig gegeben haben. Was war es denn Großes, sag’ mir, was Petrus hingab? Nichts als ein zerrissenes Netz, eine Angelrute und ein Angelhaken. Aber wie hat ihm Gott dafür die Türen allerorts in der Welt aufgetan, Land und Meer ihm freigemacht, wie haben ihn alle in ihre Häuser geladen! Sie verkauften sogar ihren Besitz und legten den Erlös zu seinen Füßen nieder; nicht ihm auf die Hand zählten sie ihn, das trauten sie sich gar nicht; eine solche Verehrung hegten sie für ihn, abgesehen von ihrer Freigebigkeit. Ja, das war auch Petrus, wendest du ein. Was ist das (für ein Einwand), mein Lieber? Das Versprechen (Jesu) galt doch nicht dem Petrus allein; er sagte doch nicht: „Du, Petrus, wirst allein hundertfach zurückbekommen“, sondern: „Jeder, der Haus oder Brüder verläßt, wird hundertfach zurückerhalten“; denn er kennt keinen Unterschied in den Personen, sondern nur in der Verdienstlichkeit der guten Werke. „Aber“, heißt es, „ich habe einen Haufen Kinder und möchte sie wohlbemittelt zurücklassen.“ Nun gut, warum arbeiten wir dann aber darauf hin, daß sie arm werden? Denn gesetzt auch, du vermachst ihnen alles, so vertraust du doch ihr Alles wieder nur einer unsicheren Obhut an; wenn du ihnen aber Gott als Miterben und Vormund hinterlassest, so hast du ihnen damit unermeßlichen Reichtum hinterlassen. Gerade so wie uns Gott nicht verteidigt, wenn wir selbst uns rächen, dagegen der Handel wider Erwarten gut ausfällt, wenn wir ihn ihm überlassen, so geht es auch mit dem Gelde: wenn wir selbst uns damit abmühen, so steht Gott ab von der Sorge dafür; wenn wir dagegen alles ihm übergeben, so bringt er unsern Besitz und dazu noch unsere Kinder in volle Sicherheit. Wunderst du dich, daß dies bei Gott so geschieht? Kann man dasselbe doch auch bei Menschen beobachten. Wenn du (bei deinem Tode) niemanden von deinen Verwandten mit der Vormundschaft über deine Kinder betraust, so wird sich mancher, der dieses Amt sonst recht gern übernommen hätte, oft scheuen (es tatsächlich auszuüben) und sich davon zurückhalten; wenn du ihm aber die Vormundschaft überträgst, so fühlt er sich dadurch auf das höchste geehrt und wird sich die größte Mühe geben, sein Bestes zu tun.

9.

Willst du also deinen Kindern großen Reichtum hinterlassen, so hinterlaß ihnen Gottes Vormundschaft. Wie sollte er, der ohne dein Zutun dir Seele und Leib und Leben geschenkt hat, wenn er von dir einen Erweis solcher Hochherzigkeit sieht, daß du nämlich das Erbe deiner Kinder mit ihm teilst, wie sollte er dann diesen nicht alle Schleußen des Reichtums öffnen? Wenn schon Elias dafür, daß er mit ein wenig Mehl genährt worden war, weil er sah, daß jenes Weib ihm den Vorzug vor ihren Kindern gab, in dem kleinen Haushalt der Witwe für Küche und Keller sorgte, stelle dir vor, welche Erkenntlichkeit der Herr des Elias zeigen wird! Schauen wir also nicht darauf, wie reich wir unsere Kinder zurücklassen, sondern wie tugendhaft! Denn wenn sie auf ihren Reichtum pochen, werden sie keine Sorge haben um etwas anderes in der Meinung, ihr schlechter sittlicher Wandel sei gedeckt durch ihr vieles Geld. Wenn sie dagegen wissen werden, daß sie des Trostes irdischen Gutes entbehren, werden sie sich mit allen Kräften bemühen, in reichem Tugendleben Trost zu suchen für ihre Armut. Hinterlaß ihnen darum nicht Reichtum, damit du ihnen Tugend hinterlassest. Es ist ja doch höchste Unbesonnenheit, bei Lebzeiten die Kinder nicht zu Herren von allem zu machen, nach dem Tode dagegen ihrer jugendlichen Ungebundenheit volle Freiheit zu gewähren; denn solange wir leben, können wir sie zur Rechenschaft ziehen, ihnen bei schlechter Verwendung (des Reichtums) vernünftig zureden und ihnen einen Zügel anlegen; geben wir ihnen aber bei unserm Absterben den Gebrauch des Reichtums frei, so stoßen wir die armen bedauernswerten Kinder, verwaist und voll jugendlichen Leichtsinnes, wie sie sind, hinaus in ein Meer voller Klippen, wir schüren Feuer (um sie) an und gießen Öl in die gefährliche Glut. Darum nochmals, willst du dein Erbe in Sicherheit zurücklassen, so hinterlaß deinen Kindern Gott als ihren Schuldner und händige ihm ihr Schuldbuch ein. Wenn sie selbst das Geld in Empfang nehmen, werden sie nicht wissen, wem sie es übergeben sollen, und sie werden manchen Schmarotzern und Leuten, die ihnen keinen Dank wissen, zum Opfer fallen; wenn du es vorweg bei Gott auf Zinsen anlegst, so bleibt dein Schatz in Sicherheit und wird dir mit aller Bereitwilligkeit zurückgestellt. Gott hat sogar seine Freude daran, wenn er uns zurückgibt, was er uns schuldet; er sieht solche lieber, die ihm auf Zinsen geliehen haben, als andere, die ihm nicht geliehen haben, und liebt die am meisten, denen er am meisten schuldet. Willst du daher ihn dauernd zum Freunde haben, so mach’ dir ihn dadurch recht viel zum Schuldner. Kein Geldverleiher freut sich so darüber, daß er Schuldner hat, wie Christus sich freut, daß er Gläubiger hat. Ja, er flieht solche, denen er nichts schuldig ist, und sucht die auf, bei denen er in Schulden steht.

Tun wir also alles, um ihn zum Schuldner zu bekommen! Jetzt ist gelegene Zeit dazu, [bei ihm] Geld anzulegen, jetzt befindet er sich in Not. Wenn du ihm jetzt nicht gibst, nach deinem Hingange braucht er dich nicht mehr. Hier auf Erden dürstet er, hier hungert er; er dürstet aber, weil er nach deinem Heil durstig ist. Darum geht er als Bettler, darum geht er nackt einher um dir zum ewigen Leben zu verhelfen. Übersieh ihn also nicht! Er will ja nicht gespeist werden, sondern Speise reichen, nicht ein Kleid bekommen, sondern eins geben, dir nämlich das goldene Ehrenkleid, das königliche Prachtgewand verschaffen. Siehst du nicht, wie Ärzte, die ihr Amt recht ernst nehmen, wenn sie Kranken ein Bad bereiten, auch selbst baden, obzwar sie es nicht nötig haben? So tut auch Christus alles Mögliche dir zuliebe in deiner Krankheit. Darum fordert er nicht mit Gewalt von dir, damit er dir recht reichlich vergelten könne, damit du siehst, daß er nicht aus eigener Not bettelt, sondern um deiner Not abzuhelfen. Darum kommt er in dürftigem Kleid zu dir und streckt seine Hand dir entgegen. Wenn du ihm auch nur einen Heller reichst, er verschmäht ihn nicht; und wenn du seiner nicht achtest, er steht nicht ab, sondern er kommt wieder zu dir. Er will ja so sehnsüchtig, gar so sehnsüchtig unser Heil. Verachten wir also das Geld, damit wir nicht von Christus verachtet werden! Wenn wir es hienieden (gar zu ängstlich) hüten, werden wir gänzlich darum kommen im Diesseits und im Jenseits. Wenn wir es aber recht freigebig austeilen, werden wir es gut haben in diesem und jenem Leben. Wer also reich werden will, werde arm, damit er reich werde; er teile aus, um zusammenzuhäufen; er zerstreue, um zu sammeln. Wenn dir das aber befremdlich und widerspruchsvoll vorkommt, so schau’ hin auf den Sämann und bedenke, daß auch dieser nicht anderes mehr bekommen kann, als wenn er das, was er hat, ausstreut und das, was ihm sicher ist, hinwirft. Säen also auch wir aus, bebauen wir das Saatfeld des Himmels, damit wir einmal eine reiche Ernte haben und der ewigen Güter teilhaftig werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste sei Ehre, Macht und Herrlichkeit jetzt und allezeit bis in alle Ewigkeit. Amen.

Kommentar zum Briefe des Heiligen Paulus an die Römer

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