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NIEMANDSLAND ZWISCHEN DEN ZEITEN

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Man schreibt den 28. Oktober 1918: 24 dramatische Stunden, in denen der Untergang Österreich-Ungarns unumstößliche Gewissheit wird. Ein Tag, an dem der Wahnsinn einer „großen Zeit“ seinen abschließenden Höhepunkt erreicht. Während am Monte Asolone und am Monte Pertica, am Piave und am Monticano sich die letzten getreuen k. u. k. Regimenter verzweifelt der Offensive der Alliierten entgegenstemmen, im mörderischen Granathagel der feindlichen Artillerie verbluten, wird in Wien die neue Regierung eines Staates angelobt, der eigentlich gar nicht mehr existiert. Soldaten aus Böhmen und Mähren, aus Polen und Ungarn kämpfen und sterben für ein Vaterland, das nicht mehr ihres ist, für einen Kaiser, der seltsam kraftlos zusieht, wie die Dinge ihren verhängnisvollen Lauf nehmen. Während er, verstrickt in Illusionen von Gottesgnadentum und Treue zur Dynastie, noch immer auf den Abschluss eines Friedens hofft, der den Fortbestand der Monarchie ermöglicht, entgleitet ihm Schritt für Schritt die Macht. Ohnmächtig müssen er und seine Minister zusehen, wie in Prag und Krakau, in Budapest und Agram der Doppeladler in den Staub getreten, die Apokalypse des Vielvölkerstaats Wirklichkeit wird. Es ist ein denkwürdiger Feiertag für Jahrhunderte hindurch von Habsburg unterdrückte Nationen, traumatisches Erleben hingegen für jene, die das von schwarz-gelben Grenzbalken umschlossene Land als ihre Heimat ansehen.

Es sind 24 chaotische Stunden, in denen Heldenmut und feiger Verrat, Zaudern und entschlossenes Handeln, Gleichgültigkeit und selbstlose Hilfsbereitschaft aufeinander treffen und miteinander in Wechselwirkung treten, 24 lange Stunden des Hungers und der Verzweiflung, 24 dunkle Stunden, in den Tausende sterben, hingestreckt vom tödlichen Virus der Spanischen Grippe. 24 gespenstische Stunden, in denen das Gestern zu Ende geht und in ersten hellen Umrissen ein Morgen heraufdämmert: von Schrecken, aber auch von Hoffnung erfülltes Niemandsland zwischen den Zeiten, das die Konflikte der Zukunft bereits erahnen lässt. Tummelplatz für die Männer, die den Nachkrieg und die Republik bestimmen werden, die in gewaltigen Visionen schwelgen, weit reichende revolutionäre Konzepte bereithalten, gewagte Experimente angedacht haben. Ideologen und Parteidoktrinäre, Idealisten und Querdenker, Fantasten und selbst ernannte Propheten formulieren ihre Parolen für die neue Zeit. Und in einem Lazarett im pommerschen Pasewalk beschließt ein durch Giftgas zeitweilig erblindeter Gefreiter namens Adolf Hitler Politiker zu werden …

Johannes Sachslehner


Nachschub für die Fronttruppen am Monte Asolone: kurze Rast auf dem schmalen Saumweg durch die Cesillaschlucht.

1918

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