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1 Der individuumskeptische Charakter der Bildungsorganisation

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Schule ist diesen Individualisierungsbedürfnissen und -notwendigkeiten nicht gewachsen. Mit ihrer Organisationsform und ihrem Selbstverständnis entspricht sie entgegengesetzten Interessen: Sie entspringen dem Interesse bürgerlicher und bestimmter adliger Schichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts an staatlicher Machtdurchsetzung gegen die die Willkür, Chaotik und "Provinzialität" feudaler Souveräne. So sehr das ein historischer Fortschritt für die Anerkennung des Individuums als allgemeines Prinzip war, so gehört(e) zum Vermächtnis der Aufklärung und der Moderne die Vorstellung der Planbarkeit technischer und menschlich-sozialer Prozesse. Gärtnerisch inspirierte Züchtungsvorstellungen spielten und spielen noch heute eine große Rolle in schulischen Selbstverständnissen.

Was sich in den Schriften der Aufklärung wie eine Hymne an das Individuum liest, ist oft nichts anderes als der Versuch, den Menschen, wie eine Maschine zu mechanisieren (oder wie eine Pflanze zu züchten) und verfügbar zu machen. Dieses auch der Schule zugrundeliegende Entwicklungsmodell kann dem Bedürfnis nach Individualisierung, wie auch der Notwendigkeit der Individualisierung nicht gerecht werden.

Verführerisch erscheinen Gesetze, Richtlinien, Lehrpläne. Es ist alles darin, was sich das Lehrer- und Demokratenherz wünscht: Mündigkeit, Achtung der Menschenwürde und der Natur, Persönlichkeitsentwicklung und noch vieles mehr. Offenbar wird all das für planbar durch Dienstordnungen, Curricula, Methodik und Didaktik gehalten. Diese Konzeptionen sind Ausdruck des Vertrauens in Regelbarkeit durch übergeordnete Instanzen, wie auch Ausdruck des Mißtrauens in die sich einer Kontrolle entziehenden Individuen.

Die hehren Ziele ernsthaft erreichen zu wollen, erforderte ein Ernstnehmen des Subjekts, Anerkennung seiner Eigenwilligkeit und Absage an seine Planbarkeit. Tatsächlich haben wir es in der staatlichen Schulpädagogik (und in weiten Teilen der Gesellschaft!) mit einem anthropologischen Pessimismus und pädagogischen Optimismus zu tun - eine Spaltung, die zahlreiche Paradoxien erzeugt (Wie wird der schlechte Mensch durch Erziehung zu einem Guten?).

Viel erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Schweiß ist darauf verwendet worden, den Zwiespalt zwischen staatlichen Interessen an Macht und Ordnung einerseits - Schule ist dazu ein Mittel - und subjektiven (Lern-) Interessen der Individuen andererseits aufzulösen. Die Legitimierung des Schulwesens als im Interesse der Lernenden liegend ist dennoch nie gelungen.

Wie sollte die Schule auch ein Ort der Persönlichkeitsentwicklung, Bildung und Vervollkommnung sein, wenn ich "zur Not" mit Zwang dahin gebracht werden kann? Wie kann sich Humanität und Gerechtigkeit entwickeln bzw. welche Vorstellungen entwickeln sich davon in einem System, in dem Persönlichkeit und Beurteilung meiner Kompetenz sich in einer Notenskala von 1 bis 6, mit Zehntel-Noten "Genauigkeit" zusammenfassen lassen; ganz zu schweigen von den logisch-statistischen Irrationalitäten des Benotungssystems? Stattdessen entwickelt sich ein Wissen über den Doppelcharakter des Systems, über seine Unausweichlichkeit, über die Abhängigkeit von ihm und wie man sich auf es einrichtet.

Die für die frühe Industrieproduktion und Bürokratie entindividualisierten, austauschbaren Menschen sind nicht kreativ und übernehmen keine Verantwortung für das, was sie treiben und herstellen. Sie werden unproduktiv, krank, lerngestört etc. Das gilt für Wirtschaft und Schule. Zentralistische, mechanistische, undemokratische Formen des Entwickelns und Organisierens werden zu einem Destruktivitätsfaktor.

Heute rückt der Zeitpunkt näher, zu dem es immer wichtiger wird, die individuellen EntwicklungsPotenziale für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft zu nutzen. Also kommt es darauf an, Individualität in Schule nicht zurückzuweisen, sie als Störung aufzufassen, sondern sie in ihrer Eigenart verstehbar zu machen und sie in Schule zu integrieren. Dazu braucht man eine Theorie der Persönlichkeit.

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