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3 Individualität als Basis für Erneuerung und Produktivität - ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung

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3.1 Individualität braucht Geschichte und Generationenarbeit

Diese Theorie nimmt sich nicht eine Störung, einen Defekt oder eine Krankheit zum Ausgangspunkt, sondern die "normale" Persönlichkeit: Woraus ist sie gemacht und zusammengesetzt? Welche speziellen Deutungsmuster und Handlungsorientierungen sind ihr eigen? Was macht ihre einzigartige Qualität aus? Wie ist Persönlichkeit verstehbar zu machen?

Jeder Mensch - zumindest in unserer Kultur - baut auf den vielschichtigen Lebenserfahrungen von Vater und Mutter und den vorangehenden Generationen auf. (Auch im Falle der Adoption, Inpflegenahme, Heimerziehung spielen diese Kategorien für die Lebensgestaltung eine wesentliche Rolle). Jede nachfolgende Generation hat damit - im Prinzip - eine komplexere, reichhaltigere Lebenserfahrung zur Verfügung als die vorangehende.

In der Familiengeschichte sind Erfahrungen von Arbeiterexistenz, bäuerlicher, unternehmerischer Existenz, Arbeitsteilung usw. versammelt; Erfahrungen vom Umgang mit Krisen und Konjunkturen, von Migration, Neuaufbau usw. Immer haben einzelne Personen in konkreten, sozialgeschichtlichen Situationen und Herausforderungen mit ihrer Persönlichkeit Leben und Überleben organisiert und dabei auf Vorerfahrungen zurückgegriffen, sie damit weiterentwickelt und wiederum nachfolgenden Generationen zur Verfügung gestellt.

Selbstverständlich spielen dabei nicht nur die Erfahrungen und Handlungen eine Rolle, die unmittelbar der Existenzsicherung dienen, sondern auch solche kultureller Art (Arbeitsteilung von Mann und Frau, Geschlechterrolle, Religion, Kunst, Art der Geselligkeit, Freizeitgestaltung etc.). In diesen "versammelten Lebenserfahrungen", die sich in einer Person finden, sind die historisch-gesellschaftlichen Existenzbedingungen und die Besonderheiten des Lebens der Ursprungsfamilien enthalten (die subjektiven Aneignungsformen und die immer wieder "überarbeiteten" Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Umwelt).

3.2 Objektives und verfügbares Potenzial

Die in einer Person versammelten Lebenserfahrungen - ein Ergebnis von Generationenarbeit -, stellen ihr Potenzial dar, mit dem sie sich am gesellschaftlichen Prozeß beteiligen kann. Wir verwerten unsere Potenziale für die Lebensgewinnung im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Anforderungen. Ist von dem objektiv gegebenen Potenzial ein großer Teil verfügbar, erhöhen sich die Chancen für umfassende Verarbeitung und Mitgestaltung. Ist nur ein kleiner Teil verfügbar, gelingt nur eine reduzierte Verarbeitung und Mitgestaltung. Die Ursachen für geringe Verfügbarkeit sind vielfältig: Wechselseitige Entwertung väterlicher und mütterlicher Lebenserfahrungen (s. u.); Tod, Migration, gesellschaftliche Entwertungen, radikale Umstellungen der Lebenssicherung sind ebenfalls häufig Ursache für den Verlust von Lebenserfahrungen und damit von Entwicklungspotenzial.

3.3 Individualität als Einheit der Widersprüche aus väterlichen und mütterlichen Systemen

Aus den Vorgaben der unterschiedlichen väterlichen und mütterlichen Systeme muss das Kind seinen eigenen Weg finden, seine Persönlichkeit entwickeln.


Die Vorgenerationen sind im Kind enthalten und gleichzeitig repräsentiert das Kind damit neue Qualität. Im Kind entsteht Neues aus bis dahin unabhängigen Systemen. Aus der Verarbeitung der Unterschiedlichkeiten und Gegensätzlichkeiten entsteht die besondere Dynamik des Kindes, seine einmalige Persönlichkeit.

Es kann sie nutzen, wenn von den Eltern die Unterschiedlichkeiten zugelassen werden können, m.a.W.: das Kind "darf" und kann Ergebnis mütterlicher und väterlicher Geschichte sein.

Hindernisse für Entwicklung

Hindernisse für Entwicklung ergeben sich aus fehlenden Identifikationsmöglichkeiten, möglicherweise durch Tod, Flucht, Vertreibung, Auswanderung; oder durch gegenseitige Abwertung und Ablehnung der Eltern, die auf das Kind übertragen werden, die das Kind sich aneignet. Für das Kind heißt das, dass es etwas in sich hat - denn es definiert sich über beide Eltern -, was aus väterlicher oder mütterlicher Sicht wertlos, unbrauchbar, negativ ist. Damit hat es Schwierigkeiten, sich als wertvoll "ausgestattet" zu verstehen: Es ist unsicher, irritiert, wechselhaft usw.

Beispiel: Der Vater eines Kindes hält viel davon, seinen Sohn zu fordern und zu beanspruchen. So hat er es von seiner Mutter und seinem Vater kennengelernt. Die Anforderungen sind eingebunden in Vorstellungen über die Männerrolle und über die zukünftigen Aufgaben des Mannes als Ernährer einer Familie.


Die Mutter des Kindes hält einen solchen Stil für "zu hart". Sie hat erlebt, wie ihr jüngerer, kränklicher Bruder von der Mutter beschützend und schonend betreut wurde. Bei ihrem eigenen Kind hat es Probleme während der Schwangerschaft gegeben. Mit diesen unterschiedlichen "Programmen" treten die Eltern nun an ihr Kind heran. Für das Kind heißt das, dass es nicht weiß, wie es sich fühlen soll: Ist seine Handlungsfähigkeit eingeschränkt und ist es schonbedürftig oder ist es handlungsfähig und belastbar? Und: Orientiert es sich am Vater, erschrickt es die Mutter; orientiert es sich an der Mutter, ist der Vater unzufrieden.

Beispiel: Ein Schulleiter mag nicht leiten. Er versteht sich als Vermittler, kommt aber damit immer mehr unter Druck. Aus seiner Familiengeschichte ergibt sich, dass seine Mutter aus einer Kleinunternehmerfamilie stammt; sie ist mit dem entscheidungsfreudigen Vater identifiziert, ist auch das Denken in Kosten-Nutzen-Kategorien gewöhnt. Der Vater des Schulleiters war Arbeiter. Für den Arbeiter ist das Kosten-Nutzen-Denken des Unternehmers Abhängigkeit und Einkommenschmälerung, für den Unternehmer ist der Arbeiter ein Kostenfaktor. Das Kind, der spätere Schulleiter, war zwischen diesen beiden Philosophien der Gegnerschaft neutralisiert.

Warum, mag man fragen, tun sich Leute mit so gegensätzlichen Einstellungen zusammen? Bei weiterer Analyse stellt sich oft heraus, dass in jedem System die Negation schon selbst enthalten, sie ihr also nicht fremd ist. Im letztgenannten Beispiel hatten die väterlichen Großeltern ein kleines Geschäft, welches eingegangen war. In der Familie der Großeltern mütterlicherseits gab es abhängig Beschäftigte, die abwertend als "Proleten" betrachtet wurden.

Im Partner lässt sich die "interne" Negation nach außen verlagern und gleichzeitig "weiterbearbeiten", im Kind der nachfolgenden Generation verdichtet sie sich zu einer Entwicklungshemmung. Daraus entwickeln sich dann Persönlichkeiten, die bemüht sind, nichts Eigenes zu haben und sich über Ausgleich, Vermittlung und Harmonisierung definieren; sie können es evtl. nicht ertragen, wenn sich Identität und Unterschiedlichkeit in ihrer Person und in ihrer Umgebung zeigen. Für Institutionen, die auf Stabilität angelegt sind, und sich nicht mit ihrer Umgebung austauschen müssen oder sollen, erfüllen sie ihren Zweck.


Eine andere Erscheinung, die zum Entwicklungshindernis werden kann, sind Doppelungen, die im ungünstigen Fall Entweder-Oder-Konstellationen zur Folge haben. Sie bergen im günstigen Sowohl-Als-Auch-Fall zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten.

Wachsende Bedürfnisse nach Individualisierung, aber auch Tod, Trennungen, Scheidungen bringen es mit sich, dass Eltern sich mit neuen Partnern zusammentun. So sehr das manchen als gängig und selbstverständlich erscheinen mag, so wenig ist es vielen Individuen und der gesellschaftlichen Konvention möglich, Kinder sich mit zwei Personen in der Vater- oder Mutterposition identifizieren zu lassen. Implizit oder explizit ergeht die Aufforderung an das Kind, einen Teil seiner Existenz zu vergessen, ihn zu löschen.


Ist es gezwungen, Vater 2 oder Vater 1 zu »löschen«, heißt das, einen Teil von sich zu negieren, negieren zu müssen. Auslöschung, Bekämpfung wird Teil des "Programms", Teil der versammelten Lebenserfahrung, die an die nächste Generation weitergegeben wird. Dieser Destruktivität, die auf aufklärerisch-naturwissenschaftlichen Konzepten der Einfachheit und Eineindeutigkeit beruht, ist nur beizukommen, wenn sich individuelle und gesellschaftliche Normen wandeln. Können Menschen mit einer solchen Doppelung oder mehreren Doppelungen in ihrer Familiengeschichte "multiple" Persönlichkeiten sein, stellt das für sie und die Gesellschaft Entwicklungspotenzial dar. Sie haben in sich das Strukturmodell, welches für Zukunftsgestaltung immer wichtiger wird. Mit Differenz offen und gestaltend umgehen zu können (statt Einfachheit und Eindeutigkeit mit Macht herzustellen) wird angesichts der Zunahme von unterschiedlichen Lebensentwürfen, des Zusammentreffens von Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaften und Regionen immer dringlicher.

3.4 Bewusstsein - Selbstbewusstsein

Bewusstsein ist in dieser Konzeption das Wissen um die eigene Geschichte und um die eigenen Widersprüche. Weiterhin gehört dazu eine Kenntnis über Funktionsweisen des Gesellschaftlichen und wie die Person sich mit dem Gesellschaftlichen austauscht, auf es einwirkt und sich darüber am Leben erhält.

Selbstbewusstsein ist das Wissen um die Strukturen und Inhalte der in Generationenarbeit gewachsenen Lebenserfahrungen, die "meine" Gestaltungsrundlage sind. Aus ihnen leitet sich das Wissen um das "eigene Besondere" gegenüber dem Allgemeinen ab. Dieses Selbstbewusstsein versteht sich also anders, als es gemeinhin üblich ist: Es entsteht nicht in erster Linie aus erfolgreichem Handeln, aus Lob und Anerkennung. Im Gegenteil: Es ist relativ unabhängig davon.

Es lohnte sich darüber nachzudenken, welche Funktion Lob und Anerkennung in Schule haben; weshalb Schüler Lob oft nicht "vertragen"; was mit Lob erreicht wird, wenn es "anschlägt". Und welche Möglichkeit Schule bietet, Bewusstsein und Selbstbewusstsein im hier skizzierten Sinne zu entwickeln.

3.5 Fazit

Um desintegrierenden Formen gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Differenzierung Gestaltungspotenzial gegenüberzustellen, ist es erforderlich, Individualisierung voranzutreiben. Damit ist gemeint, die Individualität der Menschen in die Gestaltung von Schule und Gesellschaft einzubeziehen, sie dafür zu nutzen. Individualisierung heißt nicht Vereinzelung, Absonderung vom Gemeinwohl, Egoismus. Im Gegenteil: das individuelle Besondere steht immer in Bezug zum allgemein Menschlichen und Gesellschaftlichen, ist ohne diese nicht denkbar. Je tiefer eigene und fremde Individualität - zusammengesetzt aus unterschiedlichen Herkunftsfamilien, eigentlich Kulturen - verstanden wird, desto deutlicher werden die Bezüge zum Allgemeinen und Universellen, desto klarer wird der Zusammenhang der Wechselwirkung zwischen beiden. Dies zu erkennen und für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung zu nutzen - dazu kann Psychologie im hier vorgetragenen Sinne wichtige Beiträge dazu leisten.

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