Читать книгу Das Tagebuch der Jenna Blue - Julia Adrian - Страница 22

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»Du brauchst wohl eine Tasche!« Scarlett zeigt auf das Buch. »Du gehst nirgends hin ohne das da.«

Reflexartig schließe ich den Einband und stecke den Stift in die dafür vorgesehene Schlaufe. »Ich sagte nie, dass ich keine brauche. Ich will nur keine von dir.«

Sie lässt den Kopf in den Nacken sinken. »Wie überaus gewitzt.«

»Ich besitze eine eigene«, füge ich erklärend hinzu.

»Nur keine Rechtfertigung«, sagt sie leichthin, doch ihre Augen wirken kälter als zuvor. Vielleicht liegt es an den Schatten, die bereits nach uns greifen. Der Abend erblüht wie die Stille zwischen uns. Vor langer Zeit saßen wir schon einmal auf dem Dachfirst und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Es muss kurz nach Mutters Verschwinden gewesen sein. Damals, bar aller Worte, waren wir auch still gewesen; ich hatte sie für die Flugblätter verbraucht, Scarlett ihre an Anna. In den ersten Nächten war ich noch durch den klammen Flur zu ihnen hinübergetapst. Da mich Anna jedoch unnachgiebig in mein Zimmer zurückbrachte, gab ich es bald auf und lauschte ihnen stattdessen von meinem Bett aus, ein Ohr an die Wand gepresst, die Knie eng umschlungen. Ich weiß nicht, worüber sie sprachen, doch Annas gedämpfte Stimme trug mich in den Schlaf. Sie half mir durch die Dunkelheit.

»Erinnerst du dich an das erste Mal, als wir hier oben saßen?« Scarletts Gedanken haben sie weit tiefer in die Vergangenheit getragen, hinein in eine Zeit, an die ich mich weigere zu denken. »Ich glaube, dass Mutter mich schon als Säugling mitnahm. Wie sie es geliebt hat, auf dem Dach zu sitzen und zum Spukhaus zu blicken – und erst die Geschichten, die sie darüber erzählt hat! Über den Zauberer und seine Sammlung schrecklich schöner Insekten. Erinnerst du dich? Ich war fasziniert davon, dass er sie aufspießte, diese zarten, wehrlosen Geschöpfe, nur um sie auf ewig zu besitzen. All die Motten und Käfer und Falter. Er hat sie getötet und in Glaskästen gesperrt. Tödliche Liebe – wie in dem Märchen. Du weißt, welches ich meine? In dem die Mutter ihre Tochter vergiftet und in einen gläsernen Sarg bettet, um sie für immer zu behalten.«

Ich bin versucht, sie darauf hinzuweisen, dass die Geschichte anders geht; doch wer wäre ich, sie dafür zu tadeln? Neige nicht auch ich dazu, die Welt und die Geschichten um mich herum so zu interpretieren, dass sie in meine Perspektive passen?

»Ich verstehe den Gedanken dahinter«, fährt Scarlett fort, den Blick auf das Spukhaus jenseits unseres Gartens gerichtet. »Die Zeit lässt alles verkommen. Blumen welken, Schönheit vergeht, selbst Zuneigung schwindet. Wie viel tröstlicher ist da der Anblick eines auf ewig gebannten Glücksmoments? Der Falter in seiner ganzen Pracht, die Tochter in der Blüte ihrer Jugend. Wie eine Fotografie, die niemals vergilbt. Eine Erinnerung, unangetastet durch die Zerstörung der fortschreitenden Realität.«

Unwillkürlich denke ich an die Bücher, die sich in Scarletts Zimmer türmen, uralte Wälzer mit abgegriffenen Umschlägen und verblichenen Lettern. Sie hortet sie nicht aufgrund ihrer Geschichten, sondern wegen dem, was zwischen den Seiten steckt. Getrocknete Blüten, brüchiges Weidenlaub und pastellgelber Löwenzahn, Vergissmeinnichtstängel und Rosenknospen. Scarlett sammelt Blüten. Sie bricht, trocknet und presst sie. Sie besitzt ganze Alben voll davon, sicher verwahrt vor dem Zerfall.

»Fürchtest du den Tod?«, frage ich in die Stille.

»Ich fürchte das Danach.« Eine Antwort, wie sie nur Scarlett geben kann. »Unsere Körper zergehen, zerfallen, zersetzen sich. Doch was dann? Sind wir dann fort oder existieren wir weiter? Womöglich durch Blumen, die sich von uns nähren; doch was, wenn auch sie vergehen? Was bleibt dann noch?«

»Honig«, rate ich.

Scarlett sieht mich lange an, dann schlägt sie die Beine auf eine Art übereinander, die mich vermuten lässt, dass sie weit öfter hier oben sitzt und über das Leben nach dem Tod sinniert; mir wird allein vom Zusehen schlecht. Wie wir es als Kinder aushielten, auf den Schindeln Fangen zu spielen, ist mir ein Rätsel. Nicht dass ich die Höhe fürchten gelernt hätte, es ist mehr das Bewusstsein darüber, was ein Sturz alles anrichten kann. Kein Kind denkt darüber nach, das Leben ist ein Abenteuer und der Himmel zum Greifen nah.

Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, erscheinen mir die violetten Zuckerwattewolken so fern wie die Zeit, da Scarlett und ich sie zu kosten versuchten und Mutter uns aufforderte, höher zu springen …

Wind kommt auf, fröstelnd ziehe ich die Knie an. Da entgleitet mir das Buch. Es schlittert die Schindeln hinab, stolpert über die Rinne, ehe es die Schwerkraft gen Tiefe zieht. Der Aufprall klingt dumpf. Er weckt etwas in mir.

»Ist dir schlecht?« Scarlett betrachtet mich argwöhnisch.

Ihre Worte – und der Klang des Buches – haben eine Tür aufgestoßen, die ich all die Jahre sorgsam verriegelt hielt. Nur ein Abend, ein verfluchter Abend und wenige Momente mit ihr genügen, um sie aus den Angeln zu heben.

Die Erinnerungen stürzen auf mich ein. Mutter am Fenster, wie sie uns über den Sims hebt; wie sie lacht und uns auffordert, es ihr gleichzutun; wie sie die Arme über den Kopf streckt und auf die Zehenspitzen steigt; wie Scarlett es ihr spielerisch gleichtut; und ich selbst wankend im Wind, die Schindeln rau und kalt unter meinen Zehen – und seltsam lebendig, als sie sich in Bewegung setzen. Ich spüre noch den Sog der Tiefe, den Ruck an meinem Arm, als Mutters Finger sich darum schließen.

Jetzt ist es Scarletts Hand. »Jenna, alles in Ordnung?«

Nein. »Ja.«

»Keine Sorge, Papier ist widerstandsfähig.«

»Mir geht’s gut«, würge ich hervor. Dabei wäre es der perfekte Vorwand, diese Scharade abzusagen, ich bräuchte die Übelkeit nicht einmal vortäuschen. Alles dreht sich. Der Himmel, das Dach, die Spukvilla. Ich zwinge den Blick dorthin, zähle meine Atemzüge und kralle mich an die Schindeln. Sie sind warm, ein letzter Gruß der Sonne, bevor die Nacht hereinbrechen und ihre Wärme sich verflüchtigen wird; wie die Erinnerungen. Die Bilder verlieren bereits an Kontur.

Scarlett hält mich fest, als fürchte sie, ich könnte dem Buch folgen. Ihre Berührung überlagert sich mit der von Mutter. Zitternd entwinde ich ihr den Arm.

»Es geht mir gut.« Selbst wiederholt klingt es nicht wahrer, meine Stimme bebt, ich habe einen Kloß im Hals.

Scarlett zündet eine neue Zigarette an, sie mustert mich nachdenklich. »Es gibt einen Spalt, aber er ist zu eng, als dass eine erwachsene Person hindurchpassen könnte. Selbst die meisten Kinder würden stecken bleiben.«

Warum sie jetzt davon anfängt, obwohl ich noch absagen könnte – und kurz davor bin –, erschließt sich mir nur unter der Prämisse, als dass sie darum weiß, oder es zumindest ahnt, und nun ihren Teil der Abmachung erfüllt, ehe ich von meinem zurücktreten kann.

»Warst du im Garten?«, höre ich mich fragen.

Alles ist besser, als an früher zu denken.

Alles ist besser, als zuzugeben, dass ich kaum noch meine Beine spüre. Ich bin wie erstarrt, fürchtend, dass jede Bewegung, und sei sie noch so klein, mich direkt in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu ihr.

Scarlett lässt sich Zeit mit der Antwort. »Nein.«

»Du hast gelogen.« Ich ahnte es bereits.

»Erinnerst du dich an Alice? Ich habe ihr von dem Spalt erzählt; sie hat sich hindurchgezwängt.« Die Zigarette verglimmt ungenutzt, ihr Blick ruht auf der Villa.

Ich stutze. »Alice? Ist die nicht … tot?«

Scarlett nickt auf eine Art, die mich irritiert. Sie waren Freunde, damals, bevor Mutter verschwand. Scarlett jedoch wirkt distanziert, als ginge es um den Charakter eines Buches. »Sie starb ein Jahr später an Leukämie. Niemand weiß, dass sie durch das Loch in den Garten schlüpfte; ich habe es nie erzählt.«

»Du glaubst doch nicht an den Fluch?« Zumindest tat sie es früher nicht, stattdessen verspottete sie all jene, deren Furcht zu offensichtlich war.

»Natürlich nicht«, lässt sie mich abschätzig wissen. »Alice war krank. Deshalb starb sie.«

Weshalb hat sie es dann erwähnt? Scarlett sagt niemals etwas leichthin. Ihre Worte sind von einer Präzision, um die ein Chirurg sie beneiden würde. Jeder Spott trifft sein Ziel, keine unbedacht geäußerte Nebensächlichkeit verfehlt ihre Wirkung. Scarlett spielt mit Worten, sie sind ihr Schild und Klinge in einem.

»Hör auf zu grübeln, Jenna. Das steht dir nicht.«

Einer der Gründe, warum ich selten etwas erwidere. Ich denke mir meinen Teil und hasse sie in Gedanken. Hass. Ein starkes Wort. Eines, das positioniert. Scarlett würde es nie benutzen, es wäre zu direkt, zu konfrontativ; sie bewegt sich lieber in den Grauzonen und nutzt das Ungesagte ebenso wie das wohlplatzierte Wort.

»Was fasziniert dich daran?«, fragt Scarlett und nickt hinüber zum Grundstück der Spukvilla. Vom Dach aus können wir den Teil des Gartens überblicken, auf dem sich im Zentrum einer gewaltigen Wiese ein noch gewaltigeres Schachfeld erhebt. Steinquader neben Rasenflächen, die Figuren mannshoch und elbisch anmutend, als wären sie geradewegs aus Lothlórien in diese Welt gestolpert und dabei zu Stein erstarrt. Was mich an mein Buch erinnert. Ich beuge versuchsweise die Knie; das Gefühl kehrt nur partiell zurück. Wackelige Beine, der Schreck fährt in die Glieder – alles Redewendungen, die mein Körper inhaliert hat. Er ist wachsweich, unfähig, meinen Befehlen zu gehorchen.

Gleich, denke ich, gleich hole ich mein Buch.

»Springer auf G5«, ruft Scarlett.

Die Asche ihrer Zigarette rieselt zu Boden. Ich verfolge atemlos, wie sie die Schindeln hinabtanzt und in der Regenrinne unter uns zum Stillstand kommt. Die Sorge, sie könnte das Buch treffen und entflammen, ist übermächtig.

»Irgendwann fackelst du das Haus ab«, fauche ich.

»Wäre kein Verlust.«

»Es ist alles, was wir haben!«

»Ein zerfallender Resthof. Was sind wir gesegnet.«

»Spotte nicht.«

»Selbst ohne die hochherrschaftliche Nachbarschaft der Spukvilla wäre unser Hof eine Zumutung. Kein Wunder, dass Mama es vorzog, auf dem Dach zu sitzen und die Villa zu malen, täte ich auch, besäße ich ihr künstlerisches Talent; aber das hat sie ja dir vererbt, genau wie ihre Pinsel und Farben.« Verbitterung schwingt in ihrer Stimme mit.

Ich bin überrascht, denn sie zeichnet gut. »Du hast nie etwas gesagt.«

Sie hebt eine Braue. »Hättest du mit mir geteilt?«

Nein. Hätte ich nicht. Sie weiß das.

»Manchmal ist die Antwort so naheliegend«, murmelt sie.

Ich könnte mir auf die Zunge beißen.

»Ich kann zeichnen, verstehe aber nichts von Farben oder Texturen.« Ihr Lächeln reicht kaum bis zu den Augen, als würde sie eine Maske tragen, die nur ihr halbes Gesicht bedeckt. »Du hingegen kannst es, verschwendest dein Talent jedoch an Tapeten, die irgendwann abgerissen und entsorgt werden, was jammerschade ist. Du solltest lieber Mamas Werk vollenden.«

»Nein«, entgegne ich sofort.

»Warum nicht? So bleibt die Reihe unvollständig.«

»Lass es.«

Sie zuckt mit den Schultern. »War nur eine Idee.«

»Eine beschissene!«

Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. So sitzen wir da, nebeneinander auf dem Dachfirst, in zu kurzen Kleidern und schweren Herzens, und haben uns nichts zu sagen.

Als auch die letzte Zigarette verglimmt, schnippt sie den Stummel hinfort und streckt sich. »Ich werde heute Abend mit Derek Schluss machen.«

Mein Kopf ruckt herum. »Was? Warum?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Warum nicht?«

»Ich dachte, ihr seid glücklich.«

»Was die Liebe aufregend macht, ist das Vielleicht. Will sie mich? Hat sie einen anderen? Was denkt sie gerade? Ich genieße den Kitzel der ersten Wochen, mich reizt das Ungewisse, danach wird es langweilig.«

»Man nennt es Vertrautheit.«

»Oder Gewohnheit – und das ist langweilig. Ich mag Derek, aber da er sich meiner sicher ist, benimmt er sich unmöglich. Ich will umworben werden –«

»Ach, sag bloß, das wirst du nicht?«

»Du verstehst das nicht. Du bist –«

»Langweilig?«, rate ich und kann nicht verhindern, dass es bitter klingt.

»Ich hätte ein anderes Wort gewählt. Du bist nicht per se uninteressant, eher unsichtbar. Du wirst schlicht übersehen. Daher weißt du nicht, wie es ist, die Aufmerksamkeit zu besitzen oder gar zu verlieren.«

»Unsichtbar.« Ich wende das Gesicht ab, damit Scarlett nicht sieht, wie tief mich ihre Worte treffen.

Unsichtbar. Das ist zu wahr.

Die Turmfenster der Spukvilla blenden mich, es kommt mir vor, als würden sie blinzeln. Sie reflektieren das goldene Abendlicht, während die Veranda und das erblindete Gewächshaus bereits im Schatten versinken. Die Villa in all ihrer deplatzierten Pracht wirkt genauso verloren zwischen den gedrungenen Reetdachhäusern unseres Dorfes, wie ich mich fühle. Wir gleichen einander, fallen aus dem Rahmen, sind zur falschen Zeit am falschen Ort.

Wobei der Vergleich hinkt. Scarlett wäre die alte Villa und ich entspräche unserem Resthof.

»Heute Abend ist alles anders«, prophezeit Scarlett. »Du wirst schon sehen.«

Und so elegant, wie sie das Dach erklommen hat, rutscht sie auch wieder hinab und verschwindet durch ihr Fenster im Innern des Hauses. Ich gehe im Kopf alle möglichen Ausreden durch, um doch nicht auf die Party zu müssen, als sich im Hof eine Tür öffnet.

Ein goldenes Rechteck aus Licht verdrängt die fortschreitende Nacht, Anna tritt hinaus, in der Hand das Altpapier. Ihr folgt – Papa. Es ist so windstill, dass seine Worte bis zu mir dringen: »Sie wird niemals mitgehen.«

»Sie hat keine Wahl«, widerspricht Anna harsch.

»Was ist mit Jenna?«

»Jenna ist erwachsen.«

Papa klingt irritiert. »Aber …«

»Ich bat meinen Onkel um ein paar zusätzliche Aufgaben auf dem Friedhof. Du wirst sie kaum bemerken.«

»Du hast vorgesorgt.«

Anna klingt schrecklich kühl. »Irgendwer muss das tun.«

»Wann wirst du es ihnen sagen?«

»Nicht heute.« Anna drückt den Zeitungsstapel in die blaue Tonne. »Die beiden gehen aus.«

Überraschung lässt Papas Stimme steigen. »Zusammen?«

»Ja, zusammen.«

Er brummt etwas, das wie »Höchst seltsam« klingt, und ich kann ihm nur zustimmen. Heute ist alles seltsam. Scarlett, Anna, selbst Papa. Er bleibt allein im dämmrigen Hof zurück und ich bete zu allen mir bekannten Göttern, dass er nicht über das Buch stolpert. Er streckt eine Hand aus, ich beuge mich vor – und verliere für einen Augenblick die Balance. Papa hebt alarmiert den Kopf, findet mich auf dem Dach sitzen und erstarrt. Ich sehe es förmlich in seinem Kopf rattern. Ohne ein Wort flüchtet er ins Haus.

Worüber haben sie gesprochen?

»Wo bleibst du?« Scarlett steckt den Kopf aus dem Fenster. Ein Kaugummi tanzt zwischen ihren Zähnen und verdeckt den Geruch des Rauchs. »Derek sollte bald kommen. Wir müssen los. Ich will nicht, dass er sieht, wo wir wohnen.« Wie aufs Stichwort nähert sich ein Wagen. Zwei suchende Lichtkegel, die das Tor der Spukvilla finden. Scarlett flucht. »Er ist zu früh – es wird Zeit, dass ich ihm eine Lektion erteile. Los jetzt, Jenna! Wir gehen hintenrum.«

Hintenrum, damit unser erbärmliches Zuhause nichts weiter ist als das: irgendein Haus, mit dem wir nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Es ist so was von wie ich.


Das Tagebuch der Jenna Blue

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